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Ein Nach­ruf auf Win­fried „Win­nie“ Wolf (4. März 1949 – 22. Mai 2023)

 

W. A.

Der Tod ist ein gna­den­lo­ser Schnit­ter. Am 22. Mai 2023 ist unser Freund und Genos­se Win­fried Maria Wolf, genannt Win­nie, in der Ber­li­ner Cha­ri­té sei­ner schwe­ren Krebs­er­kran­kung erle­gen. Zum Glück war er in sei­nen letz­ten Stun­den nicht allein.

Winnie spricht zu S21 im Mannheimer Gewerkschaftshaus, 16. Januar 2018. (Foto: Avanti².)

Win­nie spricht zu S21 im Mann­hei­mer Gewerk­schafts­haus, 16. Janu­ar 2018. (Foto: Avanti².)

Bis zu sei­nem Able­ben war Win­nie ein uner­müd­li­cher Antrei­ber – und ein per­ma­nent Getrie­be­ner. Das kam nicht von ungefähr.

In sei­ner eige­nen Kurz­bio­gra­phie schreibt er: „Mei­ne ers­te lin­ke Poli­ti­sie­rung erleb­te ich Ende der 1960er Jah­re als füh­ren­des Mit­glied der ‚Katho­li­schen Jung­män­ner­ge­mein­schaft (KJG) Weißenau/Ravensburg‘“. Vor die­sem Hin­ter­grund dürf­te ihm damals eine gewis­se Bibel­fes­tig­keit bei­gebracht wor­den sein. Die Offen­ba­rung des Johan­nes, die der dro­hen­den Apo­ka­lyp­se ein Reich der Hoff­nung ent­ge­gen­setzt, ist ihm sicher nicht fremd gewesen.

Viel­leicht kam mir, nach­dem mich die sehr trau­ri­ge Nach­richt von Win­nies Tod erreicht hat­te, auch des­halb sofort Albrecht Dürers berühm­ter Holz­schnitt „Die apo­ka­lyp­ti­schen Rei­ter“ von 1498 in den Sinn. Dürers Druck­gra­fik ent­stand in der unru­hi­gen Vor­zeit des gro­ßen Bau­ern­kriegs. Sie ist die wohl bekann­tes­te Dar­stel­lung der durch herr­schen­de Ver­hält­nis­se ver­ur­sach­ten Katastrophen.

Dürers vier Rei­ter sym­bo­li­sie­ren die Gier nach Ruhm und Reich­tum, den men­schen­ver­schlin­gen­den Krieg, die durch Teue­rung und Hun­gers­not erzeug­te Not sowie den Tod durch Seu­chen oder ande­re Ereig­nis­se. Letz­te­rer, auf einer abge­ma­ger­ten Mäh­re galop­pie­rend, treibt die panisch flie­hen­den, fal­len­den oder bereits am Boden lie­gen­den Men­schen mit einem Drei­zack dem Schlund der Höl­le zu.

Kampf gegen die Apokalypse
War es nicht der schein­bar end­lo­se Kampf gegen die­se im Spät­ka­pi­ta­lis­mus des 21. Jahr­hun­derts in einer „moder­nen“ – und um den Öko­zid ergänz­ten – Form auf­tau­chen­den apo­ka­lyp­ti­schen Rei­ter, für den sich Win­nie rast- und ruhe­los buch­stäb­lich bis zur Erschöp­fung engagierte?

Doch was hat­te ihn dazu moti­viert und sein Leben lang geprägt?

Nach der Geburt in Horb am Neckar, der Kind­heit und Jugend am Boden­see und im tief schwarz ein­ge­färb­ten Ober­schwa­ben, dem Abi am Wirt­schafts­gym­na­si­um in „Ravesch­burg“ sowie dem Stu­di­en­be­ginn in Freiburg/Breisgau zog es ihn schließ­lich nach West­ber­lin, der „Haupt­stadt“ der APO, der Außer­par­la­men­ta­ri­schen Opposition.

In die­sem schon damals sehr spe­zi­fi­schen Bio­top der Jugend­re­vol­te mit einer bald von mao-sta­li­nis­ti­schen Sek­ten domi­nier­ten links­ra­di­ka­len Sze­ne fand Win­nie Anfang der 1970er Jah­re den Weg vom Sozia­lis­ti­schen Deut­schen Stu­den­ten­bund (SDS) zur Grup­pe Inter­na­tio­na­le Mar­xis­ten (GIM), wie sich die deut­sche Sek­ti­on der IV. Inter­na­tio­na­le ab 1969 nannte.

Dies geschah nicht zuletzt durch die Bekannt­schaft mit Ernest Man­del, der ihm lan­ge Zeit freund­schaft­lich als Vor­bild und Leh­rer ver­bun­den sein soll­te. Win­nie begeg­ne­te dem füh­ren­den Kopf der IV. Inter­na­tio­na­le und sicher­lich wich­tigs­ten Ver­tre­ter eines offe­nen Mar­xis­mus in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts per­sön­lich zuerst 1971. 2005 erin­ner­te er sich: „Nach einem Semi­nar mit Man­del zur ‚Über­gangs­ge­sell­schaft‘, an dem zwei­hun­dert Stu­die­ren­de teil­ge­nom­men hat­ten, woll­ten mei­ne Freun­din und ich, noch tief beein­druckt von Vor­trag und Dis­kus­si­on, unse­re Män­tel in der Gar­de­ro­be abho­len. In dem ansons­ten lee­ren Raum stand nur noch – Ernest Man­del. Wir waren eini­ger­ma­ßen ver­un­si­chert. Man­del ging auf uns zu, stell­te sich vor und gab uns die Hand.“

Was tun?
Erst­mals taucht Win­fried Wolfs Name als „ver­ant­wort­li­cher“ Redak­teur im Impres­sum der GIM-Zei­tung was tun von Mai 1974 auf. Der Bogen zu Lenins Wor­ten in des­sen berühm­ter Schrift Was tun? von 1902 ist kurz: „Die Zei­tung ist nicht nur ein kol­lek­ti­ver Pro­pa­gan­dist und kol­lek­ti­ver Agi­ta­tor, son­dern auch ein kol­lek­ti­ver Orga­ni­sa­tor.” Und der Bogen zu Win­nies sehr aus­ge­präg­ter Affi­ni­tät zur Her­aus­ga­be von gedruck­ten Zei­tun­gen ist viel­leicht noch kür­zer. In einer der vie­len Video­kon­fe­ren­zen wäh­rend der COVID-19-Pan­de­mie, in der wir sei­ne Initia­ti­ve #Zero­Co­vid – Soli­da­ri­tät in Zei­ten der Pan­de­mie dis­ku­tier­ten und wei­ter­ent­wi­ckel­ten, bekann­te er: „Ich bin nun mal ein Zeitungsmann.“

Auf was tun folg­te Win­nies Enga­ge­ment für die Sozia­lis­ti­sche Zei­tung, die ursprüng­lich als Par­tei­or­gan der 1986 gegrün­de­ten Ver­ei­nig­ten Sozia­lis­ti­schen Par­tei – dem Zusam­men­schluss von GIM und KPD – erschien.

1995 initi­ier­te er die Zei­tung der PDS-Bun­des­tags­frak­ti­on wirt­schaft sozia­les wider­stand, ab 1999 die Zei­tung gegen den Krieg, ab 2008 sei­ne „Her­zens­an­ge­le­gen­heit“ Lunapark21 – „(die) Zeit­schrift zur Kri­tik der glo­ba­len Öko­no­mie“, 2014 die Streik­zei­tung („Ja zum Arbeits­kampf der GDL – Nein zum Tarif­ein­heits­ge­setz“), 2015 FaktenCheck:HELLAS („fünf Aus­ga­ben in fünf Spra­chen“), 2016 Fak­ten -Check:EUROPA, 2020 FaktenCheck:CORONA, 2021 die Zei­tung Zero­Co­vid und eben­falls 2021 die Streik Zei­tung (Soli­da­ri­tät mit dem Arbeits­kampf der GDL). Allein die Auf­zäh­lung lässt den Atem stocken.

Win­nie ver­fass­te unzäh­li­ge Arti­kel, Auf­sät­ze, Bro­schü­ren, Dis­kus­si­ons­bei­trä­ge und vie­le Bücher, aus denen sicher­lich sei­ne unter dem Titel Eisen­bahn statt Auto­wahn 1987 in erwei­ter­ter Form ver­öf­fent­lich­te Dis­ser­ta­ti­on her­aus­ragt. Bei zahl­lo­sen Ver­an­stal­tun­gen, Kund­ge­bun­gen und Kon­zert­le­sun­gen (mit der Mann­hei­mer Band ewo²) bein­druck­te er als kom­pe­ten­ter und fes­seln­der Redner.

Von 1994 bis 2002 ver­trat Win­nie die PDS Baden-Würt­tem­berg im Bun­des­tag. Die­sem Vor­läu­fer der LINKEN trat er 1997 bei, ver­ließ ihn aber 2006 wie­der wegen des­sen Anpas­sung an die herr­schen­den Ver­hält­nis­se. Danach bezeich­ne­te er sich als „unab­hän­gi­ger [gewerk­schaft­lich orga­ni­sier­ter] radi­ka­ler Sozia­list und Uto­pist, ori­en­tiert an den Vor­stel­lun­gen von Rosa Luxemburg“.

Letzte Mannheimer Veranstaltung mit Winnie zum Ukraine-Krieg, 24. Februar 2023. (Foto; Avanti²)

Letz­te Mann­hei­mer Ver­an­stal­tung mit Win­nie zum Ukrai­ne-Krieg, 24. Febru­ar 2023. (Foto; Avanti²)

Traum von der roten Republik“
Es ist sicher­lich nicht falsch, Win­nie als eine akti­vis­ti­sche, streit­ba­re und den­noch zuge­wand­te „Ein-Mann-Orga­ni­sa­ti­on“ anzu­se­hen. Er war das Zen­trum eines gro­ßen und fle­xi­blen, hun­der­te von Men­schen zäh­len­den inter­na­tio­na­len Netz­werks, des­sen Ver­bin­dun­gen in meh­re­re unter­schied­li­che Berei­che und Bewe­gun­gen hin­ein­reich­ten. Mit sei­nen viel­fäl­ti­gen Akti­vi­tä­ten erreich­te er vie­le zehn­tau­send Menschen.

Eines sei­ner her­aus­ra­gen­den und blei­ben­den Ver­diens­te ist der kon­se­quen­te Kampf für eine Ver­kehrs­wen­de zum öffent­li­chen (Schienen-)Verkehr, den er vor allem in der Bewe­gung gegen „Stutt­gart 21“ seit deren Anfän­gen Mit­te der 1990er Jah­re bis zuletzt ent­schei­dend mit­ge­prägt hat.

Im Unter­schied zu den meis­ten „68ern“ hat Win­nie trotz aller per­sön­li­chen und gesell­schaft­li­chen Umbrü­che, Nie­der­la­gen und Rück­schlä­ge nie auf­ge­ge­ben. Es war für ihn kei­ne Alter­na­ti­ve, sich in die herr­schen­de (Un-)Ordnung ein­zu­fü­gen oder den „Traum von der roten Repu­blik“ zu verdrängen.

Win­nie soll zum Schluss selbst zu Wort kom­men. Bereits Ende 1975 schrieb er in einem Text zu der dama­li­gen Ent­wick­lung, dass es nur zwei „wirk­li­che […] Aus­we­ge aus der gegen­wär­ti­gen Wirt­schafts- und Gesell­schafts­kri­se“ geben kön­ne: „Die eine […] wird ein mas­si­ver Angriff auf den Lebens­stan­dard der Arbei­ter­klas­se […] sein. Die ande­re […] wird […] die Über­win­dung […] der auf pri­va­ter Gewinn­an­eig­nung beru­hen­den Gesell­schafts­ord­nung sein.“

Seit dem 22. Mai 2023 mel­det sich red­mo­le (roter Maul­wurf ) ali­as Win­nie mit einem Betreff wie „Fra­gen, Bit­ten, Ant­wor­ten“ auch beim Ver­fas­ser die­ser Zei­len nicht mehr – selbst nicht sehr spät in der dunk­len Nacht.

Gibt es eine bes­se­re Art der Erin­ne­rung an Win­nie, als sie durch die gren­zen­lo­se Ver­net­zung und die soli­da­ri­sche Orga­ni­sie­rung mög­lichst vie­ler roter Maul­wür­fe wachzuhalten?


Wei­te­re Infor­ma­tio­nen von und über Win­fried Wolf fin­den sich unter die­sem Link.


Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Juni 2023
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