O. T.
Nach dem blutigen Überfall der Hamas und anderer Gruppen auf Israel am 7. Oktober 2023 stellte Bundeskanzler Scholz am 17.10.2023 fest: „Die deutsche Geschichte und unsere aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung machen es uns zu unserer Aufgabe, für die Existenz und die Sicherheit des Staates Israel einzustehen.“
Das gilt nach einem Beschluss des Bundestages sogar als Staatsräson. Das Überleben und die Sicherheit des Staates Israel wird, unabhängig von seiner politischen Verfasstheit und seinen politischen Zielen, zur nicht antastbaren Leitlinie deutscher Politik gemacht.
Das geht soweit, dass der Krieg zwischen Israel und den Palästinensern mit bisher über 40.000 Toten und noch mehr Verletzten – vor allem auf palästinensischer Seite – von der Mehrheit der deutschen Parteien als zulässige Verteidigungsmaßnahme gegen den brutalen Angriff von Hamas und anderen am 7.10.2023 gerechtfertigt wird.
Die deutsche Solidarität für Israel unterstützt damit die Politik der rechtsradikalen bis faschistischen Regierung in Israel, deren erklärtes Ziel die Zerstörung der Lebensgrundlagen und die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus ihrer Heimat ist. Da darf es nicht wundern, dass sich auch die AfD zu den Unterstützern Israels zählt.
Das Argument, es gehe bei dieser Solidarität mit Israel allein um die aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung Deutschlands, ist scheinheilig, wie der Blick in die Vergangenheit zeigt.
Scheinheiligkeit statt Verantwortung
Statt im Nachkriegsdeutschland die Verantwortlichen für den beispiellosen Massenmord an den Jüdinnen und Juden zu verfolgen und schonungslos zu verurteilen, sorgten Politik, Justiz, Wirtschaft und Gesellschaft dafür, dass die überwältigende Mehrheit der Täter nicht zur Verantwortung gezogen wurde.
Die bedeutendsten Prozesse der deutschen Justiz gegen Nazis fanden erst 20 Jahre nach Kriegsende statt. Gegen die meisten der rund 250.000 Täter des Holocaust ist gar nicht erst ermittelt worden. Fast alle der etwa 90.000 Ermittlungen wurden eingestellt. Eingeleitet und durchgeführt wurden nur ein paar hundert Verfahren.
Um als Mörder verurteilt zu werden, mussten gemäß § 211 Strafgesetzbuch (StGB) Mordlust, Freude an Tötungen, Heimtücke, Grausamkeit oder andere niedrige Beweggründe individuell nachgewiesen werden. Wenn diese Merkmale fehlten, Morde also teilnahmslos, in Ausübung von beruflichen Pflichten, aus Verantwor- tung gegenüber Vorgesetzten ohne individuelles Zutun ausgeübt wurden, war eine vorsätzliche Tötung kein Mord, sondern nur Totschlag. Bei 80 Prozent der Mörder stellten die Richter nur „Pflichterfüllung beim Töten“ fest.
Der § 211 StGB galt in der Fassung vom 4. September 1941. Erst Mitte der 2010er Jahre wurde er geändert. Das Grundgesetz (GG) schloss in § 103 Abs. 2 sogar ausdrücklich rückwirkendes Recht aus: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ Der Holocaust konnte also mit Hilfe des GG nach dem Krieg nur auf der Basis des im Faschismus geltenden, vor dem Holocaust verabschiedeten § 211 StGB, verfolgt werden.
Amnestie für die Täter
Aber damit nicht genug. Im Oktober 1968 beschloss der Bundestag, dass alle Taten unter dem Titel „Beihilfe zum Mord“ nach 15 Jahren als verjährt galten. Das bedeutete: Am 8. Mai 1960 waren alle Taten verjährt, die mit einer Haftzeit von 15 Jahren bedroht waren, also auch der Totschlag und die Beihilfe dazu. Dies galt auch für den lange Jahre vorbereiteten Prozess gegen die Angehörigen der Gestapo, der 1968 beginnen sollte, dann aber aufgrund der Verjährungsklausel platzte. Die zum damaligen Zeitpunkt noch lebenden 70.000 Gestapoleute waren dadurch amnestiert.
In den ersten Jahren der BRD waren also Verdrängen und Vertuschen der Verbrechen des deutschen Faschismus angesagt. Das änderte sich erst durch die „Studentenbewegung“ Mitte der 1960er Jahre. Die durch sie geförderte Aufklärung über die braune Terrordiktatur war zwar real, aber sie reichte nicht aus, um den faschistischen Sumpf trocken zu legen.
Die als Dogma verkündete deutsche Staatsräson ist ein dürres Feigenblatt. Sie tabuisiert und kriminalisiert berechtigte Kritik an der israelischen Regierung und deren völker- und menschenrechtswidriger Kriegsführung. Sie unterstützt tatkräftig das Andauern des Mordens, der Vertreibungen und der Zerstörungen im Nahen Osten mit der anhaltenden Lieferung von Waffen und Munition an das Regime Netanjahus. Dem gilt es, Einhalt zu gebieten.