Das Mär­chen von den „fau­len“ Beschäftigten

Sozi­al­part­ner“ het­zen gegen die „Krank­ma­cher“

 

H. N.

Neben der Dif­fa­mie­rung von Geflüch­te­ten und Men­schen, die Bür­ger­geld bezie­hen, hat seit Ende 2024 ein wei­te­res The­ma Hoch­kon­junk­tur: Die Mär von den krank­fei­ern­den „Arbeit­neh­mern“ in Deutschland.

Am 24. Oktober 1956 begann der Metallerstreik. (Grafik: Avanti²)

Am 24. Okto­ber 1956 begann der Metal­ler­streik. (Gra­fik: Avanti²)

Den Auf­takt mach­te Mer­ce­des-Benz-Boss Käl­le­ni­us bei einer Betriebs­rä­te­ta­gung des Kon­zerns im Herbst 2024. Er griff die Beschäf­tig­ten hier­zu­lan­de als Krank­ma­cher an. Die Kran­ken­stän­de in den deut­schen Wer­ken des Kon­zerns sei­en viel höher als in den aus­län­di­schen. Die bei die­ser Ver­samm­lung anwe­sen­de Bezirks­lei­te­rin der IG Metall (IGM) Baden-Würt­tem­berg schwieg bezeich­nen­der­wei­se zu die­ser Attacke.

Schnell nahm die orches­trier­te und medi­al ver­stärk­te Kam­pa­gne gegen die Lohn­fort­zah­lung im Krank­heits­fall Fahrt auf. Alli­anz-Chef Bäte stimm­te eben­so in das lau­te Gejam­mer wegen des zu „hohen Kran­ken­stan­des“ ein wie der Kapi­ta­lis­ten-Dach­ver­band BDA und die FDP. Die Pro­pa­gan­da die­ser Krei­se rich­te­te sich vor­der­grün­dig vor allem gegen die Mög­lich­keit der tele- foni­schen Krank­schrei­bung, die angeb­lich die hohen Kran­ken-stän­de mit­ver­ur­sacht.

War­um die­se Angriffe?
Im Fokus der Atta­cken steht die gesetz­lich gere­gel­te Lohn­fort­zah­lung im Krank­heits­fall. Sie soll eben­so, wie bei­spiels­wei­se in Frank­reich, sturm­reif geschos­sen wer­den. Die­se sozia­le Errun­gen- schaft ist nicht vom Him­mel der viel beschwo­re­nen „Sozi­al­part­ner­schaft“ gefal­len. Sie ist 1956/1957 hart erkämpft worden.

Mehr als 34.000 Mit­glie­der der IGM im Bezirk Küs­te streik­ten damals 114 Tage für einen Tarif­ver­trag über die Lohn­fort­zah­lung im Krank­heits­fall für Arbei­ter. Zwar gab es für Ange­stell­te bereits seit 1861 bis zu 6 Wochen Gehalt bei Krank­heit, aber für Arbei­ter galt die­se Rege­lung nicht.

Der Druck des zwei­mal gegen den Wil­len des haupt­amt­li­chen Gewerk­schafts­ap­pa­rats ver­län­ger­ten Arbeits­kamp­fes führ­te zur Ver­ab­schie­dung des Arbei­ter­krank­heits­ge­set­zes. Es trat am 01.07.1957 in Kraft und ver­pflich­te­te Unter­neh­men, das sehr gerin­ge Kran­ken­geld der Kran­ken­kas­sen auf 90 % des Lohns auf­zu­sto­cken und ab 1961 auf 100 %.

Als die Regie­rung Kohl (CDU/CSU und FDP) 1996 beschloss, die Lohn­fort­zah­lung auf 80 % abzu­sen­ken, kün­dig­te der dama­li­ge Daim­ler-Chef Schr­empp trotz des gel­ten­den Tarif­ver­trags die sofor­ti­ge Kür­zung der Kran­ken­kos­ten im Kon­zern an. Dar­auf­hin kam es zum „Wut-Auf­stand“ (BILD) bei Mer­ce­des, der auch ande­re Beleg­schaf­ten ansporn­te. Die Streiks ver­ur­sach­ten allein bei Mer­ce­des einen Umsatz­ver­lust von über 220 Mil­lio­nen Mark.

Die Kür­zung durch das Kabi­nett Kohl war damit in den tarif­ge­bun­de­nen Betrie­ben vom Tisch. Im Gesetz wur­de erst Anfang 1999 durch die Regie­rung Schrö­der (SPD/Grüne) auf Ver­lan­gen der IGM die vol­le Lohn­fort­zah­lung wie­der festgeschrieben.

Was sagen die Zah­len aus?
Eine Detail-Ana­ly­se der Fak­ten ent­larvt schnell die Lügen der Pro­fit­ma­xi­mie­rer und ihrer poli­ti­schen Hel­fers­hel­fer: 1. Der sprung­haf­te Anstieg der AU-Tage ab 2022 resul­tiert vor allem auf Erkran­kun­gen der Atem­we­ge. 2. Seit 2000 sind die Fehl­zei­ten auf­grund auch arbeits­be­ding­ter psy­chi­scher Erkran­kun­gen um über 250 % gestie­gen. 3. Die bes­se­re digi­ta­le Daten­er­fas­sung von Krank­mel­dun­gen seit Anfang 2022 hat dazu geführt, dass je nach Dia­gno­se jetzt 60 % mehr Attes­te gemel­det wer­den. 4. Auf­grund der Coro­na-Pan­de­mie sind sich vie­le Men­schen ihrer Ver­ant­wor­tung bewusst gewor­den, nicht krank zur Arbeit zu gehen. 5. Infol­ge die­ser Pan­de­mie sind die Atem­wegs­er­kran­kun­gen gestie­gen. 6. Auf­grund der betrieb­li­chen Misstrauens-„Kultur“ ist der Anteil der Beschäf­tig­ten, die auch bei kur­zer Arbeits­un­fä­hig­keit immer ein Attest vor­le­gen, von 53 % (2015) um 10 % auf 63 % (2024) gestie­gen. 7. Der Anstieg der AU-Tage beginnt nicht mit der tele­fo­ni­schen Krank­schrei­bung, da die­se erst seit dem 7.12.2023 mög­lich ist.

Was tun?
Es ist für die eige­ne Gesund­heit von gro­ßer Bedeu­tung, Erkran­kun­gen aus­zu­ku­rie­ren und sich damit vor nega­ti­ven Spät­fol­gen für Kör­per und Psy­che zu schützen.

Die For­de­rung nach Wie­der­ein­füh­rung von Karenz­ta­gen ist der dreis­te Ver­such, aus Pro­fit­gier Lohn­be­stand­tei­le der Beschäf­tig­ten zu klau­en. Sie ist zudem aus­ge­spro­chen dumm. Krank Arbei­ten­de kön­nen ande­re anste­cken und machen mehr Fehler.

Seit 1996 ver­pflich­tet das Arbeits­schutz­ge­setz Fir­men zu vor­beu­gen­dem, ganz­heit­li­chem Gesund­heits­schutz am Arbeits­platz. Die Ursa­chen arbeits­be­ding­ter Gefähr­dun­gen und Erkran­kun­gen sind durch Gefähr­dungs­be­ur­tei­lun­gen und dar­aus abge­lei­te­ten Maß­nah­men nach dem STOP-Prin­zip zu besei­ti­gen oder – wenn nicht anders mög­lich – zumin­dest zu verringern.

Es ist skan­da­lös, dass die­se Vor­ga­ben in den meis­ten Unter­neh­men nicht oder nur pro for­ma umge­setzt wer­den. Wo bleibt der gewerk­schafts- und gesell­schafts­po­li­ti­sche Kampf zur Been­di­gung die­ses men­schen­ver­ach­ten­den und teu­ren Rechtsbruchs?

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Febru­ar 2025
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