„Sozialpartner“ hetzen gegen die „Krankmacher“
H. N.
Neben der Diffamierung von Geflüchteten und Menschen, die Bürgergeld beziehen, hat seit Ende 2024 ein weiteres Thema Hochkonjunktur: Die Mär von den krankfeiernden „Arbeitnehmern“ in Deutschland.
Den Auftakt machte Mercedes-Benz-Boss Källenius bei einer Betriebsrätetagung des Konzerns im Herbst 2024. Er griff die Beschäftigten hierzulande als Krankmacher an. Die Krankenstände in den deutschen Werken des Konzerns seien viel höher als in den ausländischen. Die bei dieser Versammlung anwesende Bezirksleiterin der IG Metall (IGM) Baden-Württemberg schwieg bezeichnenderweise zu dieser Attacke.
Schnell nahm die orchestrierte und medial verstärkte Kampagne gegen die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall Fahrt auf. Allianz-Chef Bäte stimmte ebenso in das laute Gejammer wegen des zu „hohen Krankenstandes“ ein wie der Kapitalisten-Dachverband BDA und die FDP. Die Propaganda dieser Kreise richtete sich vordergründig vor allem gegen die Möglichkeit der tele- fonischen Krankschreibung, die angeblich die hohen Kranken-stände mitverursacht.
Warum diese Angriffe?
Im Fokus der Attacken steht die gesetzlich geregelte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Sie soll ebenso, wie beispielsweise in Frankreich, sturmreif geschossen werden. Diese soziale Errungen- schaft ist nicht vom Himmel der viel beschworenen „Sozialpartnerschaft“ gefallen. Sie ist 1956/1957 hart erkämpft worden.
Mehr als 34.000 Mitglieder der IGM im Bezirk Küste streikten damals 114 Tage für einen Tarifvertrag über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter. Zwar gab es für Angestellte bereits seit 1861 bis zu 6 Wochen Gehalt bei Krankheit, aber für Arbeiter galt diese Regelung nicht.
Der Druck des zweimal gegen den Willen des hauptamtlichen Gewerkschaftsapparats verlängerten Arbeitskampfes führte zur Verabschiedung des Arbeiterkrankheitsgesetzes. Es trat am 01.07.1957 in Kraft und verpflichtete Unternehmen, das sehr geringe Krankengeld der Krankenkassen auf 90 % des Lohns aufzustocken und ab 1961 auf 100 %.
Als die Regierung Kohl (CDU/CSU und FDP) 1996 beschloss, die Lohnfortzahlung auf 80 % abzusenken, kündigte der damalige Daimler-Chef Schrempp trotz des geltenden Tarifvertrags die sofortige Kürzung der Krankenkosten im Konzern an. Daraufhin kam es zum „Wut-Aufstand“ (BILD) bei Mercedes, der auch andere Belegschaften anspornte. Die Streiks verursachten allein bei Mercedes einen Umsatzverlust von über 220 Millionen Mark.
Die Kürzung durch das Kabinett Kohl war damit in den tarifgebundenen Betrieben vom Tisch. Im Gesetz wurde erst Anfang 1999 durch die Regierung Schröder (SPD/Grüne) auf Verlangen der IGM die volle Lohnfortzahlung wieder festgeschrieben.
Was sagen die Zahlen aus?
Eine Detail-Analyse der Fakten entlarvt schnell die Lügen der Profitmaximierer und ihrer politischen Helfershelfer: 1. Der sprunghafte Anstieg der AU-Tage ab 2022 resultiert vor allem auf Erkrankungen der Atemwege. 2. Seit 2000 sind die Fehlzeiten aufgrund auch arbeitsbedingter psychischer Erkrankungen um über 250 % gestiegen. 3. Die bessere digitale Datenerfassung von Krankmeldungen seit Anfang 2022 hat dazu geführt, dass je nach Diagnose jetzt 60 % mehr Atteste gemeldet werden. 4. Aufgrund der Corona-Pandemie sind sich viele Menschen ihrer Verantwortung bewusst geworden, nicht krank zur Arbeit zu gehen. 5. Infolge dieser Pandemie sind die Atemwegserkrankungen gestiegen. 6. Aufgrund der betrieblichen Misstrauens-„Kultur“ ist der Anteil der Beschäftigten, die auch bei kurzer Arbeitsunfähigkeit immer ein Attest vorlegen, von 53 % (2015) um 10 % auf 63 % (2024) gestiegen. 7. Der Anstieg der AU-Tage beginnt nicht mit der telefonischen Krankschreibung, da diese erst seit dem 7.12.2023 möglich ist.
Was tun?
Es ist für die eigene Gesundheit von großer Bedeutung, Erkrankungen auszukurieren und sich damit vor negativen Spätfolgen für Körper und Psyche zu schützen.
Die Forderung nach Wiedereinführung von Karenztagen ist der dreiste Versuch, aus Profitgier Lohnbestandteile der Beschäftigten zu klauen. Sie ist zudem ausgesprochen dumm. Krank Arbeitende können andere anstecken und machen mehr Fehler.
Seit 1996 verpflichtet das Arbeitsschutzgesetz Firmen zu vorbeugendem, ganzheitlichem Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Die Ursachen arbeitsbedingter Gefährdungen und Erkrankungen sind durch Gefährdungsbeurteilungen und daraus abgeleiteten Maßnahmen nach dem STOP-Prinzip zu beseitigen oder – wenn nicht anders möglich – zumindest zu verringern.
Es ist skandalös, dass diese Vorgaben in den meisten Unternehmen nicht oder nur pro forma umgesetzt werden. Wo bleibt der gewerkschafts- und gesellschaftspolitische Kampf zur Beendigung dieses menschenverachtenden und teuren Rechtsbruchs?