Bernard Schmid
Auf autoritäre Weise, ohne Parlamentsbeschluss ist Mitte April 2023 von Staatspräsident Macron und dessen Regierung die „Rentenreform“ durchgepeitscht worden. Offiziell ist sie mit der Veröffentlichung im Amtsblatt der Französischen Republik am 15. April in Kraft getreten.
Dies bedeutet aber nicht, dass nun Ruhe eingekehrt wäre. Ganz im Gegenteil. Ein Großteil der Bevölkerung – laut Umfragen zwischen 60 und 70 % – beharrt nicht nur auf seiner Ablehnung des Rentengesetzes, sondern fordert sogar ausdrücklich eine Fortsetzung des gewerkschaftlichen Widerstands. Bei abhängig Beschäftigten steigt das Nein zur Rente ab 64 auf Werte um die 90 %.
Änderung von Protestformen
Im Januar und Februar 2032 standen noch die Großdemons-trationen der Einheitsfront der Gewerkschaftsverbände (Intersyndicale) im Vordergrund. Im März prägten zeitweilige Streiks in einigen Sektoren (Eisenbahn, Müllabfuhr, Raffinerien …) die Bewegung.
Danach waren mehr oder minder spontane lokale Proteste vorherrschend.
Es begann am 17. April, als Macrons TV-Rede an „die Nation“ übertragen wurde: Zehntausende von Menschen strömten zur selben Zeit auf Straßen und Plätze im gesamten Land, um auf Kochtöpfe und Pfannen zu schlagen, anstatt auf die Bildschirme zu starren. Die Ansage lautete: Wir hören Dir nicht zu, wir glauben Dir sowieso nichts mehr.
Seitdem ist jeder vorher bekanntgewordene Präsidenten- oder Ministerbesuch von Lärm und Tumult geprägt. Macron verließ in der dritten Aprilwoche zum Beispiel die Stadt Vendôme westlich von Paris fluchtartig im Hubschrauber, statt wie geplant ein Bad in der Menge zu nehmen. Am 8. Mai provozierte sein Besuch in Lyon – offiziell für eine Gedenkfeier zum Jahrestag des Kriegsendes 1945 – eine Demonstration von vier- bis fünftausend Menschen.
Krise der parlamentarischen Linken
Man könnte erwarten, dass die Linke von den sozialen Konflikten der letzten Monate innenpolitisch profitiert. Das trifft jedoch für die parteiförmige Linke nicht oder nur in geringem Ausmaß zu, insbesondere nicht für die aus linkssozialdemokratischen, ökologischen und linksnationalistischen Strömungen gespeiste Wahlplattform La France insoumise (LFI – „Das unbeugsame Frankreich“).
Geschwächt wurde die Position von LFI, die aus ihren parlamentarischen Aktivitäten in Kombination mit einer Präsenz auf den Straßen eine starke Oppositionsdynamik entwickeln konnte, durch interne Widersprüche. Zum Beispiel zwischen radikal-demokratischen Positionen einerseits und realer innerparteilicher Autokratie auf der anderen Seite.
Hinzu kommt aber auch das zunehmend offenere Konkurrenzverhältnis zu den Gewerkschaften. So versuchte LFI sich phasenweise an die Spitze der Proteste zu stellen und meldete eigene Demonstrationstermine an. Die Gewerkschaftsspitzen betrachteten diese jedoch als gegen ihre eigenen Proteste und Streiks gerichtete Aktionen.
Der seinerseits um Profilierung durch soziale Demagogie bemühte extrem rechte Rassemblement National (RN – Nationale Versammlung) versuchte, LFI den Rang abzulaufen und die Linksopposition im Parlament und in den Medien zu übertönen. Dort verfügt die neofaschistische Rechte mit ihren – seit Juni 2022 – nun 88 Abgeordneten über eine Tribüne, auch wenn sie bei Streiks und Demonstrationen weitestgehend abwesend ist.
Kampf gegen Neoliberalismus und Neofaschismus
Aktuell herrscht ein scharfer Wettkampf zwischen Gewerkschaften und vor allem sozialen Linkskräften einerseits und der braunen Pseudo-Alternative RN andererseits. Aber falls die Gewerkschaften auf Dauer der politischen Aggressivität der Macron-Regierung unterliegen sollten, dann sind die Zeichen an der Wand unverkennbar: Laut Umfragen würde die RN-Chefin Le Pen eine Präsidentschaftswahl derzeit mit 55 % der Stimmen gewinnen.
Aber noch ist nichts entschieden. Am 1. Mai protestierten laut Gewerkschaftsangaben 2,3 Millionen – realistischerweise über 1 Million – bei den größten Gewerkschaftskundgebungen seit Jahrzehnten. Sie demonstrierten nicht nur gegen die Konterreform bei den Renten, sondern insgesamt gegen die arrogante, prokapitalistische Politik der Staatsspitze und deren angekündigte Fortsetzung der neoliberalen „Transformation“.
Für den 6. Juni 2023 ist ein weiterer gewerkschaftlicher Aktionstag vorgesehen …