Frank­reich - Wei­te­re Kon­ter­re­for­men, wei­te­rer Widerstand?

 

Ber­nard Schmid

Auf auto­ri­tä­re Wei­se, ohne Par­la­ments­be­schluss ist Mit­te April 2023 von Staats­prä­si­dent Macron und des­sen Regie­rung die „Ren­ten­re­form“ durch­ge­peitscht wor­den. Offi­zi­ell ist sie mit der Ver­öf­fent­li­chung im Amts­blatt der Fran­zö­si­schen Repu­blik am 15. April in Kraft getreten.

Gewerkschaftsdemo in Paris, 1. Mai 2023. (Foto: Photothèque Rouge/Martin Noda/Hans Lucas.)

Gewerk­schafts­de­mo in Paris, 1. Mai 2023. (Foto: Pho­to­t­hè­que Rouge/Martin Noda/Hans Lucas.)

Dies bedeu­tet aber nicht, dass nun Ruhe ein­ge­kehrt wäre. Ganz im Gegen­teil. Ein Groß­teil der Bevöl­ke­rung – laut Umfra­gen zwi­schen 60 und 70 % – beharrt nicht nur auf sei­ner Ableh­nung des Ren­ten­ge­set­zes, son­dern for­dert sogar aus­drück­lich eine Fort­set­zung des gewerk­schaft­li­chen Wider­stands. Bei abhän­gig Beschäf­tig­ten steigt das Nein zur Ren­te ab 64 auf Wer­te um die 90 %.

Ände­rung von Protestformen
Im Janu­ar und Febru­ar 2032 stan­den noch die Groß­de­mons-tra­tio­nen der Ein­heits­front der Gewerk­schafts­ver­bän­de (Inter­syn­di­cale) im Vor­der­grund. Im März präg­ten zeit­wei­li­ge Streiks in eini­gen Sek­to­ren (Eisen­bahn, Müll­ab­fuhr, Raf­fi­ne­rien …) die Bewegung.

Danach waren mehr oder min­der spon­ta­ne loka­le Pro­tes­te vorherrschend.

Es begann am 17. April, als Macrons TV-Rede an „die Nati­on“ über­tra­gen wur­de: Zehn­tau­sen­de von Men­schen ström­ten zur sel­ben Zeit auf Stra­ßen und Plät­ze im gesam­ten Land, um auf Koch­töp­fe und Pfan­nen zu schla­gen, anstatt auf die Bild­schir­me zu star­ren. Die Ansa­ge lau­te­te: Wir hören Dir nicht zu, wir glau­ben Dir sowie­so nichts mehr.

Seit­dem ist jeder vor­her bekannt­ge­wor­de­ne Prä­si­den­ten- oder Minis­ter­be­such von Lärm und Tumult geprägt. Macron ver­ließ in der drit­ten April­wo­che zum Bei­spiel die Stadt Ven­dô­me west­lich von Paris flucht­ar­tig im Hub­schrau­ber, statt wie geplant ein Bad in der Men­ge zu neh­men. Am 8. Mai pro­vo­zier­te sein Besuch in Lyon – offi­zi­ell für eine Gedenk­fei­er zum Jah­res­tag des Kriegs­en­des 1945 – eine Demons­tra­ti­on von vier- bis fünf­tau­send Menschen.

Kri­se der par­la­men­ta­ri­schen Lin­ken
Man könn­te erwar­ten, dass die Lin­ke von den sozia­len Kon­flik­ten der letz­ten Mona­te innen­po­li­tisch pro­fi­tiert. Das trifft jedoch für die par­tei­för­mi­ge Lin­ke nicht oder nur in gerin­gem Aus­maß zu, ins­be­son­de­re nicht für die aus links­so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen, öko­lo­gi­schen und links­na­tio­na­lis­ti­schen Strö­mun­gen gespeis­te Wahl­platt­form La France inso­u­mi­se (LFI – „Das unbeug­sa­me Frankreich“).

Geschwächt wur­de die Posi­ti­on von LFI, die aus ihren par­la­men­ta­ri­schen Akti­vi­tä­ten in Kom­bi­na­ti­on mit einer Prä­senz auf den Stra­ßen eine star­ke Oppo­si­ti­ons­dy­na­mik ent­wi­ckeln konn­te, durch inter­ne Wider­sprü­che. Zum Bei­spiel zwi­schen radi­kal-demo­kra­ti­schen Posi­tio­nen einer­seits und rea­ler inner­par­tei­li­cher Auto­kra­tie auf der ande­ren Seite.

Hin­zu kommt aber auch das zuneh­mend offe­ne­re Kon­kur­renz­ver­hält­nis zu den Gewerk­schaf­ten. So ver­such­te LFI sich pha­sen­wei­se an die Spit­ze der Pro­tes­te zu stel­len und mel­de­te eige­ne Demons­tra­ti­ons­ter­mi­ne an. Die Gewerk­schafts­spit­zen betrach­te­ten die­se jedoch als gegen ihre eige­nen Pro­tes­te und Streiks gerich­te­te Aktionen.

Der sei­ner­seits um Pro­fi­lie­rung durch sozia­le Dem­ago­gie bemüh­te extrem rech­te Ras­sem­blem­ent Natio­nal (RN – Natio­na­le Ver­samm­lung) ver­such­te, LFI den Rang abzu­lau­fen und die Links­op­po­si­ti­on im Par­la­ment und in den Medi­en zu über­tö­nen. Dort ver­fügt die neo­fa­schis­ti­sche Rech­te mit ihren – seit Juni 2022 – nun 88 Abge­ord­ne­ten über eine Tri­bü­ne, auch wenn sie bei Streiks und Demons­tra­tio­nen wei­test­ge­hend abwe­send ist.

Kampf gegen Neo­li­be­ra­lis­mus und Neofaschismus
Aktu­ell herrscht ein schar­fer Wett­kampf zwi­schen Gewerk­schaf­ten und vor allem sozia­len Links­kräf­ten einer­seits und der brau­nen Pseu­do-Alter­na­ti­ve RN ande­rer­seits. Aber falls die Gewerk­schaf­ten auf Dau­er der poli­ti­schen Aggres­si­vi­tät der Macron-Regie­rung unter­lie­gen soll­ten, dann sind die Zei­chen an der Wand unver­kenn­bar: Laut Umfra­gen wür­de die RN-Che­fin Le Pen eine Prä­si­dent­schafts­wahl der­zeit mit 55 % der Stim­men gewinnen.

Aber noch ist nichts ent­schie­den. Am 1. Mai pro­tes­tier­ten laut Gewerk­schafts­an­ga­ben 2,3 Mil­lio­nen – rea­lis­ti­scher­wei­se über 1 Mil­li­on – bei den größ­ten Gewerk­schafts­kund­ge­bun­gen seit Jahr­zehn­ten. Sie demons­trier­ten nicht nur gegen die Kon­ter­re­form bei den Ren­ten, son­dern ins­ge­samt gegen die arro­gan­te, pro­ka­pi­ta­lis­ti­sche Poli­tik der Staats­spit­ze und deren ange­kün­dig­te Fort­set­zung der neo­li­be­ra­len „Trans­for­ma­ti­on“.

Für den 6. Juni 2023 ist ein wei­te­rer gewerk­schaft­li­cher Akti­ons­tag vorgesehen …

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Juni 2023
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