F. R. / E. B. / R. G.
Am 25. April 1974 ist kurz nach Mitternacht das antifaschistische Lied „Grândola, Vila Morena“ in einem katholischen Radiosender zu hören. Für die Soldaten der „Bewegung der Streitkräfte“ (MFA) ist es das Signal zum Aufstand gegen die seit 48 Jahren herrschende rechte Diktatur.
Als die Aufständischen am frühen Morgen mit Panzern und anderen Militärfahrzeugen durch Lissabon fahren, um Ministerien, Radio- und Fernsehsender sowie den Flughafen zu besetzen, säumen bereits tausende jubelnde Menschen die Straßen. Eine demokratische und soziale Revolution ist ausgelöst worden. Sie stürzt – ohne selbst Blut zu vergießen – das oft als faschistisch bezeichnete Regime, beendet dessen blutige Kolonialkriege in Afrika und eröffnet die Perspektive einer solidarischen Gesellschaft.
Der Aufstand vom 25. April 1974 untergräbt die bestehende Ordnung auf allen Ebenen der Gesellschaft. In Tausenden von Betrieben, in armen Stadtvierteln und ländlichen Gemeinden des Südens, in Schulen, Krankenhäusern, lokalen und zentralen Regierungsstellen und sogar in den Streitkräften wird versucht, neue Formen einer demokratischen Basisdemokratie zu schaffen.
Es handelt sich um eine revolutionäre Massenbewegung, die Fabriken, Großgrundbesitz und leerstehende Wohnungen besetzt. Sie entdeckt die Selbstverwaltung und die Arbeiterkontrolle, erzwingt die Verstaatlichung der Banken und anderer strategischer Sektoren der Wirtschaft. Sie reorganisiert das Management, gründet kollektive Landwirtschaftsbetriebe und verwaltet das Alltagsleben.
Durch ihre Eigeninitiative und Stärke auf der Straße kann sie die spürbare Demokratisierung der Gesellschaft, die Zerschlagung des harten Kerns des Repressions-Apparats der Diktatur, die gewerkschaftlichen Freiheiten sowie die Grundlagen eines neuen Systems politischer und sozialer Rechte durchsetzen.
19 Monate lang ist die Zukunft jetzt! Ein seltener und kurzer Moment, in dem „einfache“ Frauen und Männer, Arbeitende und Unterdrückte, davon träumen können, die Macht und ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen.
Drei Besonderheiten
Diese Revolution weist drei Besonderheiten auf:
Erstens wird sie wird durch eine militärische Bewegung ausgelöst, die das Ergebnis der Empörung über einen seit 13 Jahren andauernden Kolonialkrieges ist,
Zweitens ermöglicht dies die Neutralisierung der traditionellen Rolle der Streitkräfte. Sie werden durch die MFA abgelöst, die sich sehr vom Militär der Diktatur unterscheidet.
Drittens hat dies eine weitere wichtige Folge – die Lähmung und allgemeine Schwächung der Staatsmacht. Das alte Machtgefüge ist zusammengebrochen und hinterlässt viel Raum für drastische Veränderungen des sozialen und politischen Kräftever- hältnisses.
Dies führt nicht zuletzt zum kurzfristigen Ende des Kolonialkriegs an allen drei Fronten (Angola, Guinea-Bissau und Mosambik) und zur Entkolonisierung.
In ihrem unaufhaltsamen Anfangsschwung zwischen Mai und August/September 1974 setzt die revolutionäre Massenbewegung nicht nur die Beseitigung der Herrschaftsstrukturen der rechten Diktatur durch. Sie erkämpft Demokratisierungen im sozialen Bereich, das Streikrecht, die Vereinigungsfreiheit, den Mindestlohn, den bezahlten Urlaub, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Grundlagen eines allgemeinen Sozialversicherungssystems und die Vergesellschaftung leerstehenden Wohnraums …
Entscheidende Niederlagen
Das gespaltene revolutionäre Lager erleidet jedoch in den folgenden Monaten drei aufeinanderfolgende und entscheidende Niederlagen. Die erste ist die Wahl zur verfassungsgebenden Ver- sammlung mit dem Sieg konterrevolutionärer Kräfte. Die zweite ist die Absetzung der „militärischen Linken“ nicht nur von der Führung der Provisorischen Regierung, sondern auch von ihren starken Positionen im Militärapparat. Die dritte ist der erfolgreiche gegenrevolutionäre militärische Putsch vom 25. November 1975. Er beendet nun endgültig den revolutionären Prozess.
Dennoch hinterlässt dieser in der nachfolgenden parlamentarischen Demokratie Spuren seiner politischen und sozialen Errungenschaften.
Die portugiesische Revolution von 1974/75 ist also stark genug, um die etablierte Ordnung umzustürzen und das kapitalistische System in seinen Grundfesten zu erschüttern. Aber es ge- lingt ihr nicht, diese Errungenschaften aufrechtzuerhalten und noch weniger, sie zu einer dauerhaften sozialistischen Ordnung zu vertiefen.
Denn die mit dem ermutigenden Aufbruch in Portugal verbundenen Hoffnungen werden im Kalten Krieg zwischen West und Ost gnadenlos bekämpft.
Die Revolution wird auf halbem Wege gestoppt und verliert einen großen Teil ihrer fortgeschrittensten Errungenschaften durch die „demokratische Normalisierung“ der kapitalistischen Klassenherrschaft.