Ernest Man­del – Mar­xist und Visionär*

Win­fried Wolf

Der Tod von Ernest Man­del vor zehn Jah­ren, am 20. Juli 1995, ereig­ne­te sich zu einem Zeit­punkt, an dem auf welt­wei­ter Ebe­ne – mit erheb­li­chem Auf­wand und eini­gem Erfolg – ver­sucht wur­de, mar­xis­ti­sche Theo­rie zu ent­sor­gen und revo­lu­tio­nä­res Enga­ge­ment als bil­li­gen Roman­ti­zis­mus abzu­tun, den man höchs­ten jun­gen Men­schen durch­ge­hen las­sen sollte.

Der am 5. April 1923 in Frank­furt am Main als Sohn eines jüdi­schen Mar­xis­ten flä­mi­scher Spra­che gebo­re­ne Ernest Man­del war zum Zeit­punkt sei­nes Todes kein Jugend­li­cher. Doch sein Enthu­si­as­mus für den Sozia­lis­mus erin­ner­te immer an den eines rei­fen Jugend­li­chen und an den eines jüdi­schen Pro­phe­ten. Er ähnel­te hier im übri­gen Jür­gen Kuc­zyn­ski, mit dem er in den letz­ten Jah­ren sei­nes Lebens befreun­det war. Ernest Man­del hin­ter­ließ mehr als fünf­zig Bücher zur Ana­ly­se des moder­nen Kapi­ta­lis­mus, dar­un­ter grund­sätz­li­che Wer­ke wie die Mar­xis­ti­sche Wirt­schafts­theo­rie (1962), Der Spät­ka­pi­ta­lis­mus (1972) und Die Lan­gen Wel­len im Kapi­ta­lis­mus (1980), die in zwei Dut­zend Spra­chen über­setzt wur­den.1

Win­fried Roth bezeich­ne­te ihn in einer im Juli 2005 aus­ge­strahl­ten Sen­dung von Deutsch­land­funk Kul­tur als „einen der ein­fluss­reichs­ten Ver­tre­ter der so genann­ten Neu­en Lin­ken in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts“.2 Die SED wie­der­um hielt Ernest Man­del für so gefähr­lich, dass sie ihm 1980 ein Buch mit dem Titel Der wah­re Mar­xis­mus des Ernest Man­del wid­me­te. 1990 stell­te Ernest Man­del auf einer Ver­an­stal­tung, auf der er zusam­men mit Jür­gen Kuc­zyn­ski sprach, fest: „Ich gehö­re wohl zu den weni­gen in Euro­pa, die gleich­zei­tig in der BRD und in der DDR Ein­rei­se­ver­bot hat­ten.“3 Das war noch unter­trie­ben: Man­del war die Ein­rei­se zeit­wei­lig in rund einem Dut­zend Län­dern unter­sagt, so auch in Frank­reich, in der Schweiz und in den USA. Der dama­li­ge Bun­des­mi­nis­ter des Inne­ren, Hans-Diet­rich Gen­scher, argu­men­tier­te am 1. März 1972 im Bun­des­tag, dass „mit der Ein­rei­se des bel­gi­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen Ernest Man­del … eine Gefahr für die öffent­li­che Sicher­heit und Ord­nung und für die frei­heit­lich-demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung ent­ste­hen“ konn­te. Im übri­gen habe Man­del „zum Kreis der Hin­ter­män­ner der Pari­ser Mai-Unru­hen des Jah­res 1968 gehört.“ Auf die Fra­ge des Abge­ord­ne­ten Zan­der (SPD) „Kann ich Ihrer Ant­wort ent­neh­men, daß das … eine zeit­lich befris­te­te Maß­nah­me ist?“, ant­wor­te­te Gen­scher: „Es liegt an Herrn Man­del, die im Zusam­men­hang mit ihm ent­stan­de­nen Befürch­tun­gen dadurch aus­zu­räu­men, dass er von sei­nen revo­lu­tio­nä­ren Zie­len abrückt.“ Die­ser Auf­for­de­rung des famo­sen frei­en Demo­kra­ten leis­te­te Man­del offen­sicht­lich nicht Fol­ge; das Ein­rei­se­ver­bot wur­de sechs Jah­re lang, bis 1978, auf­recht erhal­ten.4

Man­dels Ana­ly­sen und Schrif­ten beein­fluss­ten Hun­dert­tau­sen­de Men­schen – allein die deut­sche Aus­ga­be sei­ner Ein­füh­rung in die mar­xis­ti­sche Wirt­schafts­theo­rie erleb­te eine Ge- samt­auf­la­ge von mehr als 100.000 Exem­pla­ren.5 Vie­le sei­ner Arbei­ten sind erfri­schend aktu­ell, so sei­ne Ana­ly­sen des spä­ten Kapi­ta­lis­mus und des­sen Kri­sen­er­schei­nun­gen, die sich heu­te wie Bei­trä­ge zu einer frü­hen Glo­ba­li­sie­rungs­de­bat­te lesen. Anläss­lich sei­nes Todes gab sich die real exis­tie­ren­de mar­xis­ti­sche und libe­ra­le Pro­mi­nenz die Ehre und publi­zier­te Nach­ru­fe – Elmar Alt­va­ter in der Süd­deut­schen Zei­tung („War­ten auf die Welt­re­vo­lu­ti­on“, 22.7.1995), Robert Kurz in der jun­gen Welt („Der letz­te Klas­sen­kämp­fer“, 22.7.1995), Joa­chim Bisch­off im Neu­en Deutsch­land („Sym­bol­ge­stalt der 68er Bewe­gung“, 24.7.1995), Rudolf Hickel in der taz („Gegen das Cha­mä­le­on Kapi­ta­lis­mus“; 22.7.1995) und Karl Gro­be in der Frank­fur­ter Rund­schau („Scharf­sin­ni­ge Ana­ly­sen“; 22.7.1995).

Am zehn­ten Todes­tag von Ernest Man­del war weit­ge­hend Schwei­gen ange­sagt. Die Bücher von Man­del – auch die genann­ten Stan­dard­wer­ke – sind kaum mehr ver­füg­bar. Die Her­aus­ga­be von Gesam­mel­ten Wer­ken von Ernest Man­del, die der Neue ISP-Ver­lag ab Herbst 2005 beginnt, ist eben­so erfreu­lich wie kühn.

Für mich, der ich 20 Jah­re lang mit Ernest Man­del in per­sön­li­cher Freund­schaft ver­bun­den war und gemein­sam mit ihm drei Bücher ver­öf­fent­lich­te6, gab es in der Per­son Man­del eine drei­fa­che Ein­heit: Ers­tens leis­te­te Man­del einen bedeu­ten­den Bei­trag zur Wei­ter­ent­wick­lung des Mar­xis­mus. Anders als vie­le eher abge­ho­be­ne Mar­xis­ten war – zwei­tens – sein Enga­ge­ment immer mit der Tages­po­li­tik ver­knüpft. Drit­tens ver­füg­te Ernest Man­del über eine außer­or­dent­li­che Über­zeu­gungs­kraft, die vor allem jun­ge Men­schen begeis­ter­te und die sich aus dem per­sön­li­chen Bei­spiel speiste.

Aktu­el­ler Mar­xis­mus – Aktua­li­tät von Mandel
Ernest Man­dels Bei­trä­ge zur Kri­tik der poli­ti­schen Öko­no­mie haben jenen Cha­rak­ter, der das Werk von Karl Marx aus­zeich­net. Er selbst beschrieb die­se Metho­de in der Mar­xis­ti­schen Wirt­schafts­theo­rie fol­gen­der­ma­ßen: „Wir stüt­zen uns … auf die nam­haf­tes­ten Wirt­schafts­theo­re­ti­ker, Eth­no­lo­gen, Anthro­po­lo­gen, Sozio­lo­gen und Psy­cho­lo­gen unse­res Zeit­al­ters, soweit sie Erschei­nun­gen der wirt­schaft­li­chen Akti­vi­tät mensch­li­cher Gesell­schaf­ten in der Ver­gan­gen­heit, der Gegen­wart oder der Zukunft beur­tei­len. Was wir zu zei­gen ver­su­chen, ist, dass man aus den empi­ri­schen Daten der heu­ti­gen Wis­sen­schaft das gesam­te öko­no­mi­sche Sys­tem von Karl Marx rekon­stru­ie­ren kann … Die gro­ße Über­le­gen­heit der Marx­schen Metho­de im Ver­gleich mit ande­ren öko­no­mi­schen Schu­len beruht in der Tat in jener dyna­mi­schen Ver­bin­dung von Wirt­schafts­ge­schich­te und Wirt­schafts­theo­rie.“7

Es ist wich­tig, den Heiß­hun­ger des Kapi­tals nach Mehr­wert mit nack­ten Zah­len zu bele­gen. Beein­dru­ckend plas­tisch wird die Dar­stel­lung dann, wenn sie mit his­to­ri­schen Bei­spie­len ver­bun­den und zugleich der Zynis­mus der Herr­schen­den dar­ge­stellt wird: „Als die Löh­ne (Ende des 18. Jahr­hun­derts, W. W.) so tief gefal­len sind, dass jeder Fei­er­tag ein Hun­ger­tag bedeu­tet, zeigt sich Napo­lé­on groß­her­zi­ger als sein Minis­ter Por­ta­lis, als er des­sen Vor­schlag, die Sonn­tags­ar­beit zu ver­bie­ten, zurück­weist. ‚Da das Volk jeden Tag ißt, muß ihm auch erlaubt sein, jeden Tag zu arbei­ten.‘“8

Die „ursprüng­li­che Akku­mu­la­ti­on des Kapi­tals“ in West­eu­ro­pa, die die Vor­aus­set­zung für die indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on war und, wie Marx es beschrieb, die „Mor­gen­rö­te der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­ära“ dar­stellt, hängt eng mit der „Ent­de­ckung der Gold- und Sil­ber­län­der, der Aus­rot­tung, Ver­skla­vung und Ver­gra­bung der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung in die Berg­wer­ke, … der Ver­wand­lung von Afri­ka in ein Geheg zur Han­dels­jagd auf Schwarz­häu­te“ zusam­men.9 Ernest Man­del lie­fer­te in einem sei­ner span­nends­ten Auf­sät­ze dar­über hin­aus den Nach­weis, dass das aus Nord- und Süd­ame­ri­ka im Zeit­raum 1503 bis 1660 geraub­te Gold und Sil­ber, die aus Indo­ne­si­en von 1650 bis 1780 her­aus­ge­hol­te Beu­te, die Gewin­ne aus dem Skla­ven­han­del im 18. Jahr­hun­dert, die Gewin­ne aus der Skla­ven­ar­beit in Bri­tisch West­in­di­en und die Plün­de­rung Indi­ens im Zeit­raum 1750 bis 1800 sich „auf eine Sum­me von mehr als einer Mil­li­ar­de Gold­pfund addiert, das heißt mehr als den Wert des gesam­ten Anla­ge­ka­pi­tals in allen euro­päi­schen Indus­trie­un­ter­neh­men um das Jahr 1800.“10 Das Start­ka­pi­tal für den ers­ten Ein­satz im Gro­ßen Spiel des Kapi­ta­lis­mus – Ergeb­nis eines Rau­bes bei den­je­ni­gen Völ­kern, die eben des­halb auch 200 Jah­re danach über­wie­gend in Elend leben.

Es fällt schwer zu ent­schei­den, was der wich­tigs­te Bei­trag Man­dels für die Wei­ter­ent­wick­lung der mar­xis­ti­schen öko­no­mi­sche Theo­rie ist. Top­ak­tu­ell bleibt z. B. sei­ne Ana­ly­se der Welt­wäh­rung Dol­lar – und des für ihn 1968 abseh­ba­ren „Stur­zes des Dol­lar“ mit der Mög­lich­keit der Her­aus­bil­dung „einer Reser­ve­wäh­rung eines ver­ei­nig­ten Euro­pas“.11 Sei­ne Ana­ly­se zur „Kon­kur­renz Euro­pa – Ame­ri­ka“ ist auch in der aktu­el­len Debat­te zur Zukunft der EU von Bedeu­tung. Man­del beton­te, dass die EWG sich nur zu einem neu­en Staat und damit erst zur Her­aus­for­de­rung für die USA ent­wi­ckeln könn­te, wenn es zu einer „wach­sen­den inter­na­tio­na­len Kapi­tal­ver­flech­tung inner­halb der EWG“, die letz­ten Endes die natio­nal gepräg­ten Kon­zer­ne erset­zen wür­de, kommt.12

Span­nend zur Begrün­dung des nur theo­re­ti­schen zeit­wei­li­gen Funk­tio­nie­rens und der grund­sätz­li­chen Kri­sen­an­fäl­lig­keit jeg­li­cher kapi­ta­lis­ti­scher Pro­duk­ti­on sind Man­dels Ana­ly­sen zur ein­fa­chen und erwei­ter­ten Repro­duk­ti­on. Er füg­te zu den zwei „Pro­duk­ti­ons­ab­tei­lun­gen“, die Karl Marx vor­sah (die Kon­sum­gü­ter und die Pro­duk­ti­ons­gü­ter her­stel­len­de Abtei­lung), eine drit­te Pro­duk­ti­ons­ab­tei­lung, die Rüs­tungs­pro­duk­ti­on, hin­zu. Die­ses aus­führ­lich in Der Spät­ka­pi­ta­lis­mus ent­wi­ckel­te The­ma ist für die aktu­el­le Debat­te zur US-Hoch­rüs­tung inter­es­sant. Man­del betont dabei einer­seits, dass „der Aus­deh­nung der per­ma­nen­ten Rüs­tungs­wirt­schaft inne­re, objek­ti­ve gesell­schaft­li­che Gren­zen gesetzt“ sind. Gleich­zei­tig unter­streicht er – wie bereits Rosa Luxem­burg – die spe­zi­fi­schen Vor­tei­le der Kapi­tal­an­la­ge in der Rüs­tungs­wirt­schaft im „Spät­ka­pi­ta­lis­mus“ und die Eigen­dy­na­mik, die ein „mili­tä­risch-indus­tri­el­ler Kom­plex“ ent­wi­ckeln kann.13

Ernest Man­del war als Öko­nom auch Päd­ago­ge. Er hielt Hun­der­te Semi­na­re zum The­ma „Ein­füh­rung in die mar­xis­ti­sche Wirt­schafts­theo­rie“. Ein schma­les Bänd­chen mit 76 Sei­ten Umfang resul­tier­te dar­aus; es dürf­te welt­weit mehr als 500.000 mal gedruckt wor­den sein.14 Einen ähn­li­chen Cha­rak­ter hat Man­dels Ein­füh­rung in den Mar­xis­mus, die auch in dem klei­nen, enga­gier­ten ISP-Ver­lag eine Gesamt­auf­la­ge von bis­her 19.000 Exem­pla­ren erreich­te.15

Enga­ge­ment in der Tagespolitik
Vie­le Bei­trä­ge zu Ernest Man­del, die sei­ne außer­halb der poli­ti­schen Öko­no­mie lie­gen­den Enga­ge­ments nicht aus­blen­de­ten, strei­fen kurz die „trotz­kis­ti­sche IV. Inter­na­tio­na­le“, um sich dann anschei­nend Inter­es­san­te­rem – zum Bei­spiel sei­nem Buch Ein schö­ner Mord, Die Sozi­al­ge­schich­te des Kri­mi­nal­ro­mans – zuzu­wen­den.16 Ohne Zwei­fel wid­me­te Ernest Man­del einen gro­ßen Teil sei­ner Arbeits­zeit dem Auf­bau einer revo­lu­tio­nä­ren Orga­ni­sa­ti­on – wie dies vor ihm Karl Marx, Fried­rich Engels, W. I. Lenin und Leo Trotz­ki taten. Und zwei­fel­los hat­te die von Man­del maß­geb­lich bestimm­te IV. Inter­na­tio­na­le (mit dem „Ver­ei­nig­ten Sekre­ta­ri­at“) kei­ne gro­ße gesell­schaft­li­che Rele­vanz. Ernest Man­del nahm die Orga­ni­sa­ti­ons­ar­beit so ernst, dass die Erstel­lung und Ver­öf­fent­li­chung sei­nes ers­ten, grund­le­gen­den Wer­kes, Mar­xis­ti­sche Wirt­schafts­theo­rie, um vie­le Jah­re hin­aus­ge­zö­gert wur­de.17

Doch Man­del war kein Sek­tie­rer. Und sein prak­ti­sches tages­po­li­ti­sches Enga­ge­ment beschränk­te sich eben nicht auf klein­tei­li­ge Orga­ni­sa­ti­ons­ar­beit. Bei fast allen bedeu­ten­den gesell­schaft­li­chen Ereig­nis­sen in sei­ner poli­tisch akti­ven Zeit – bei­spiels­wei­se im Gene­ral­streik der wal­lo­ni­schen Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter 1960/61 – war Man­del beteiligt.

Bei­spiel Kuba: In den Jah­ren 1963 bis 1965 gab es auf Kuba eine Debat­te über die sozia­lis­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on der Öko­no­mie. Den Aus­gangs­punkt stell­ten die Posi­tio­nen von Ernes­to Che Gue­va­ra und dem mao­is­tisch gepräg­ten Öko­nom Charles Bet­tel­heim dar. Letz­te­rer behaup­te­te, in Kuba habe „das Wert­ge­setz wei­ter Gül­tig­keit“; es exis­tie­re „ein sozia­lis­ti­scher Markt, der berück­sich­tigt wer­den“ müs­se. Gue­va­ra dage­gen ver­tei­dig­te das Pri­mat einer gesell­schaft­li­chen Pla­nung. Ernest Man­del griff 1964 in die Debat­te ein; sei­ne Bei­trä­ge wur­den in den kuba­ni­schen Blät­tern wie­der­ge­ge­ben. Er ergriff Par­tei für die Posi­ti­on von Gue­va­ra und argu­men­tier­te, dass die Gül­tig­keit des Wert­ge­set­zes zwar „nicht bestrit­ten“ wer­den könn­te, es jedoch dar­um gin­ge, einen „zähen und lang­fris­ti­gen Kampf zwi­schen dem Prin­zip des bewuss­ten Plans und dem blin­den Spiel des Wert­ge­set­zes“ zu füh­ren.18 Che argu­men­tier­te gemein­sam mit Man­del: „Der öko­no­mi­sche Sozia­lis­mus ohne kom­mu­nis­ti­sche Moral inter­es­siert mich nicht. Wir kämp­fen gegen das Elend, aber gleich­zei­tig kämp­fen wir gegen die Ent­äu­ße­rung. Eines der wich­tigs­ten Zie­le des Mar­xis­mus ist es, das … Gewinn­stre­ben als psy­cho­lo­gi­sche Moti­va­ti­on aus der Welt zu schaf­fen … Der Mar­xis­mus wird, wenn er sich nicht um das Bewusst­sein küm­mert, zu einer blo­ßen Metho­de der Ver­tei­lung wer­den, er wird sich dann aber nie zu einer revo­lu­tio­nä­ren Moral ent­wi­ckeln.“19

Bei­spiel ers­te west­deut­sche Kri­se: 1966/67 kam es in der BRD zu einer ers­ten Rezes­si­on. Obgleich der sprung­haf­te Anstieg der offi­zi­el­len Arbeits­lo­sen­zahl auf 750.000 beim heu­ti­gen Rück­blick lächer­lich erscheint, stell­te die­se Kri­se einen tie­fen Ein­schnitt in der BRD-Geschich­te dar. Die deut­sche Stu­den­ten­re­vol­te 1967-1969 und die „wil­den Streiks“ 1969 und 1973 wur­den durch sie beein­flusst. Auf der poli­ti­schen Ebe­ne waren die Ant­wor­ten eine Gro­ße Koali­ti­on (1966-1969) bzw. die sozi­al­li­be­ra­len Regie­run­gen unter Wil­ly Brandt und Hel­mut Schmidt (1969-1982). Weni­ge Mona­te nach die­ser Rezes­si­on erschien ein Büch­lein von Man­del zu die­sem The­ma. Es erleb­te bin­nen weni­ger Mona­te acht Auf­la­gen und hat­te den Cha­rak­ter einer Art ange­wand­ter mar­xis­ti­scher Wirt­schafts­theo­rie. Ernest Man­del skiz­zier­te am Ende die­ser 60-Sei­ten-Schrift, wie eine sozia­lis­ti­sche Alter­na­ti­ve zum aktu­el­len Kapi­ta­lis­mus aus­se­hen müss­te und ende­te dann mit den Sät­zen: „Ist das eine Uto­pie? Es ist genau­so uto­pisch wie die Pro­kla­mie­rung der Gleich­heit der Men­schen … vor den Adli­gen des 15. oder 16. Jahr­hun­derts. Die mate­ri­el­len Vor­be­din­gun­gen zur Ver­wirk­li­chung die­ser frei­en sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft bestehen im Wes­ten bereits heu­te. Die Alter­na­ti­ve ist deut­lich: Ent­we­der erscheint der Gevat­ter Trend … mit wach­sen­der Erwerbs­lo­sig­keit, wach­sen­der Ungleich­heit, wach­sen­der Unfrei­heit und immer auto­ri­tä­rer aus­ge­rich­te­tem Staat, oder wir errei­chen die sozia­lis­ti­sche Umge­stal­tung der Eigen­tums- und Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se.“20 Da es nicht zur Umge­stal­tung der Eigen­tums- und Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se kam, mar­schier­te seit­her der „Gevat­ter Trend“. Und dies in einem Maß – mit im Früh­jahr 2005 mehr als fünf Mil­lio­nen offi­zi­ell regis­trier­ten Erwerbs­lo­sen – wie dies Ende der sech­zi­ger Jah­re kaum vor­stell­bar war.

Bei­spiel BRD 1968: Der Inter­na­tio­na­le Viet­nam-Kon­greß, der im Febru­ar 1968 in West­ber­lin statt­fand, stell­te den Höhe­punkt der west­deut­schen Stu­den­ten­re­vol­te dar. Liest man heu­te die dort gehal­te­nen Refe­ra­te und Debat­ten­bei­trä­ge – von Tariq Ali (Lon­don), Rudi Dutsch­ke (Ber­lin), Erich Fried (Lon­don) oder Alain Kri­vi­ne (Paris) – und ver­gleicht man die­se mit dem Bei­trag von Ernest Man­del, so springt bei letz­te­rem sofort die enor­me Spann­kraft zwi­schen (poli­ti­scher) Öko­no­mie und (öko­no­misch abge­lei­te­ter) Poli­tik ins Auge. Man­del stell­te am Beginn sei­ner Rede fest: „Die Aggres­si­on des ame­ri­ka­ni­schen Impe­ria­lis­mus und die kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re Rol­le Washing­tons sind kein geschicht­li­cher Zufall.“ Er sah dar­in nüch­tern ein Resul­tat des „Pro­zes­ses der inter­na­tio­na­len Kon­zen­tra­ti­on und Zen­tra­li­sa­ti­on des Kapi­tals.“ Die­ser Pro­zess füh­re „zu einer Pola­ri­sie­rung der Kräf­te auf welt­wei­ter Ebe­ne, bei der der ame­ri­ka­ni­sche Impe­ria­lis­mus not­wen­dig die glo­ba­len Inter­es­sen der stärks­ten, kon­se­quen­tes­ten und aggres­sivs­ten Strö­mun­gen des Kapi­tals zum Aus­druck“ brin­ge. Man­del argu­men­tier­te in den fol­gen­den Abschnit­ten öko­no­misch (neue Abhän­gig­keit der USA von den Roh­stof­fen Eisen­erz und Roh­öl, Über­ka­pa­zi­tä­ten in den USA, die im Aus­land Anla­ge suchen), um dann strikt poli­tisch zu schluss­fol­gern: „Das ist der ratio­na­le Sinn und das ist die Erklä­rung des Kriegs in Viet­nam: die War­nung an alle Völ­ker der Welt. Wenn sie es wagen soll­ten, für ihre Eman­zi­pa­ti­on zu kämp­fen, wer­den sie dafür durch unzäh­li­ge Rui­nen und Tote bezah­len müs­sen – wie in Viet­nam.“21

Man­del ori­en­tier­te als einer der weni­gen Red­ner auf dem Kon­gress auf den Feind in der eige­nen Regi­on: Not­wen­dig sei „eine all­ge­mei­ne, ein­heit­li­che Akti­on gegen die Nato in Euro­pa.“ Er ver­wies dabei auf den „Plan Pro­me­theus“, einen Nato-Plan, der 1967 in Grie­chen­land umge­setzt wor­den war und zu dem faschis­ti­schen Regime unter Pata­kos und Papado­pou­los geführ­te hat­te. In der Schlu­ßer­klä­rung des Kon­gres­ses hieß es dann in Punkt 3: „Gegen Nato-Basen in west­eu­ro­päi­schen Län­dern wird in Aktio­nen und Demons­tra­tio­nen eine Kam­pa­gne ‚Zer­schlagt die Nato‘ geführt. In allen Län­dern wird der Aus­tritt aus der Nato … gefor­dert.“22

Mensch und Visionär
Die letz­ten Sät­ze von Ernest Man­del auf dem Viet­nam-Kon­gress sind bei­spiel­haft für die Kom­bi­na­ti­on von Ana­ly­se und Visi­on, auch für die Ver­bin­dung zwi­schen der Strin­genz einer „pes­si­mis­ti­schen“ ratio­na­len Ana­ly­se und dem Opti­mis­mus des revo­lu­tio­nä­ren Enga­ge­ments. Man­del bilan­zier­te wie folgt: „Ihr kennt alle die schar­fen Wor­te von Karl Marx, dass das Kapi­tal auf die Welt gekom­men ist, beschmutzt und befleckt mit Blut und Dreck, und wenn ihr die Geschich­te des Ursprungs des Kapi­tals kennt, wenn ihr wisst, wie eine gera­de Linie geht von den Skla­ven­hal­tern und den Skla­ven­trans­por­ten bis zu den Finan­ziers der ers­ten gro­ßen Tex­til­fa­bri­ken in Frank­reich und Eng­land, dann wisst ihr, dass die­se Wor­te von Karl Marx kei­ne Über­trei­bung und kei­ne roman­ti­sche Ver­un­glimp­fung, son­dern den Aus­druck der his­to­ri­schen Wahr­heit dar­stel­len. Heu­te erle­ben wir, wie das Kapi­tal auch unter­geht in der­sel­ben Form, wie es ent­stan­den ist, das heißt, be- schmutzt von Blut und Dreck, indem es ver­sucht, größ­te Gräu­el in welt­wei­tem Aus­maß gegen all die­je­ni­gen Völ­ker zu bege­hen, die den Kampf gegen das Kapi­tal auf­ge­nom­men haben. Aber die­se Gräu­el sind nutz­los, das Kapi­tal ist zum Tode ver­ur­teilt. Unse­re Pflicht ist es, nicht pas­si­ve Beob­ach­ter die­ses his­to­ri­schen Pro­zes­ses zu sein, son­dern uns dar­in ein­zu­schal­ten.“23

Mei­ne ers­te per­sön­li­che Begeg­nung mit Man­del hat­te ich 1971 als 22jähriger in der Gar­de­ro­be des Otto-Suhr-Insti­tuts in West­ber­lin. Nach einem Semi­nar mit Man­del zur „Über­gangs­ge­sell­schaft“, an dem zwei­hun­dert Stu­die­ren­de teil­ge­nom­men hat­ten, woll­ten mei­ne Freun­din und ich, noch tief beein­druckt von Vor­trag und Dis­kus­si­on, unse­re Män­tel in der Gar­de­ro­be abho­len. In dem ansons­ten lee­ren Raum stand nur noch – Ernest Man­del. Wir waren eini­ger­ma­ßen ver­un­si­chert. Man­del ging auf uns zu, stell­te sich vor und gab uns die Hand.

Am 23. Sep­tem­ber 1978 tra­fen sich in Oos­ten­de kon­spi­ra­tiv Ernest Man­del und der zukünf­ti­ge Mul­ti­mil­lio­nen­er­be eines Ziga­ret­ten­im­pe­ri­ums, der damals mit der Vier­ten Inter­na­tio­na­le sym­pa­thi­sier­te. Ein befreun­de­ter Ber­li­ner Anwalt und ich waren mit von der Par­tie. Bespro­chen wer­den soll­te, wie der jugend­li­che Erbe mit dem ihm bald anver­trau­ten Indus­trie­kon­zern umge­hen soll­te und wel­che Ideen für ers­te zu finan­zie­ren­de revo­lu­tio­nä­re Pro­jek­te es geben wür­de.24 Beim ers­ten The­ma plä­dier­te Man­del für den sofor­ti­gen Ver­kauf des Unter­neh­mens. Er begrün­de­te dies damit, dass ein Lin­ker an der Spit­ze eines sol­chen Kon­zerns sei­nes Lebens nicht sicher sein könn­te. Kurz dar­auf ver­fuhr der Erbe so. Bei den zu finan­zie­ren­den Pro­jek­ten hat­te ich die zuge­ge­be­ner­ma­ßen klein­krä­me­ri­sche Idee des Kaufs einer Dru­cke­rei für revo­lu­tio­nä­re Pam­phle­te. Ernest Man­dels Vor­schlag lau­te­te: Auf­kauf einer inter­na­tio­na­len Flug­li­nie. Bei die­ser soll­te dann einer­seits busi­ness as usu­al gel­ten, ande­rer­seits soll­ten die in Sachen Welt­re­vo­lu­ti­on wich­ti­gen Flug­rei­sen „für unse­re Genos­sen“ gra­tis sein. Der Vor­schlag für ein frü­hes miles & more-Pro­gramm wur­de – soweit ich weiß – nicht realisiert.

Die­se Debat­ten über gro­ße „Inves­ti­tio­nen“ in die revo­lu­tio­nä­re Sache fan­den in einer Zeit statt, in der sich Ernest Man­del in außer­or­dent­lich pre­kä­ren finan­zi­el­len Ver­hält­nis­sen befand. Ähn­lich wie im Fall des Wider­spruchs zwi­schen per­sön­li­chen Publi­ka­ti­ons­wün­schen und der Orga­ni­sa­ti­ons­ar­beit sah Man­del jedoch sei­ne eige­ne mate­ri­el­le Repro­duk­ti­on als sekun­där und der „revo­lu­tio­nä­ren Sache unter­ge­ord­net“ an.25

Ernest Man­del sag­te von sich selbst, er sehe viel durch „die rosa­ro­te Bril­le“. Sein Glau­be an den Men­schen und an des­sen Fähig­keit zu sozia­lem Ver­hal­ten und zu eman­zi­pa­ti­ver Revol­te bestimm­te sein Enga­ge­ment. Eine sol­che Ein­stel­lung dürf­te cha­rak­te­ris­tisch sein für Revo­lu­tio­nä­re. Es war aus­ge­rech­net der „prag­ma­ti­sche“ W. I. Lenin, der pos­tu­lier­te: „Ein Revo­lu­tio­när muß träu­men kön­nen“. Doch Man­dels „rosa­ro­te Bril­le“ trug auch zu „blin­den Fle­cken“ und gra­vie­ren­den Fehl­ein­schät­zun­gen bei.

Die von Trotz­ki über­nom­me­ne Cha­rak­te­ri­sie­rung der Sowjet­uni­on als „dege­ne­rier­ter Arbei­ter­staat“ und die Bezeich­nung ande­rer nicht­ka­pi­ta­lis­ti­scher Gesell­schaf­ten wie Chi­na und DDR als „büro­kra­ti­sier­te Arbei­ter­staa­ten“ oder als „Über­gangs­ge­sell­schaf­ten“ beinhal­te­te zwar for­mal, dass eine poli­ti­sche Revo­lu­ti­on mit der Durch­set­zung eines demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus eben­so mög­lich sei wie eine kapi­ta­lis­ti­sche Restau­ra­ti­on. Indem der grund­le­gen­de Cha­rak­ter die­ser Gesell­schaf- ten jedoch posi­tiv besetzt war und als fort­schritt­lich cha­rak­te­ri­siert wur­de, und indem das Moment der jahr­zehn­te­lan­gen Erstar­rung die­ser Gesell­schaf­ten und der durch und durch kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Poli­tik der jeweils herr­schen­den Nomen­kla­tur unter­be­lich­tet wur­de, wur­den poli­ti­sche Fehl­ein­schät­zun­gen begüns­tigt. Der Ein­marsch der Sowjet­uni­on in Afgha- nistan im Dezem­ber 1979 wur­de von Man­del kaum und von der IV. Inter­na­tio­na­le nicht kri­ti­siert bzw. die For­de­rung nach einem Abzug der sowje­ti­schen Trup­pen aus Afgha­ni­stan wur­de von bei­den abge­lehnt. Dies trug im übri­gen zum Aus­tritt von Tariq Ali aus der IV. Inter­na­tio­na­le bei.26

Die Ein­zig­ar­tig­keit der Ver­nich­tung des jüdi­schen Vol­kes und die beson­de­re Bedeu­tung des deut­schen Natio­nal­so­zia­lis­mus hat Man­del lan­ge Zeit nicht wahr­ge­nom­men. Sein 1986 in Lon­don erschie­ne­nes Buch The Mea­ning of the Second World War [dt.: Der Zwei­te Welt­krieg] erwähnt den Holo­caust eher am Ran­de. Erst in der deut­schen Fas­sung von 1991 gab es – auch auf mein Drän­gen hin – ein ergän­zen­des Kapi­tel zum „His­to­ri­ker­streit“, in dem erst­mals die Sin­gu­la­ri­tät von Ausch­witz umfas­send her­vor­ge­ho­ben wur­de.27

Die damit ver­bun­de­ne unter­schied­li­che Sicht­wei­se ver­stärk­te sich mit der „Wen­de“. Sie war über­la­gert von der bereits skiz­zier­ten Ein­schät­zung, die Sowjet­uni­on, DDR und Chi­na sei­en „defor­mier­te“ oder „dege­ne­rier­te Arbei­ter­staa­ten“, in denen eine „poli­ti­sche Revo­lu­ti­on“ zur Durch­set­zung einer sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft auf der Tages­ord­nung stün­de. Man­del sah in den Ereig­nis­sen 1989 bis 1991 in der UdSSR, DDR und Mit­tel- und Ost­eu­ro­pa fast aus­schließ­lich die Chan­ce zur Durch­set­zung eines authen­ti­schen Sozia­lis­mus. Die Gefah­ren, die mit einer „deut­schen Ein­heit“ ver­bun­den waren, igno­rier­te er weit­ge­hend. Die Paro­le „Nie wie­der Deutsch­land“, der ich mich 1990 ver­bun­den fühl­te und mit der im Juni 1990 für eine Demons­tra­ti­on von 20.000 Men­schen gewor­ben und vor einem erstar­ken­den, impe­ria­lis­ti­schen Deutsch­land gewarnt wur­de, lehn­te Man­del strikt ab. Noch 1993 schrieb er mit Blick auf die Debat­te zur „deut­schen Ein­heit“: „Hin­ter unse­rer Dif­fe­renz steckt ein inter­es­san­tes Pro­blem: der Unter­schied zwi­schen Natio­na­lis­mus (den wir als reak­tio­när bekämp­fen) und Natio­nal­ge­fühl, Iden­ti­fi­zie­rung mit der Nati­on, das fort­schritt­lich ist.“28

In Man­dels Buch über Gor­bat­schow heißt es kate­go­risch: „Man soll­te die Hypo­the­se der Restau­ra­ti­on des Kapi­ta­lis­mus in der Sowjet­uni­on aus­klam­mern. Wer annimmt, dass der libe­ra­le Flü­gel der Büro­kra­tie aus einer Restau­ra­ti­on des Kapi­ta­lis­mus Nut­zen zie­hen könn­te, ver­kennt … die weit­rei­chen­den Pri­vi­le­gi­en der sowje­ti­schen Büro­kra­tie, die bei einer sol­chen Ent­wick­lung viel mehr ver­lie­ren als gewin­nen wür­de.“29

Inzwi­schen kann nicht bestrit­ten wer­den, dass die füh­ren­de Kraft bei der Restau­ra­ti­on des Kapi­ta­lis­mus in der Sowjet­uni­on bzw. in Russ­land, in den mit­tel- und ost­eu­ro­päi­schen Staa­ten, in Chi­na und in Viet­nam jeweils aus dem Zen­trum der vor­mals Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei­en kommt. Die Pri­vi­le­gi­en, die die­se Schicht in den nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten genos­sen, konn­ten nicht nur in die kapi­ta­lis­ti­sche Ära hin­über­ge­ret­tet wer­den. Viel­fach haben die Ex-KP-Büro­kra­ten und heu­ti­gen „Olig­ar­chen“ grö­ße­re Pri­vi­le­gi­en als vor der Wen­de. Die DDR bzw. die neu­en Bun­des­län­der in der BRD stel­len nur inso­fern einen Son­der­fall dar, als es hier der ehe­ma­li­gen SED-Eli­te zunächst ver­wehrt wur­de, die­sen Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess mit ähn­lich hohem per­sön­li­chem Ein­satz mit­zu­ge­stal­ten und an ihm teil­zu­ha­ben. Auf die­se Wei­se kam es zu einem „Son­der­weg“, der jedoch bis­her zumin­dest auf Ebe­ne der Bun­des­län­der Ber­lin und Meck­len­burg-Vor­pom­mern ähn­li­che Er- geb­nis­se zei­tigt wie wir die­se aus Russ­land, Mit­tel- und Ost­eu­ro­pa und Chi­na kennen.

Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Hans-Diet­rich Gen­scher begrün­de­te 1972 das Ein­rei­se­ver­bot für Man­del – das wie bereits erwähnt sechs Jah­re auf­recht erhal­ten wur­de – so: „Die Ent­schei­dung über die Zurück­wei­sung (Man­dels beim Zwi­schen­stopp auf dem Flug­ha­fen Frankfurt/M. und dann das Ein­rei­se­ver­bot, W. W.) galt nicht dem mar­xis­ti­schen Wis­sen­schaft­ler Man­del. Sie galt viel­mehr dem Revo­lu­tio­när Man­del.“30

Heu­te sind die Erkennt­nis­se des mar­xis­ti­schen Wis­sen­schaft­lers Man­del von grö­ße­rer Bedeu­tung als die eine und ande­re Posi­ti­on des Revo­lu­tio­närs Man­del. So trug Man­del zur Wei­ter­ent­wick­lung der „Theo­rie der lan­gen Wel­len“ der Kon­junk­tur bei. Wäh­rend frü­he­re Ver­tre­ter die­ser Theo­rie wie Par­vus, N. D. Kond­ra­tieff und J. Schum­pe­ter von einem Auto­ma­tis­mus aus­gin­gen, wonach auf lan­ge (20 bis 30 Jah­re wäh­ren­de) Wel­len mit expan­si­vem Grund­ton und hohen Wachs- tums­ra­ten sol­che (unge­fähr eben­so lan­ge) mit depres­si­vem Grund­ton und nied­ri­gen Wachs­tums­ra­ten fol­gen – und die dann wie­der­um erneut in eine lan­ge Wel­le mit hohen Wachs­tums­ra­ten über­ge­hen wür­de – , beton­te Man­del, dass eine neue expan­si­ve Pha­se kei­ner inne­ren öko­no­mi­schen Logik fol­gen wür­de. Es sei­en in der Regel außer­öko­no­mi­sche, poli­ti­sche Aspek­te gewe­sen, die zu einem sol­chen Umschlag bei­getra­gen hät­ten. So nann­te er u. a. die Nie­der­la­gen der Arbei­ter­be­we­gung im Faschis­mus (in Deutsch­land und Ita­li­en), den Zwei­ten Welt­krieg und die damit zusam­men­hän­gen­de mas­siv erhöh­te Aus­beu­tungs­ra­te als sol­che poli­tisch beding­ten Fak­to­ren am Beginn der lan­gen Wel­le nach dem II. Welt­krieg und als ratio­na­le Erklä­rung des „Wirt­schafts­wun­ders“.

Inter­pre­tiert man die Ereig­nis­se im Gefol­ge der Wen­de 1989-1991 als eine Restau­ra­ti­on des Kapi­ta­lis­mus in Gebie­ten, in denen rund 1,5 Mil­li­ar­den Men­schen und damit ein Vier­tel der Welt­be­völ­ke­rung leben und in denen sich gewal­ti­ge, für die kapi­ta­lis­ti­sche Pro­duk­ti­on wich­ti­ge Res­sour­cen befin­den, dann gab es am Ende der letz­ten lan­gen Wel­le mit depres­si­vem Grund­ton erneut weit­rei­chen­den poli­ti­sche Verän- derun­gen, die einen neu­en Auf­schwung des Kapi­ta­lis­mus mög­lich machen wür­den. Mit­te 1991 schrieb Ernest Man­del in einem Brief: „Die Fra­ge, die Du bezüg­lich der mit­tel­fris­ti­gen öko­no­mi­schen Per­spek­ti­ve stellst, ist die Gret­chen­fra­ge für die kom­men­den Jah­re. Ich bin mit Dir einer Mei­nung, dass sie eng ver­bun­den ist mit jener der Restau­ra­ti­on des Kapi­ta­lis­mus in der UdSSR (Ost­eu­ro­pa ist zu klein, um eine neue expan­si­ve lan­ge Wel­le abzu­si­chern) und deren tota­ler Inte­gra­ti­on in den Welt­markt. Eine ers­te Ten­denz in die­sem Sin­ne hat gewiß begon­nen. Aber es liegt ein wei­ter Weg zwi­schen Anfang und Ende.“31

Inzwi­schen ist die Restau­ra­ti­on des Kapi­ta­lis­mus in Russ­land eine Tat­sa­che. Vor allem kam es auch zur Restau­ra­ti­on des Kapi­ta­lis­mus in Chi­na, was zum Zeit­punkt der zitier­ten Debat­te kaum The­ma war. Anfang der neun­zi­ger Jah­re ahn­te nie­mand, dass der neue – bereits stark von west­li­chen Kon­zer­nen durch­setz­te – Kapi­ta­lis­mus in Chi­na sich bald als expan­si­ver als der rus­si­sche erwei­sen würde.

Inso­fern spricht eini­ges dafür zu prü­fen, inwie­weit wir es heu­te mit einer neu­en polit­öko­no­mi­schen Welt­la­ge zu tun haben. Ganz offen­sicht­lich gibt es zwei sich über­schnei­den­de und wider­sprüch­li­che Pro­zes­se: Auf der einen Sei­te haben wir wei­ter­hin die nied­ri­gen Wachs­tums­ra­ten und die tie­fen Kri­sen­er­schei­nun­gen im „klas­si­schen Kapi­ta­lis­mus“ in Nord­ame­ri­ka, West­eu­ro­pa und in den USA. Auf der ande­ren Sei­te gibt es seit rund ein­ein­halb Jahr­zehn­ten hohe Wachs­tums­ra­ten in den zum Kapi­ta­lis­mus trans­for­mier­ten Gesell­schaf­ten von Mit­tel- und Ost­eu­ro­pa und vor allem in China.

Man­del been­de­te sei­nen Bei­trag in unse­rem gemein­sam ver­fass­ten und 1977 erschie­ne­nen Buch Ende der Kri­se oder Kri­se ohne Ende? mit Sät­zen, die in vie­ler Hin­sicht auch heu­te Gül­tig­keit haben: „Die Wirt­schafts­ent­wick­lung der letz­ten Jah­re bestä­tigt, dass das kapi­ta­lis­ti­sche Sys­tem … sich, his­to­risch gese­hen, im Todes­kampf befin­det. Doch wir wis­sen, dass Todes­kampf noch nicht auto­ma­tisch Ver­schwin­den bedeu­tet … Wenn … nicht recht­zei­tig eine revo­lu­tio­nä­re Arbei­ter­par­tei auf­ge­baut wird, eine Par­tei mit Mas­sen­ein­fluß …, gleich­zei­tig jedoch die gesell­schaft­lich-öko­no­mi­schen Wider­sprü­che immer explo­si­ver wer­den, dann ist es mög­lich, dass die impe­ria­lis­ti­sche Bour­geo­sie … ein zwei­tes Mal zu ‚Heil­mit­teln‘ Zuflucht nimmt, mit denen sie die Kri­se der drei­ßi­ger Jah­re ‚lös­te‘. Sie wür­de sich dann bemü­hen, der Arbei­ter­klas­se welt­weit schwe­re Nie­der­la­gen bei­zu­brin­gen, die Pro­fi­tra­te mit Hil­fe der ver­stärk­ten Aus­beu­tung der Arbei­ter und einer erneut ver­stärk­ten Rüs­tung lang­fris­tig anzu­he­ben und ver­su­chen, die gesell­schaft­li­che Sta­bi­li­tät durch einen ‚star­ken Staat‘, wenn nicht durch eine blu­ti­ge Dik­ta­tur zu erlan­gen. Sie wür­de wie­der Kurs auf Krieg neh­men. Das wären – in der Epo­che der ato­ma­ren und bio­lo­gi­schen Waf­fen – noch unend­lich kata­stro­pha­le­re ‚Heil­mit­tel‘, als sie es zu Zei­ten Hit­lers waren. Die all­ge­mei­ne Kri­se der inter­na­tio­na­len kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schaft zeigt uns immer wie­der die Aktua­li­tät des his­to­ri­schen Dilem­mas: Sozia­lis­mus oder Bar­ba­rei!“32

Mit dem Namen Ernest Man­del und sei­nem Enga­ge­ment bleibt die Über­zeu­gung ver­bun­den, dass es sich lohnt, der kapi­ta­lis­ti­schen Bar­ba­rei zu trot­zen und sich für eine alter­na­ti­ve, sozia­lis­ti­sche, demo­kra­ti­sche Gesell­schaft in Wort und Tat einzusetzen.


* [Die­ser Text wur­de am 1. Novem­ber 2005 ver­fasst. Es ist unklar, ob und wo er außer auf der Home­page von Win­fried Wolf ver­öf­fent­licht wur­de. Offen­sicht­li­che Feh­ler haben wir kor­ri­giert. W. A. 23.6.2023]


End­no­ten

1 Eine rela­tiv umfas­sen­de Biblio­gra­phie mit 46 deutsch­spra­chi­gen Büchern von Ernest Man­del fin­det sich in: Gil­bert Ach­car (Hg.), Gerech­tig­keit und Soli­da­ri­tät, Ernest Man­dels Bei­trag* zum Mar­xis­mus, Köln (Neu­er ISP-Ver­lag) 2003, S. 271 ff.
2 Win­fried Roth, „Theo­re­ti­ker der glo­ba­len Kri­sen – Ernest Man­del zum zehn­ten Todes­tag“, Deutsch­land­funk Kul­tur, 20. Juli 2005, 19.30 h. 
3 Zitiert in Deutsch­land­funk Kul­tur, a. a. O., Manuskript.
4 Aktu­el­le Stun­de Deut­scher Bun­des­tag, 6. Wahl­pe­ri­ode – 174. Sit­zung, Bonn, Mitt­woch, den 1. März 1972, Pro­to­koll Sei­ten 10083 ff. 
5 Ernest Man­del, Ein­füh­rung in die mar­xis­ti­sche Wirt­schafts­theo­rie, Frankfurt/M. (Ver­lag Neue Kri­tik) 1967.
6 Ernest Man­del / Win­fried Wolf, Welt­wirt­schafts­re­zes­si­on und BRD-Kri­se 1974/75, Frankfurt/M. (ISP-Ver­lag) 1976; Ernest Man­del / Win­fried Wolf, Ende der Kri­se oder Kri­se ohne Ende?, Ber­lin (Wagen­bach Ver­lag) 1977; Ernest Man­del / Win­fried Wolf, Cash, Crash & Cri­sis, Pro­fit­boom – Bör­sen­krach und Wirt­schafts­kri­se, Ham­burg (Rasch und Röh­ring) 1988.
7 Ernest Man­del, Mar­xis­ti­sche Wirt­schafts­theo­rie, Frankfurt/M. (Suhr­kamp) 1970, S. 16.
8 A. a. O., S. 141.
9 Karl Marx, Das Kapi­tal, Ers­ter Band, MEW, Bd. 23, Ber­lin (Dietz Ver­lag) 1972, S. 779.
10 Ernest Man­del, „Die Marx­sche Theo­rie der ursprüng­li­chen Akku­mu­la­ti­on und die Indus­tria­li­sie­rung der Drit­ten Welt“, in: Fol­gen einer Theo­rie – Essays über Das Kapi­tal,* Frankfurt/M. (Suhr­kamp) 1971, S. 77. 
11 Ernest Man­del, Der Sturz des Dol­lars, Eine mar­xis­ti­sche Ana­ly­se der Wäh­rungs­kri­se, West­ber­lin (Edi­ti­on Prin­ki­po) 1973 (der zitier­te Auf­satz trägt das Datum 1.12.1968), S. 145. 
12 Ernest Man­del, Die EWG und die Kon­kur­renz Euro­pa - Ame­ri­ka, Frankfurt/M. (Euro­päi­sche Ver­lags­an­stalt) 1969, S. 51. In der­sel­ben Schrift fin­det sich auch eine Pas­sa­ge, die eben­so typisch wie fatal ist für die mar­xis­ti­sche Posi­ti­on in die­ser Zeit: „Aus all den Über­le­gun­gen soll­te man kei­nes­wegs den Schluß zie­hen, die Arbei­ter­be­we­gung West­eu­ro­pas habe ein In ter­es­se dar­an, den Pro­zeß der inter­na­tio­na­len Kapi­tal­ver­flech­tung zu brem­sen … Ers­tens wäre es sowie­so uto­pisch, der Ent­wick­lung der Pro­duk­tiv­kräf­te ent­spre­chen­de wirt­schaft­li­che Ver­än­de­run­gen ver­hin­dern zu wol­len … Und zwei­tens liegt die his­to­ri­sche Rol­le der Arbei­ter­be­we­gung … kei­nes­wegs dar­in, sich die­ser oder jener Inter­es­sens­grup­pe des Groß­bür­ger tums … zu unter­wer­fen … Der inter­na­tio­na­len Kapi­tal­ver­flech­tung muß die Alter­na­ti­ve der his­to­ri­schen Not­wen­dig­keit eines sozia­lis­tisch ver­ein­ten Euro­pa ent­ge­gen­ge­setzt wer­den und nicht jene des Rück­falls in bür­ger­li­che Klein­staa­te­rei.“ (S. 99). Man­del argu­men­tiert hier wie teil­wei­se Marx und Engels im 19. Jahr­hun­dert, mit dem Unter­schied, dass die Ent­wick lung der Pro­duk­tiv­kräf­te zu die­ser Zeit über­wie­gend fort­schritt­lich war, wohin­ge­gen sie im 20. Jahr­hun­dert über­wie­gend destruk­ti­ve Ten­den­zen zum Aus­druck bringt. In der­sel­ben Schrift von E. Man­del fin­det sich dann aller­dings auch die fol­gen­de Pas­sa­ge: „Das Fort­schrei­ten der inter­na­tio­na­len Kapi­tal­ver­flech­tung schwächt unver­meid­lich das wirt­schaft­li­che Po ten­ti­al der Gewerk­schaf­ten. Die­se Schwä­chung ist nur rela­tiv, solan­ge die inter­na­tio­na­le Kapi­tal­ver­flech­tung noch in ihrem Anfangs­sta­di­um steht. Sie wird abso­lut, sobald die­se Ver­flech­tung einen bestimm­ten Punkt erreicht hat, an dem Quan­ti­tät in Qua­li­tät umschlägt, d. h. an dem sich die ent­schei­den­den Eigen­tums­po­si­tio­nen der ent­schei­den­den Pro­duk­ti­ons­mit­tel über meh­re­re oder alle EWG-Mit­glied­staa­ten ver­tei­len. Es ist offen­sicht­lich, dass die Lüt­ti­cher Stahl­ar­bei­ter die Streik­waf­fe kaum noch erfolg­reich im Wirt­schafts­kampf anwen­den könn­ten, wenn sich die Eigen­tü­mer über sechs Län­der ver­tei­len.“ (S. 100). Dar­auf lässt sich nur mit einem „C´est ca!“ ant­wor­ten, wie es Ernest oft tat. Wobei es dann jedoch unver­ständ­lich ist, wes­halb man einen Pro­zess, der die Arbei­ter­klas­se und die Gewerk­schaf­ten schwächt, nicht kri­ti­sie­ren und sich die­sem nicht ent­ge­gen­stel­len soll. Immer­hin gab es dut­zend­fach Anläs­se, dies kon­kret zu tun: so im Fall der vie­len Erwei­te­rungs­run­den der EWG/EG/EU oder im Fall des Maas­tricht-Ver­trags (von 1992). Und in eini­gen Län­dern, so in den skan­di­na­vi­schen Staa­ten und in Öster­reich, gab es eine star­ke, auch fort­schritt­lich gepräg­te Bewe­gung gegen einen EWG/E­G/EU-Bei­tritt. Zur Debat­te EU-Ent­wick­lung vgl. Win­fried Wolf, Fusi­ons­fie­ber, Oder: Das gro­ße Fres­sen, Köln (Papy­Ros­sa) 2001, S. 101 ff. 
13 Ernest Man­del, Der Spät­ka­pi­ta­lis­mus, Frankfurt/M (Suhr­kamp). 1972, S. 272 u. S. 286. 
14 So ent­stand die Schrift Ernest Man­dels, Ein­füh­rung in die mar­xis­ti­sche Wirt­schafts­theo­rie, aus Refe­ra­ten, die Ernest 1963 auf einem Schu­lungs­lehr­gang der fran­zö­si­schen links­so­zia­lis tischen Par­ti Socia­list Uni­fié (PSU) hielt, die 1960 aus dem Zusam­men­schluss von drei sozia­lis­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen her­vor­ge­gan­gen war. Sie­he Anmer­kung 5. 
15 Das Buch wur­de von Wil­ly Boepp­le, einem ver­dien­ten Kom­mu­nis­ten und alten Freund von Ernest Man­del, über­setzt. Ich durf­te 1979 als dama­li­ger ISP-Ver­ant­wort­li­cher die Her­aus­ga be der ers­ten Auf­la­ge betreu­en und das Lek­to­rat besor­gen. Inzwi­schen gibt es die sieb­te Auf­la­ge: Ernest Man­del, Ein­füh­rung in den Mar­xis­mus, Köln ( Neu­er ISP Ver­lag) 2002.
16 Ernest .Man­del, Ein schö­ner Mord, Sozi­al­ge­schich­te des Kri­mi­nal­ro­mans, Frankfurt/M. (Athe­nä­um) 1987. Gise­la Man­del schrieb mir dazu am 29.8.1978: „Als ich vor 15 Jah­ren vom SDS zur Vier­ten nach Bel­gi­en ging, war ich ent­setzt zu sehen, dass Ernest sich nachts um 2 h … mit Kri­mis vor dem Schla­fen­ge­hen eine hal­be Stun­de erhol­te. Ich hat­te nie einen gele sen. Das tat man im Ber­li­ner SDS nicht. Inzwi­schen bin ich wie Ernest … ‚pro­fes­sio­nel­ler Kri­mi­le­ser‘… Ich könn­te Dir in Brüs­sel eine Kar­tei von rund 60 Kri­mi-Schrift­stel­lern anbie­ten … Wenn Ernest über 80 wird (denn bis dahin hat er bereits genü­gend Bücher­plä­ne), so wird er ein mate­ria­lis­ti­sches Buch über Goya und eine Sozio­lo­gie des Kri­mis schrei­ben. Goya fin­de ich eine duf­te Idee. Aber das mit den Kri­mis mag ihm ger­ne ein ande­rer Mar­xist vor­her abnehmen.“ 
17 Er schrieb dazu in einem Brief an mich, datiert auf den 4.3.1977: „Ich habe mehr Ver­ständ­nis für Dei­ne Schwie­rig­kei­ten als Du das glau­ben könn­test. Ich habe mich näm­lich mit einem ganz ähn­li­chen Pro­blem kon­fron­tiert gese­hen und sehr dar­un­ter gelit­ten. Im Jah­re 1947 brach ich mein Uni-Stu­di­um abrupt ab um (23 Jah­re alt) in der Füh­rung der Inter­na­tio­na­le * haupt­amt­lich tätig zu sein. Mei­ne Dok­tor­ar­beit habe ich dann genau 25 (!) Jah­re spä­ter fer­tig­ge­stellt … Mein ers­tes Buch brauch­te genau 10 (!) Jah­re Arbeit ‚neben­bei‘ (neben der Org.- Tätig­keit), bevor es gedruckt wur­de (1952-1962), und ich habe mich oft gefragt … ob sich die Org.-Routine wohl lohnt, und ob ich nicht, auch für die Inter­na­tio­na­le, mehr hät­te erreicht, wenn ich zwei oder drei Bücher wie das ‚Trai­té‘ (die ‚Wirt­schafts­theo­rie‘, W. W.), z. B. über die Über­gangs­ge­sell­schaf­ten und über die Revo­lu­tio­nen in der Drit­ten Welt geschrie­ben hät­te.* Heu­te … bin ich [in]dessen über­zeugt, dass ich rich­tig gewählt habe.“
18 Nues­tra Indus­tria, 6/1964, Havanna. 
19 „Una prof­ecia del Ché“, in: Jean Dani­el, Escor­pi­on, Bue­nos Aires 1964.
20 Ernest Man­del, Die deut­sche Wirt­schafts­kri­se, Leh­ren der Rezes­si­on 1966/67, Frankfurt/M. (EVA) 1969, S. 56. 
21 Der Kampf des viet­na­me­si­schen Vol­kes und die Glo­bal­stra­te­gie des Impe­ria­lis­mus, Inter­na­tio­na­ler Viet­nam-Kon­greß West­ber­lin, West­ber­lin (SDS West­ber­lin) 1968, S. 124 ff. 
22 A.a.O., S. 160.
23 A.a.O., S. 134.
24 Nach: Brief von E. M. an mich vom 16.8.1978.
25 In zwei Brie­fen an mich beschrieb Gise­la Man­del, Man­dels Frau, die­se Situa­ti­on. Am 16.4.1977 schrieb sie: „Wir, d. h. Ernest und ich, ste­hen finan­zi­ell schlecht. … Ihr mögt das nicht glau­ben, aber es ist eine Tat­sa­che, da unse­re Pri­vat­fi­nan­zen direkt mit denen der IV. liiert sind, so daß ich jetzt manch­mal noch nicht ein­mal genü­gend Geld habe, um zu tan ken.“ Am 10.5. 1977 hieß es: „Ich bin nun meist in Paris und habe, ohne daß er (Ernest M., W. W.) es weiß, für mor­gens sehr früh und abends spät Jobs als Putz­frau ange­nom­men mit 7 Mark die Stun­de, um uns, d. h. mich ohne sei­ne Unter­stüt­zung, eini­ger­ma­ßen über Was­ser zu hal­ten. Er wun­dert sich zwar, wie wenig ich aus­ge­be von dem, was er mir gibt, aber ich fin­de immer eine Aus­re­de … Bis jetzt haut das hin, aber irgend­wann wird er dahin­ter kom­men, und ich bin sicher, daß es dann in 13 Jah­ren zum ers­ten Mal einen per­sön­li­chen Streit geben wird. Bis jetzt waren alle politisch.“ 
26 Am 31.10.1980 schrieb Man­del: „Zu Afgha­ni­stan: Mei­ne Posi­ti­on bleibt unver­än­dert: gegen Ein­zug (Ein­marsch, W. W.), gegen Abzug, wie Trotz­ki zu Finn­land. Du unter­schätzt die Bür ger­kriegs­di­men­si­on. Wenn heu­te Abzug, dann Dja­kar­ta, d. h. alle Lin­ke, ob pro oder anti Mos­kau wer­den umge­bracht. Das bestä­ti­gen auch die paar afgha­ni­schen Genos­sen, die wir ge won­nen haben, obwohl sie im übri­gen eher Dei­ner Posi­ti­on zunei­gen.“ Vor allem Tariq Ali beton­te in sei­ner Kri­tik an die­ser Posi­ti­on der IV. Inter­na­tio­na­le, dass der sowje­ti­sche Ein­marsch den isla­mi­schen Fun­da­men­ta­lis­mus stei­gern müss­te. Ich ant­wor­te­te in einem Brief an E. M. vom 9.11.1980: „Ich bin mir weder sicher, ob es bei einem sowje­ti­schen Abzug tat­säch­lich zu einem ‚Dja­kar­ta‘ kom­men muß. Vor allem bin ich mir nicht sicher, ob ein sol­ches ‚Dja­kar­ta‘ nicht gera­de durch Mos­kau her­bei­ge­führt wird. … Im übri­gen gilt: Wenn man den Ein marsch ver­ur­teilt und sei­ne guten Grün­de dafür hat, muss man auch den Abzug fordern.“ 
27 Ernest Man­del, Der Zwei­te Welt­krieg, Frankfurt/M. (ISP-Ver­lag) 1991. Brief W. W. an Man­del vom 5.2.1989 und Ant­wort von E. M. an W. W. vom 20.2.1989.
28 Brief E. M. an W. W. vom 8.3.1993. In mei­ner Ant­wort (Brief vom 13.6.1993) heißt es: „Das stößt bei mir auf hef­ti­gen Wider­spruch, soweit es ein impe­ria­lis­ti­sches Land und soweit es Deutsch­land betrifft. … Was soll dar­an fort­schritt­lich sein, wenn jemand in Deutsch­land erklärt, er ‚iden­ti­fi­zie­re sich mit der deut­schen Nati­on‘. Ganz abs­trakt ist denk­bar, dass er meint, er lie­be die deut­sche Kul­tur, die Land­schaft in Deutsch­land etc. … Im kon­kre­ten gesell­schaft­li­chen Kon­text jedoch wird jedes Natio­nal­ge­fühl in Deutsch­land sich als reak­tio­när erwei sen. … Ich gebe zu beden­ken, dass bei den Fol­gen der Wie­der­ver­ei­ni­gung, den öko­no­mi­schen und den natio­nal-reak­tio­nä­ren, wir, rück­bli­ckend betrach­tet, sicher nicht über­trie­ben haben.“
29 Ernest Man­del, Das Gor­bat­schow-Expe­ri­ment, Zie­le und Wider­sprü­che, Frankfurt/M. (Athe­nä­um) 1989, S. 19. Dort heißt es auch: „Eine Revo­lu­ti­on von oben (zur Restau­ra­ti­on des Ka pita­lis­mus) wür­de also bedeu­ten, dass sich die herr­schen­de Klas­se oder Klas­sen­frak­ti­on selbst liqui­diert. Das hat es in der Geschich­te noch nie gege­ben und das wird auch in Zukunft nicht ein­tre­ten.“ (Eben­da, S. 272.)
30 Bun­des­tags­pro­to­koll vom 1. März 1972.
31 Brief E. M. an W. W. vom 26.6.1991.
32 Ernest Man­del / Win­fried Wolf, Ende der Kri­se oder Kri­se ohne Ende?, a.a.O., S. 110 f.


Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Juni 2023
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