Helmut Dahmer
I
In meinem (2022 veröffentlichten) Buch mit dem Titel Trotzki, die Psychoanalyse und die kannibalischen Regime1 geht es um Trotzkis Parteinahme für die Psychoanalyse, genauer: um sein Interesse an der Freud‘schen als einer anderen „Kritischen Theorie“. Dabei handelt es sich weder um ein „harmloses“, noch um ein lediglich literaturhistorisches Thema. Denn sowohl der marxistische Revolutionär als auch der Psychologe des Unbewussten sind gestern wie heute mitnichten „neutrale“ Figuren.
Darum macht es einen Unterschied, ob man über das Verhältnis von Albert Einstein zu Niels Bohr oder auch von Thomas Mann zu Heinrich Mann spricht und schreibt, oder über das zwischen dem Autor der Traumdeutung2 und dem der Geschichte der russischen Revolutionen des Jahres 1917.3 Beide waren, um mit Gemeinsamem zu beginnen, Materialisten und Atheisten, und beide waren ihr Leben lang – als Autoren und als Akteure – umstritten.
Persönlich sind sie sich nicht begegnet, und Freud nahm weder Notiz von Trotzkis Interesse an der Psychoanalyse, noch ist bekannt, dass er irgendwelche Schriften Trotzkis gelesen hätte. Beider Bücher wurden 1933 in Berlin und in anderen Städten des Hitlerreichs verbrannt, während sie in Moskau zur selben Zeit verpönt waren und später jahrelang in deutschen wie in sowjetischen Bibliotheken unter Verschluss gehalten wurden.
Freud und Trotzki waren Zeitgenossen, und sie hatten gemeinsame Gegner, nicht nur Kirche und Monarchie, sondern auch die „massenfeindlichen Massenbewegungen“ und die totalitären (oder „kannibalischen“) Regime, denen der II. Teil des genannten Buches gewidmet ist.
Sprechen wir heute über Freud und Trotzki, so haben wir es zunächst einmal mit dem Resultat zweier Rezeptionsgeschichten zu tun.
Im Fall der Psychoanalyse bestand diese Rezeption in einer sukzessiven Restriktion oder „Revision“ unter gesellschaftlichem und politischem Druck. Die Reduktion der Freud‘schen Kritik unserer Kultur und ihrer Sexualökonomie auf eine Psychotechnik unter anderen vollzog sich im Zeichen ihrer Verwissenschaftlichung, „Medizinalisierung“ (Paul Parin) oder Pragmatisierung.
Im Fall Trotzkis ging es – in der Stalin‘schen Sowjetunion und in der von der Stalin-Führung seit Mitte der 1920er Jahre kontrollierten Kommunistischen Internationale – darum, seine politische Rolle in den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 sowie als Armeeführer im Bürgerkrieg ebenso vergessen zu machen wie die von ihm ins Leben gerufene antistalinistische Linke Opposition.
Im „Westen“ wiederum ging es vor allem darum, seine Mitverantwortung (als Mitglied der bolschewistischen Regierung) für die Ermordung der Zarenfamilie (1918) und für die Niederschlagung des Aufstands von Kronstadt (im März 1921) hervorzuheben und ihn dadurch zu diskreditieren.
In Hitlers europäischem Großreich galt die Psychoanalyse als eine zersetzende „jüdische Wissenschaft“, und im von Stalin beherrschten „Sechstel der Erde“ galten Trotzkis Analysen der Sowjetunion, Hitlerdeutschlands, der chinesischen Revolution (1927 und im Laufe des folgenden Jahrzehnts), sowie des spanischen Bürgerkriegs (1936-39) mehr als ein Vierteljahrhundert lang als konterrevolutionäre, um nicht zu sagen „faschistische“ Literatur. Trotzki selbst, seine Familie und seine Genossinnen und Genossen wurden in den dreißiger Jahren zum Freiwild der Stalin‘schen Geheimpolizei.
Trotz der Bemühungen um eine Rekonstruktion des Originals der Freud‘schen „Sache“, nämlich seiner Kritik der Gegenwarts-Kultur als der Voraussetzung seiner Therapie4 , und trotz der dreibändigen Biographie, mit der Isaac Deutscher vor beinahe 70 Jahren die Wahrheit über Leben und Werk Trotzkis wiederhergestellt hat5, haben wir es also, wenn wir über Trotzki und die Psychoanalyse sprechen, zunächst einmal mit dem Gerücht über beide zu tun, nämlich mit dem Niederschlag der von mächtigen Gegnern in die Welt gesetzten Verfemung ihrer Person sowie der Reduktion ihrer Theorien im Bewusstsein unserer Zeitgenossen.
Der Marxist Trotzki und der Psychoanalytiker Freud hatten gemeinsame Gegner, und der eine wie der andere wurden von diesen Gegnern aus ihren Heimatländern und Wirkungsstätten vertrieben, der eine 1929, der andere 1938. Freud starb nach Beginn des Zweiten Weltkriegs im englischen Exil, und Trotzki wurde ein Jahr später von Stalins Auftragskiller Ramón Mercader in Mexiko erschlagen. Beider Familienangehörige wurden in Hitlers Konzentrationslager-Universum beziehungswei- se in Stalins Archipel GULAG umgebracht; das betraf vier Schwestern Freuds und acht Familienangehörige Trotzkis. Nicht wenige Freud-Schüler fielen den Nazis zum Opfer (ich nenne hier nur Sabina Spielrein und Karl Landauer), während Stalin Tausende von Anhängerinnen und Anhänger Trotzkis während des Massenterrors der Jahre 1936-38 erschießen ließ.
Der Hass, dem Marx und sein Schüler Trotzki ebenso wie Freud und dessen Schülerinnen und Schüler ausgesetzt waren, resultierte (und resultiert) aus dem eigentümlichen Charakter ihrer Theorien und ihrer Entdeckungen. Es handelt sich nämlich bei der Marx‘schen wie bei der Freud‘schen Theorie weder um Natur-, noch um Geisteswissenschaften im üblichen Sinn, sondern um Versuche, einen Ausweg aus der Ausbeutungs-, Illusions-, Kriegs- und Mordgeschichte zu finden, kurz: das Rätsel des Wiederholungszwangs zu lösen.
Beide entwickelten zu diesem Zweck eine neue Art von Wissenschaft, die der Kritik, in der quasi-naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Verfahren – Erklären und Verstehen – kombiniert werden, um den Zwang, den pseudonatürliche Institutionen der Lebens- und Sozialgeschichte auf deren (bewusstlose) Produzenten ausüben, aufzulösen.6
Freud entwickelte seine Psychologie des Unbewussten, indem er zum einen den rätselhaften „Psychoneurosen“ seiner Patientinnen und Patienten nachging und sie als „soziale Leiden“ (Sándor Ferenczi) – also Leiden an der bestehenden Gesellschaft – erkannte und, zum andern, die ebenso „unverständlichen“ menschlichen Träume als zensierte (und darum verschlüsselte) Wunscherfüllungs-Phantasien dechiffrierte. Galt ihm die Seele als ein „Reizbewältigungs-Apparat“, so bestand das Seelenleben der vergesellschafteten Individuen im Austragen der lebenslangen Auseinandersetzung zwischen ihren „asozialen“ Triebwünschen und den ihnen auferlegten schicht- und klassenspezifischen Versagungen.
Von Ernst Haeckels Weiterentwicklung der Darwin‘schen Entwicklungstheorie angeregt, der zufolge die Ontogenese eine verkürzte Rekapitulation der Phylogenese ist, also jedes Individuum die Entwicklung seiner Gattung abgekürzt wiederholt7, entdeckte Freud „Entsprechungen“ (oder Analogien) zwischen den von Ethnologen bei außereuropäischen, vorkapitalistisch organisierten Völkern beschriebenen Institutionen (wie „Totem“ und „Tabu“), den Mythen und Organisationsformen antiker Kulturen sowie europäischen Institutionen der Gegenwart. Vor allem sah er in der (frühkindlich-familialen) Sozialisation eine Wiederholung entscheidender Etappen der Entwicklung frühmenschlicher „Urhorden“.8
Er ging also, um über die im Bann der ältesten Geschichte stehende Gegenwart hinauszukommen, auf deren Vorgeschichte zurück, so, wie er, um das Leiden seiner Patientinnen und Patienten zu verstehen und (nach Möglichkeit) zu lindern, auf deren „Vorgeschichte“, nämlich auf ihre Kindheit Bezug nahm.
Bei der Erforschung der Genese psychischer Störungen wie bei der Fahndung nach dem Sinn von Träumen verfuhr er dialogisch: Der (gegen Öffentlichkeit abgeschirmte) Schutzraum der psychoanalytischen „Kur“ ermöglichte Patient und Therapeut eine Reduktion der sozialmoralischen Zensur, das Aussprechen von Verpöntem, das Zulassen „freier Assoziatio- nen“ (der Sendboten des Verdrängt-Unbewussten) und deren Deutung.
Marx hatte die ökonomischen Theorien der Smith (1776) und Ricardo (1817), vor allem deren Deutung der Natur des „Mehrwerts“ (oder Profits) kritisiert und versucht, die moderne Wirtschaftsgesellschaft durch Vergleiche mit andersartigen historischen Produktionsweisen (der archaischen, der altchinesischen, der griechisch-römischen, der feudalen) zu verstehen und sie auf diese Weise zu historisieren.
Auch bei ihm finden wir also den Rückgang auf die Vergangenheit, auf die Vorgeschichte der Gegenwart, um über diese hinauszukommen. Adressaten seiner Kritik waren weniger die von ihm kritisierten Philosophen und Sozialökonomen als die revolutionären Handwerkerbünde und Gewerkschaften, die lesenden Arbeiter und die sich mit ihnen solidarisierenden Intellektuellen, die er über die sozialdemokratische Presse, über Vorträge, Broschüren und die Erklärungen der von ihm ins Leben gerufenen I. Internationale (1864-72) zu erreichen suchte. Marx, Freud und Trotzki wurden verfolgt, illegalisiert und verjagt als Kritiker der zu ihrer Zeit (und noch heute in weiten Teilen der Bevölkerung der hoch entwickelten Länder, der Russi- schen Föderation und der außereuropäischen Welt) vorherrschenden Ideologien: der traditionellen Menschenbilder, der Religionen und Tabu-Systeme, der Unfähigkeit, Geschichte, Wirtschaft und Politik anders denn als „Schicksal“ zu begreifen.
II
Im Folgenden möchte ich das von Max Horkheimer 1937 – in Kooperation mit Herbert Marcuse entwickelte und in der in Paris erscheinenden Zeitschrift für Sozialforschung vorgestellte – Projekt einer „Kritischen Theorie“ kurz erläutern: Kritik heißt bei Marx wie bei Freud die dialogische Rekonstruktion des Zustandekommens, also der Geschichte von Institutionen, die einmal Überlebenshilfen waren, im Laufe der Zeit aber zu Entwicklungsblockaden (oder Zwangsjacken) geworden sind. Zweck der Kritik ist es allemal, solche obsolet gewordenen Institutionen durch die Aufdeckung ihrer Entstehungsgeschichte, also durch ihre Historisierung, für eine institutionenän- dernde Praxis zu öffnen.
Die Kritik hebt im Reich der Theorie – demonstrativ antizipierend – den Zwang der Institutionen auf, dem die ihnen Unterworfenen (und in sie Eingefügten) unterliegen, solange sie sie für „naturgegeben“ halten. Sie wirkt damit dem Denkverbot entgegen, das bestehende Institutionen gegen Alternativen, gegen Veränderung immunisiert. Kritik ist die Antizipation einer Praxis, die darauf abzielt, obsolet gewordene Institutionen der Lebens- und der Sozialgeschichte abzuschaffen.9
Weder der historische Materialismus, noch die Psychoanalyse entsprechen also dem Typus der technisch orientierten Naturwissenschaften oder demjenigen der (kulturelle Objektiva- tionen [Vergegenständlichungen] überliefernden) Geisteswissenschaften. Sie sind vielmehr Prototypen einer dritten, neuartigen Wissenschaft der Kritik obsoleter Institutionen der Sozial- und der in diese eingebetteten Seelengeschichte.
Die Kritik gilt sozialhistorisch entstandenen Institutionen (wie Familie, Privateigentum, Lohnarbeit und Staat) oder lebensgeschichtlich entstandenen, „privaten“ Institutionen (wie Hysterien, Zwangsneurosen und Psychosen). Solche Institutionen imponieren als „natürliche“ oder „unverständliche“. Die Kritik ramponiert ihren Naturschein, indem sie ihre Genealogie [Entstehungsgeschichte] aufdeckt. Sie zielt darauf ab, die „Bewusstlosigkeit der Beteiligten“ (Friedrich Engels) aufzuheben, auf der die Ohnmacht der Vergesellschafteten gegenüber ihren Institutionen – beziehungsweise die Ohnmacht der Neurotiker gegenüber ihren Symptomen – beruht. Sie soll ihnen den Weg zu einer sozial- beziehungsweise lebensgeschichtlichen Revision überlebter Institutionen eröffnen.
Die Kritik, wie sie Marx und Freud – im Anschluss an den materialistischen Hegel- und Schelling-Kritiker Ludwig Feuerbach10 – entwickelt haben, der eine auf dem Feld der Ökono- mie, der andere auf dem der Psychologie, ist eine dreifache.
Sie beginnt – sozusagen „von außen“ her – als politische Kritik sowohl am „common sense“, d. h. der in der Öffentlichkeit vorherrschenden Deutung der aktuellen Situation (und der Vergangenheit), als auch an den Ideologen und Meinungsmachern, die diese Deutung formulieren, systematisieren und verbreiten. Die nächste Stufe ist die immanente Kritik von Texten, in denen zutreffende und unzutreffende Behauptungen, akzeptable und inakzeptable Argumentationen miteinander verflochten sind. Deren Unterscheidung führt weiter zu der Frage, was die Voraussetzung für die Entstehung (und Verbreitung) solcher „ideologischer“ Texte ist (oder war), welche gesellschaftlichen Verhältnisse dem Verfasser oder der Verfasserin vor Augen standen (und seinem/ihrem Verständnis Grenzen setzten) und was sein/ihr Interesse bei deren Deutung gewesen ist.11
Die Marx‘sche Soziologie und die Freud‘sche Psychologie haben, wie gesagt, eine gemeinsame Wurzel: die materialistische Kritik Ludwig Feuerbachs an Hegels Geschichts- und an Schellings Naturphilosophie. Und es war gerade die daraus resultierende strukturelle Verwandtschaft der Kritik der politischen Ökonomie mit Freuds Kritik der traditionellen Bewusstseins-Psychologie, die Marxisten und Freudianer ein Jahr- hundert lang dazu bewogen hat, einander misszuverstehen und zu bekämpfen.
III
Freud, der Kulturkritiker und Seelenarzt, und Trotzki, der marxistische Revolutionär und Historiker, haben in den Jahren 1907-14 beide in Wien gelebt, sind einander aber vermutlich nie begegnet (obwohl Trotzki schrieb, er habe dort auch Versammlungen von Psychoanalytikern besucht). Freud hat natürlich von Trotzki als einem Zeitgenossen Kenntnis genommen (also als Revolutions- und Armeeführer, Stalin-Opponent und von Stalin Verfolgter), nicht aber von seinen Schriften.
Was es mit der Marx‘schen Geschichts- und Gesellschaftstheorie auf sich hat, erschloss sich Trotzki (1900, während seiner Haft in Odessa) durch die Lektüre der Schriften des italie- nischen Hegel-Marxisten Antonio Labriola.12
Mit der „verführerischen“ Psychoanalyse wurde er während seiner Emigrationsjahre in Wien (1907-14) bekannt13, und zwar zum einen durch Gespräche mit seinen politischen Freunden in der Wiener russischen Emigranten-Kolonie – vor allem mit Adolf Joffe (der, selbst Arzt, bei Alfred Adler in Therapie war) und mit Adlers Frau Raissa, die beide an der von ihm herausgegebenen Wiener Prawda mitarbeiteten –, zum andern durch seine Lektüre Freud‘scher Schriften.
An der in den Jahren 1908-12 unregelmäßig erscheinenden Prawda, die nach Russland geschmuggelt wurde, arbeitete u. a. der Marx-Kenner David Rjasanow mit, der später, in den 1920er Jahren, in Kooperation mit dem Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ die erste Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) begründete.
Trotzki warb in der Prawda in einfacher Sprache für die Einheit der russischen Sozialdemokratie und für sein Konzept einer permanenten Revolution in Russland. Dabei handelte es sich um die (1917 bestätigte) Prognose, dass der Zarismus allenfalls von einer revolutionären Arbeiterpartei im Bunde mit der bäuerlichen Mehrheit des Landes gestürzt werden könne. 1912-14 schrieb er als Kriegskorrespondent für die liberale russische Zeitung Kiewskaja Mysl („Kiewer Gedanke“) über die beiden Balkankriege, besuchte Sofia und Belgrad, bereiste mit seinem Freund Christian Rakowski14 die Dobrudscha und dokumentierte die Kriegsgräuel beider Seiten.15
Trotzki verehrte Freud als „Genie“, und Freud‘sche Begriffe und Argumentationen tauchen immer wieder in seinen Schriften auf.16 Unter den Revolutionären seiner Zeit erkannte er (fast) als einziger, dass Freuds biologischer Materialismus zum historischen tendiert und die Lösung gesellschaftlicher Rätsel in Geschichte und Gegenwart ermöglicht – handele es sich um den Antisemitismus, um Hitlers „Machtergreifung“ in Deutschland oder um Stalins Moskauer Schauprozesse.
Trotzki war Internationalist und Verfechter der Rätedemokratie, und er hat als Soziologe das Aufkommen sowohl des russischen als auch des deutschen totalitären Regimes analysiert und zu verhindern gesucht. Vor allem in drei Etappen seines politischen Lebens griff er auf die Ressource der Freud‘schen Kritik zurück:
• Zum einen in den Jahren des russischen „Thermidors“ (1923 - 26), als – nach dem Bürgerkrieg – die Partei- und Staatsbü rokratie die alleinige Kontrolle von Wirtschaft und Gesell schaft übernahm, die Revolution rückläufig wurde und die Oppositionellen in die Minderheit gerieten,
• sodann in den Jahren 1929-1933, als er – während seines Exils in der Türkei – seine bedeutendsten Bücher schrieb, die Autobiographie und die große Geschichte der beiden Revo lutionen des Jahres 1917,
• und schließlich 1938, als er im mexikanischen Exil versuchte, eine neue, antikapitalistische Internationale ins Leben zu rufen und – angesichts der staatlich gelenkten Propaganda-„Kunst“ in den Menschenfresser-Regimen Stalins und Hitlers – ge meinsam mit dem Surrealisten André Breton und dem Fres ken-Maler Diego Rivera die Autonomie der Kunst verteidigte.
1923 begründete er nicht nur eine Linke Opposition gegen die Bürokratisierung von Partei, Staat und Wirtschaft, sondern veröffentlichte auch eine Zwischenbilanz der russischen Literatur der Revolutionsjahre (Babel, Block, Jessenin, Majakowski, Pilnjak und andere), gefolgt von einer Auswahl seiner (in Irkutsk, Wien und Paris verfassten) Literaturkritiken aus den Jahren 1900-1914.
Dem Stalin‘schen (isolationistisch-terroristischen) Projekt des „Sozialismus in einem Lande“ entsprach die Umbildung der marxistischen Kritik zu einer „Weltanschauung“. Diese sollte nicht nur der Rechtfertigung der jeweiligen Parteipolitik dienen, sondern es auch ermöglichen, als „anti-materialistisch“ oder „anti-sozialistisch“ verpönte Wissenschaften und Künste zu unterdrücken. Diesem Verbot – das in den 1930er Jahren zur Einschüchterung beziehungsweise Ausrottung einer ganzen Generation von Avantgarde-Künstlern führte – verfielen die Psychoanalyse ebenso wie die Relativitätstheorie, die Quantenphysik, die Genetik und die Semiotik, Neuerungen, von denen Engels, Plechanow und Lenin noch nichts hatten ahnen können. Trotzki war es darum zu tun, der sich abzeichnenden sukzessiven Verengung des geistigen Horizonts und der daraus resultierenden restriktiven Kunst- und Wissenschaftspolitik der alleinherrschenden Partei entgegenzuwirken. Darum verteidigte er die Psychoanalyse als eine materialistische Theorie des Menschen und seiner Kulturgeschichte.
Im Schlusskapitel seines Buches Literatur und Revolution skizzierte er 1923 – unter Berufung auf Freud – eine technokratisch orientierte Utopie künftiger Natur- und Selbstveränderungen der Menschheit. Lief schon Freuds (im selben Jahr formuliertes) therapeutisches Projekt einer „fortschreitenden Eroberung des Es“ durch das bewusste Ich auf eine Art Kolonisierung des Unbewussten hinaus, so träumte Trotzki sogar von der „Abschaffung der Bewusstlosigkeit“ schlechtweg. Da aber beide Autoren es mit dem historisch variablen Verhältnis von Gesellschaft und Natur zu tun hatten, kam bei ihnen dann, korrektiv, doch auch die andere, die Natur-Seite, zur Geltung.
Für die Materialisten Freud und Marx ist die Natur, die „äußere“ wie die des Menschen, stets auch deren Widerpart – Voraussetzung (oder „Material“) aller Transformationen durch Arbeit, Sozialisation und Herrschaft. Und so hat denn Freud schließlich auch nicht auf die Eroberung des Unbewussten gesetzt, sondern auf die Lockerung intrapsychischer Zensurschranken (auf Kommunikation zwischen den Systemen oder Instanzen des Unbewussten, des Vorbewussten und des Bewusstseins). Die Deutung assoziativer Boten aus dem Unbewussten sollte die Aufhebung obsolet gewordener, zwanghafter „Verdrängungen“ ermöglichen. Trotzki seinerseits setzte der Epoche der technischen Naturbeherrschung eine Frist – sie werde eine Ära vorbereiten, in der „Tiger und Auerochs“ in der von Menschen veränderten Natur ihrer eigenen Natur gemäß leben (und die menschliche Technik nicht einmal bemerken) würden.
Was Freuds „Eroberung des Es“ angeht, handelte es sich um eine zweifache Grenzrevision. Zum einen erkannte er, dass das – konventionell mit der Psyche gleichgesetzte – bewusste Ich nur eine für die Realitätskontrolle zuständige Randzone des seelischen Kontinents ist, eine zwecks Reizaufnahme modifizierte „Rindenschicht des Es“. Zum andern aber reklamierte er einen Teil des Es-Kontinents als verlorenes, potentiell aber rückgewinnbares Territorium: die Provinz des Verdrängt-Unbewussten, das der Heimholung (aus der Privat- und Körpersprache) in die Allgemeinsprache, also ins Bewusstsein harrt.
Marx hatte versucht, seinen Zeitgenossen den bewusstlos verlaufenden geschichtlichen Prozess zu Bewusstsein zu bringen. Demnach hat sich die menschliche Geschichte im Rahmen von unterschiedlichen Gesellschaftsformationen abgespielt, und ihr Ziel ist die Reduktion der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Analog versuchte Freud, zu Bewusstsein zu bringen, dass es sich bei diesem Prozess der Steigerung der Arbeits- produktivität um den einer risikoreichen Selbstdomestikation [Selbstzähnmung] unserer Gattung handelt und dass der Ausgang dieses Selbstdomestikations-Prozesses wie der der Klassenkämpfe ungewiss ist.
Im Rückblick auf sein eigenes Leben und im Zuge der Rekonstruktion der Ereignisse des Revolutionsjahres 1917, die er 1906 (mit seiner Theorie der „permanenten Revolution“) antizipiert und in denen er dann eine ausschlaggebende Rolle gespielt hatte, kam Trotzki in den Jahren 1929-33 auf die von Freud 1905 veröffentlichte Analyse des Witzes zurück.
Im Hinblick auf diese kleine literarische und Gesprächs-Form hatte Freud seine Theorie des Zustandekommens und der Rezeption von künstlerischen Gebilden entwickelt. Der zufolge ist der (nicht intendierbare [beabsichtigbare]) Witz – wie das originelle Kunstwerk – ein Attentat auf die Konvention. Der Witz stellt sich ein, wenn die Angst (des Erzählers oder Künstlers) vor Devianz [Abweichung von der Norm] für einen Augenblick nachlässt und der „innere Zensor“ durch das Gaukelspiel freigelassener Wort-Assoziationen abgelenkt und geblendet wird.17
Dann nutzt das Tabuierte, vom Wort Abgeschnittene, seine Chance, findet einen neuartigen Ausdruck (im Wort, im Bild oder in Tönen) und bahnt sich auf diese Weise den Weg zum Bewusstsein und zur Kommunikation. Darum ist schon der Witz (und nicht nur der politische) eine Revolution en miniature. „Die schöpferische Vereinigung des Bewussten mit dem Unbewussten ist das, was man gewöhnlich Inspiration nennt“, schrieb Trotzki18, und Freud hatte das Zustandekommen einer solchen „Vereinigung“ metapsychologisch wie folgt beschrieben: „Ein vorbewusster Gedanke wird für einen Moment der unbewussten Bearbeitung überlassen, und deren Ergebnis alsbald von der bewussten Wahrnehmung erfasst.“19
Einer Inspiration verdankt sich der glückliche Einfall der Rednerin, des Künstlers, der Schriftstellerin; einer Inspiration kommt auch die mögliche Entdeckung der Massen gleich, dass sie Verhältnisse, unter denen sie leiden, durch revolutionäre Aktionen verändern können. In diesem Fall kommt es zu einer Interaktion von Sozio- und Psychohistorie: „Revolution ist rasende Inspiration der Geschichte.“20
Das Konzept der Inspiration (bei Freud ist es das des „freien Einfalls“) lag auch der Verteidigung der autonomen (also „unabhängigen“) Kunst durch Trotzki, Breton und Rivera und ihrer Gründung einer Internationalen Föderation für Unabhängige Revolutionäre Kunst (FIARI) im Sommer 1938, ein Jahr vor Beginn des II. Weltkriegs, zugrunde: Einzig die größtmögliche Unabhängigkeit (von Tabus, Doktrinen und Auftraggebern) bei der Wahl ihrer Sujets und ihrer Formen befähige Künstler, die Widersprüche ihrer Zeit und ihrer Zeitgenossen zum Ausdruck zu bringen und Alternativen zum Status quo zu gestalten. „Die wahre Kunst antizipiert“, hatte schon Saint-Pol Roux, ein Vorläufer der Surrealisten, postuliert, und Trotzki schrieb (gut „freudianisch“) an Breton: Gegen die Propaganda-„Kunst“ müsse „der Kampf um die künstlerische Wahrheit“ wieder eröffnet werden – „im Sinne der unerschütterlichen Treue des Künstlers zu seinem inneren Ich, ohne die es keine Kunst gibt.“21
Wien, 20. Mai 2024