„Den Widerstand gegen das Regime stärken“
Am 16. September 2022 starb im Iran Mahsa-Jina Amini. Ihr gewaltsamer Tod löste landesweite Proteste gegen das Mullah-Regime aus. Auffällig war die große Beteiligung von Frauen an dieser Bewegung. Über die aktuelle Lage sprach Avanti² mit einem im deutschen Exil lebenden iranischen Genossen.*
Die Bewegung hat das Mullah-Regime zwar herausgefordert, aber nicht zum Sturz gebracht. Wie ist die gegenwärtige Situation?
Die aktuelle Lage mag so erscheinen, als seien die Aufstände zurückgeschlagen. In Wirklichkeit ist es aber nicht so. Die Bewegung wurde am Anfang vor allem von Frauen getragen, aber mit der zunehmenden Brutalität des Staates wurde ihr Anteil an den Aufständen immer kleiner. An den Universitäten und in den Schulen war die weibliche Beteiligung an den Protesten immer noch groß im Vergleich zum Anteil der Frauen, die auf den Straßen kämpften.
Diese Aufstände ab dem 16. September 2022, die mehr als 120 Tage dauerten, waren eine Weiterentwicklung der Aufstände vom Winter 2017 und Winter 2019. Die gesamten revolutionären Aufstände seit 2017 sind nur die Spitze eines Eisbergs. Der Eisberg der Revolution bewegt sich seit Jahren. Entweder er landet am Strand des Sozialismus oder er versinkt in der Barbarei des Faschismus. Die rechtsradikale „Opposition“ träumt von der faschistischen Barbarei.
War die Bewegung spontan oder organisiert?
Die Bewegung war komplett spontan, aber sie kam nicht überraschend. Die iranische Gesellschaft kocht seit Jahren.
Die katastrophale wirtschaftliche Lage einerseits, andererseits die Legitimationskrise des Regimes und die Erschütterung seiner Vorherrschaft führten zu diesen spontanen Aufständen.
Die rechte und bürgerliche Opposition im Exil fordert mehr Sanktionen, die eine weitere Verschärfung der Wirtschaskrise zur Folge hätten. Mit anderen Worten: das langsame, aber massenhafte Massakrieren von mehr als 70 Millionen Menschen.
Während der letzten Jahrzehnte entstanden teilweise illegale oder halb legale Organisationen, die bei den Protesten versuchten, diese Aufstände zu einer Revolution zu machen.
Das Mullah-Regime bekämpfte die Bewegung mit Gewalt und Todesurteilen. Hat es damit Erfolg?
Nein, das Regime hat seine Legitimation in der Gesellschaft komplett verloren. Die Ermordung der kämpfenden Menschen auf der Straße oder die Hinrichtungen in den Gefängnissen können nicht als Erfolg des Regimes verstanden werden. Der Eisberg, von dem ich gesprochen habe, ist nicht einfach zu bewegen.
Die Strategie des Regimes ist sehr widersprüchlich. Einerseits ging es gegen die Protestierenden und Gefangenen mit härtester Brutalität vor, andererseits sprach es ständig von einer „diskursiven“ Lösung und hat in den letzten Tagen mehrere poli- tische Gefangene entlassen, um zu zeigen, dass die Lage sich beruhigt habe.
Hat der Aufstand die iranische Gesellschaft verändert?
Ja, die Gesellschaft hat sich sehr radikal verändert. Es gibt immer mehr Frauen ohne Hijab auf offener Straße. Es gibt immer mehr Menschen, die auf unterschiedliche Art und Weise individuellen Widerstand leisten und die Ordnung und Legitimation des Staates in den Städten, in den Behörden, an den Universitäten und in den „sozialen Medien“ in Frage stellen.
Gibt es einen Aufschwung der gewerkschaftlichen Organisierung und der politischen Linken?
Ja, vor kurzem wurde eine Erklärung von unterschiedlichen Gewerkschaften und politischen Organisationen im Iran veröffentlicht. Diese wenden sich scharf gegen eine „Veränderung von oben“ gegen den Willen der Unterdrückten sowie gegen jeden Versuch eines Putsches oder Regime-Wechsels und rufen zu breiter iranweiter Solidarität auf. Das belegt den Aufschwung der gewerkschaftlichen und linken Organisationen.
Was sind die nächsten Schritte des Widerstands?
Es ist ganz klar geworden, dass das islamische Regime im Iran ohne breite landesweite radikale und militante Kämpfe mit gleichzeitigem Streik und bewaffnetem Widerstand nicht geschlagen werden kann.
Die Aktivisten und Aktivistinnen in den linken Spektren sind dabei, die Gesellschaft auf eine radikale Revolution vorzubereiten, die dieses Mal zum Sturz des Regimes führt. In den kurdischen Gebieten haben sich in mehreren Städten revolutionäre, sozialistische Untergrundorganisationen und illegale Räte gebildet, die sogar in den „sozialen Medien“ eine große Aufmerksamkeit bekommen haben.
Was können wir von Deutschland aus tun?
Das ist schwierig zu beantworten. Die internationale Solidarität mit der Arbeiterklasse durch linke und sozialistische Organisationen und durch die Arbeiterklasse anderer Länder ist sehr häufig gefragt. Man kann mit den kommunistischen und revolutionären Gruppen, Parteien und Aktivist*innen in Kontakt treten, die die linken und revolutionären Proteste gegen das Regime und gegen die Monarchisten unterstützen. Man kann mit direkten Spenden an politische Gefangene, an Arbeiter*innen und andere den Widerstand gegen das Regime stärken.
* [Die Fragen stellte R. G.]