Trotzki, die Psychoanalyse und die kannibalischen Regime
Ernst Koch
Helmut Dahmers neuestes Werk, Trotzki, die Psychoanalyse und die kannibalischen Regime, ist vor wenigen Wochen im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienen. Grund genug, einen Blick darauf zu werfen.
Der erste Teil des Buches befasst sich mit der Klärung des Verhältnisses Leo Trotzkis zur Freud’schen Psychoanalyse. Diese lernte der aus der Ukraine stammende Revolutionär während sei- ner Wiener Emigration in den Jahren 1908 - 1914 kennen. Wie ein anderer Marxist seiner Zeit, Max Horkheimer (der Begründer der „Frankfurter Schule“), erkannte Trotzki die Bedeutung der Freud’schen Theorie für Geschichtsverständnis und Geschichtsschreibung.
In diesem Zusammenhang erinnert Dahmer zunächst an die Verwandtschaft der beiden, im Abstand von nur drei Jahrzehnten entwickelten Gesellschaftstheorien Marxens und Freuds. Beide entsprächen weder dem Typus der Natur- wissenschaften, noch dem der Geisteswissenschaften, sie seien vielmehr Prototypen einer dritten, neuartigen Wissenschaft, die der Kritik obsoleter „Institutionen“ der Sozial- und Seelengeschichte gelte. Wertform-Analyse wie Traumdeutung seien von Marx und Freud in der Tradition der Hegelkritiken Feuerbachs und Schellings entwickelt worden.
Trotzkis, an den Schriften Antonio Labriolas orientierter Hegel-Marxismus unterscheidet sich Dahmer zufolge vom „ortho- doxen“ (sozialdemokratischen und „kom- munistischen“) Marx-Verständnis dadurch, dass für ihn – wie für die „Kritischen Theoretiker“ des Horkheimer-Kreises – Dialektik1, Kunst und Psychologie für das Ver- ständnis der gesellschaftlich-politischen Entwicklung wesentlich sind.
Trotzki habe erkannt, dass Freuds biologischer Materialismus zum historischen tendiere. Zu seiner folgenreichen Überschreitung der kautskyanischen Orthodoxie habe die Freud’sche Psychoanalyse ebenso beigetragen2 wie Alexander Parvus-Helphands (in den Jahren 1904/05 formulierte) These, „daß die Revolution in Rußland eine demokratische Arbeiterregierung an die Macht bringen kann.“3
Adolf Joffe, Arzt und Berufsrevolutionär, der eine Psychotherapie bei Alfred Adler absolviert hatte, war (vor 1914 in Wien) Trotzkis erster Informant über die Freud’sche Psychoanalyse. Direkte und indirekte Bezugnahmen auf Freuds Kulturtheorie und Seelenlehre in Trotzkis Schriften zeigen laut Dahmer, dass er zentrale Freud-Texte (im deutschen Original oder in russischer Übersetzung) kannte. 1923 veröffentlichte Trotzki Literatur und Revolution, eine Sammlung seiner Literaturkritiken, in deren Schlusska- pitel – in dem die Psychoanalyse eine prominente Rolle spielt – er die Utopie einer Gesellschaft ohne Mangel und Klassen entwarf.4 1938 war es schließlich der Surrealist André Breton, der seine Freud-Kenntnis5 in das von ihm und Trotzki gemeinsam verfasste, antitotalitäre Manifest für eine autonome Kunst einbrachte.6
In den Jahren seines Exils in der Türkei (1929-33) schrieb Trotzki u. a. seine Autobiographie und seine Geschichte der russischen Revolution von 1917, in deren Zentrum7 die Annäherung von Psychoanalyse und Marxismus – genauer: die Konvergenz der Freud’schen Kunst- und der Marxschen Revolutionstheorie steht: Die „Inspiration“ des Volkstribunen und Schriftstellers, der die aufständischen Massen ansprach, traf die Stimmung derer, die fasziniert seiner Rede folgten, weil sie ihrem aktuellen Interesse Ausdruck verlieh. Auch die Revolution, schrieb Trotzki, „ist rasende Inspiration der Geschichte.“8
Psychoanalyse und Marxismus galten (und gelten Vielen noch heute) als esoterische Doktrinen, die von internationalen Organisationen tradiert werden und einander ausschließen. Trotzki und Freud sind sich nie begegnet, Freud hat Trotzki kaum je erwähnt; die „Freudo-Marxisten“ (wie Wilhelm Reich, Otto Fenichel und eben auch Trotzki) wurden von Repräsentanten beider Lager, die die soziologische bzw. die psychologische Kritik in eine „Weltanschauung“ verkehrten, misstrauisch beäugt.
In den mörderischen Kampf der Stalinisten gegen die „trotzkistische“ Minderheit der Rätedemokraten und Internatio- nalisten waren auch Freudianer wie der mexikanische Kriminologe Carrancá und die „Graue Eminenz“ der Psychoanalyse, Max Eitingon, verwickelt. Carrancá organisierte eine einzigartige, in einem mehr als 1.000 Seiten umfassenden Bericht dokumentierte Befragung des GPU-Agenten und Trotzki-Mörders Ramón Mercader, die schließlich zur Aufdeckung von dessen wahrer Identität führte. Max Eitingon wiederum, Freund und Mäzen Freuds – und Namensvetter Leonid Eitingons, des Agenten-Führers von Mercader und Organisators des Trotzki-Mords – führte möglicherweise ein Doppelleben als Hintergrund-Agent Moskaus …9
Im zweiten Teil von Dahmers Buch wird der politische Kontext vergegenwärtigt, in dem die Zeitgenossen Trotzki und Freud sich bewegten. Der Erinnerung an den Trotzki-Sekretär Rudolf Klement folgt eine Analyse der berüchtigten Moskauer Schau-prozesse, deren Bedeutung – als Indikator des Stalin’schen „politischen Genozids“ (I. Deutscher) – noch immer kaum gesehen wird. Ein Vergleich der beiden „kannibalischen“ Regime Stalins und Hitlers schließt sich an: In beiden Fällen waren die führenden Ideologen und Akteure davon überzeugt, dass zur Realisierung ihrer „utopischen“ Projekte die Ermordung von Millionen Menschen erforderlich und „gerechtfertigt“ sei …
Den Abschluss des unbedingt zur Lektüre empfohlenen Bandes bilden Überlegungen zum aktuellen Ukrainekrieg und zu den Aussichten einer dringend erforderlichen Überwindung des kapitalistischen Weltsystems nach einem Jahrhundert der Konterrevolutionen.
Endnoten