Buch­be­spre­chung

Trotz­ki, die Psy­cho­ana­ly­se und die kan­ni­ba­li­schen Regime

 

Ernst Koch

Hel­mut Dah­mers neu­es­tes Werk, Trotz­ki, die Psy­cho­ana­ly­se und die kan­ni­ba­li­schen Regime, ist vor weni­gen Wochen im Ver­lag West­fä­li­sches Dampf­boot erschie­nen. Grund genug, einen Blick dar­auf zu werfen.

Sigmund Freud 1921. (Foto: Gemeinfrei [Max Halberstadt].)

Sig­mund Freud 1921. (Foto: Gemein­frei [Max Halberstadt].)

Der ers­te Teil des Buches befasst sich mit der Klä­rung des Ver­hält­nis­ses Leo Trotz­kis zur Freud’schen Psy­cho­ana­ly­se. Die­se lern­te der aus der Ukrai­ne stam­men­de Revo­lu­tio­när wäh­rend sei- ner Wie­ner Emi­gra­ti­on in den Jah­ren 1908 - 1914 ken­nen. Wie ein ande­rer Mar­xist sei­ner Zeit, Max Hork­hei­mer (der Begrün­der der „Frank­fur­ter Schu­le“), erkann­te Trotz­ki die Bedeu­tung der Freud’schen Theo­rie für Geschichts­ver­ständ­nis und Geschichtsschreibung.

In die­sem Zusam­men­hang erin­nert Dah­mer zunächst an die Ver­wandt­schaft der bei­den, im Abstand von nur drei Jahr­zehn­ten ent­wi­ckel­ten Gesell­schafts­theo­rien Mar­xens und Freuds. Bei­de ent­sprä­chen weder dem Typus der Natur- wis­sen­schaf­ten, noch dem der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten, sie sei­en viel­mehr Pro­to­ty­pen einer drit­ten, neu­ar­ti­gen Wis­sen­schaft, die der Kri­tik obso­le­ter „Insti­tu­tio­nen“ der Sozi­al- und See­len­ge­schich­te gel­te. Wert­form-Ana­ly­se wie Traum­deu­tung sei­en von Marx und Freud in der Tra­di­ti­on der Hegel­kri­ti­ken Feu­er­bachs und Schel­lings ent­wi­ckelt worden.

Trotz­kis, an den Schrif­ten Anto­nio Labrio­las ori­en­tier­ter Hegel-Mar­xis­mus unter­schei­det sich Dah­mer zufol­ge vom „ortho- doxen“ (sozi­al­de­mo­kra­ti­schen und „kom- munis­ti­schen“) Marx-Ver­ständ­nis dadurch, dass für ihn – wie für die „Kri­ti­schen Theo­re­ti­ker“ des Hork­hei­mer-Krei­ses – Dia­lek­tik1, Kunst und Psy­cho­lo­gie für das Ver- ständ­nis der gesell­schaft­lich-poli­ti­schen Ent­wick­lung wesent­lich sind.

Trotz­ki habe erkannt, dass Freuds bio­lo­gi­scher Mate­ria­lis­mus zum his­to­ri­schen ten­die­re. Zu sei­ner fol­gen­rei­chen Über­schrei­tung der kaut­skya­ni­schen Ortho­do­xie habe die Freud’sche Psy­cho­ana­ly­se eben­so bei­getra­gen2 wie Alex­an­der Par­vus-Hel­p­hands (in den Jah­ren 1904/05 for­mu­lier­te) The­se, „daß die Revo­lu­ti­on in Ruß­land eine demo­kra­ti­sche Arbei­ter­re­gie­rung an die Macht brin­gen kann.“3

Adolf Jof­fe, Arzt und Berufs­re­vo­lu­tio­när, der eine Psy­cho­the­ra­pie bei Alfred Adler absol­viert hat­te, war (vor 1914 in Wien) Trotz­kis ers­ter Infor­mant über die Freud’sche Psy­cho­ana­ly­se. Direk­te und indi­rek­te Bezug­nah­men auf Freuds Kul­tur­theo­rie und See­len­leh­re in Trotz­kis Schrif­ten zei­gen laut Dah­mer, dass er zen­tra­le Freud-Tex­te (im deut­schen Ori­gi­nal oder in rus­si­scher Über­set­zung) kann­te. 1923 ver­öf­fent­lich­te Trotz­ki Lite­ra­tur und Revo­lu­ti­on, eine Samm­lung sei­ner Lite­ra­tur­kri­ti­ken, in deren Schluss­ka- pitel – in dem die Psy­cho­ana­ly­se eine pro­mi­nen­te Rol­le spielt – er die Uto­pie einer Gesell­schaft ohne Man­gel und Klas­sen ent­warf.4 1938 war es schließ­lich der Sur­rea­list André Bre­ton, der sei­ne Freud-Kennt­nis5 in das von ihm und Trotz­ki gemein­sam ver­fass­te, anti­to­ta­li­tä­re Mani­fest für eine auto­no­me Kunst ein­brach­te.6

In den Jah­ren sei­nes Exils in der Tür­kei (1929-33) schrieb Trotz­ki u. a. sei­ne Auto­bio­gra­phie und sei­ne Geschich­te der rus­si­schen Revo­lu­ti­on von 1917, in deren Zen­trum7 die Annä­he­rung von Psy­cho­ana­ly­se und Mar­xis­mus – genau­er: die Kon­ver­genz der Freud’schen Kunst- und der Marx­schen Revo­lu­ti­ons­theo­rie steht: Die „Inspi­ra­ti­on“ des Volks­tri­bu­nen und Schrift­stel­lers, der die auf­stän­di­schen Mas­sen ansprach, traf die Stim­mung derer, die fas­zi­niert sei­ner Rede folg­ten, weil sie ihrem aktu­el­len Inter­es­se Aus­druck ver­lieh. Auch die Revo­lu­ti­on, schrieb Trotz­ki, „ist rasen­de Inspi­ra­ti­on der Geschich­te.“8

Buch-Cover

Buch-Cover

Psy­cho­ana­ly­se und Mar­xis­mus gal­ten (und gel­ten Vie­len noch heu­te) als eso­te­ri­sche Dok­tri­nen, die von inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen tra­diert wer­den und ein­an­der aus­schlie­ßen. Trotz­ki und Freud sind sich nie begeg­net, Freud hat Trotz­ki kaum je erwähnt; die „Freu­do-Mar­xis­ten“ (wie Wil­helm Reich, Otto Feni­chel und eben auch Trotz­ki) wur­den von Reprä­sen­tan­ten bei­der Lager, die die sozio­lo­gi­sche bzw. die psy­cho­lo­gi­sche Kri­tik in eine „Welt­an­schau­ung“ ver­kehr­ten, miss­trau­isch beäugt.

In den mör­de­ri­schen Kampf der Sta­li­nis­ten gegen die „trotz­kis­ti­sche“ Min­der­heit der Räte­de­mo­kra­ten und Inter­na­tio- nalis­ten waren auch Freu­dia­ner wie der mexi­ka­ni­sche Kri­mi­no­lo­ge Car­ran­cá und die „Graue Emi­nenz“ der Psy­cho­ana­ly­se, Max Eit­in­gon, ver­wi­ckelt. Car­ran­cá orga­ni­sier­te eine ein­zig­ar­ti­ge, in einem mehr als 1.000 Sei­ten umfas­sen­den Bericht doku­men­tier­te Befra­gung des GPU-Agen­ten und Trotz­ki-Mör­ders Ramón Mer­ca­der, die schließ­lich zur Auf­de­ckung von des­sen wah­rer Iden­ti­tät führ­te. Max Eit­in­gon wie­der­um, Freund und Mäzen Freuds – und Namens­vet­ter Leo­nid Eit­in­gons, des Agen­ten-Füh­rers von Mer­ca­der und Orga­ni­sa­tors des Trotz­ki-Mords – führ­te mög­li­cher­wei­se ein Dop­pel­le­ben als Hin­ter­grund-Agent Mos­kaus …9

Im zwei­ten Teil von Dah­mers Buch wird der poli­ti­sche Kon­text ver­ge­gen­wär­tigt, in dem die Zeit­ge­nos­sen Trotz­ki und Freud sich beweg­ten. Der Erin­ne­rung an den Trotz­ki-Sekre­tär Rudolf Kle­ment folgt eine Ana­ly­se der berüch­tig­ten Mos­kau­er Schau-pro­zes­se, deren Bedeu­tung – als Indi­ka­tor des Stalin’schen „poli­ti­schen Geno­zids“ (I. Deut­scher) – noch immer kaum gese­hen wird. Ein Ver­gleich der bei­den „kan­ni­ba­li­schen“ Regime Sta­lins und Hit­lers schließt sich an: In bei­den Fäl­len waren die füh­ren­den Ideo­lo­gen und Akteu­re davon über­zeugt, dass zur Rea­li­sie­rung ihrer „uto­pi­schen“ Pro­jek­te die Ermor­dung von Mil­lio­nen Men­schen erfor­der­lich und „gerecht­fer­tigt“ sei …

Den Abschluss des unbe­dingt zur Lek­tü­re emp­foh­le­nen Ban­des bil­den Über­le­gun­gen zum aktu­el­len Ukrai­ne­krieg und zu den Aus­sich­ten einer drin­gend erfor­der­li­chen Über­win­dung des kapi­ta­lis­ti­schen Welt­sys­tems nach einem Jahr­hun­dert der Konterrevolutionen.


End­no­ten

1 Vgl. dazu das Kapi­tel V.5. (Die Kapi­tel­an­ga­ben [I bis VI] in die­sen Anmer­kun­gen bezie­hen sich auf den Text des I. Teils des hier bespro­che­nen Buches.) – Marx’ Früh­schrif­ten von 1844 (sei­ne „Pari­ser Manu­skrip­te“) wur­den 1932 von David Rjas­anow u. a. im Par­tei­ar­chiv der SPD ent­deckt und ver­öf­fent­licht; Trotz­ki hat die­se Tex­te wohl nicht gekannt. Marx’ Grund­ris­se zur Kri­tik der poli­ti­schen Öko­no­mie (Roh­ent­wurf) von 1857/58 wur­den erst 1939/41 gedruckt. Lenins Hegel-Exzerp­te und -Kom­men­ta­re von 1914/15, die 1929 publi­ziert wor­den waren, kann­te Trotz­ki und bezog sich wie­der­holt darauf.
2 „Dua­lis­ten tei­len die Welt in zwei Sub­stan­zen: Mate­rie und Bewusst­sein. Ist dem aber so, was machen wir dann mit dem Unbe­wuss­ten?“, Trotz­ki (Note­books, 1933 - 1935), in Dah­mers Buch zitiert auf S. 87.
3 Trotz­ki, L. D. (1929), Mein Leben, Ver­such einer Auto­bio­gra­phie, Ber­lin (Dietz) 1990, S. 155. (Trotz­ki zitiert an die­ser Stel­le einen Text von Par­vus.) Vgl. dazu Deut­scher, I. (1954), Trotz­ki, Bd. I, Stutt­gart (Kohl­ham­mer) 1962, Kap. 4.
4 Trotz­kis (tech­no­kra­ti­sche) Uto­pie wird im Kapi­tel IV.2 von Dah­mers Buch aus­führ­lich erörtert.
5 Bre­tons schwie­ri­ges Ver­hält­nis zu Freud wird im Kap. VI.3 dargestellt.
6 Das Trotz­ki-Bre­ton-Mani­fest wird im Kapi­tel IV.3 vor­ge­stellt und interpretiert.
7 Vgl. dazu die Kapi­tel „An der Macht“ in Mein Leben, Ber­lin (S. Fischer) 1930, S. 320 ff., und „Das mili­tä­ri­sche Revo­lu­ti­ons­ko­mi­tee“ in dem 1933 (a. a. O.) erschie­ne­nen II. Band der Geschich­te der rus­si­schen Revo­lu­ti­on („Okto­ber“), bes. S. 432 ff.
8 Vgl. dazu das Kapi­tel V.3 von Dah­mers Buch.
9 Über die­se „Hin­ter­grün­de“ infor­miert das Kap. VI.1 von Dah­mers Buch.

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Janu­ar 2023
Tagged , , , , , . Bookmark the permalink.