Bewahrt ein „souveräner Diktator“
die Republik vor „ihren Feinden“?
S. T.
Der monatliche Infoabend der ISO Rhein-Neckar im Juni hatte die Präsidentschaftswahlen in der Türkei zum Thema. Unser Referent befasste sich in seinem einleitenden Beitrag mit den Widersprüchen in dem Land zwischen Südeuropa und Vorderasien.
Auch wenn die Bedingungen für die Durchführung der beiden Wahlgänge völlig unfair waren, ist es Fakt, dass das Regime triumphiert hat. Weder die Wirtschaftskrise noch die Erdbeben und noch weniger die Angriffe auf die Demokratie haben die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler dazu gebracht, mit Erdogan zu brechen. Er wird seine Amtszeit im riesigen Präsidentenpalast nun um weitere fünf auf 26 Jahre ausweiten können.
Betrachtet man die derzeitige politische Verfasstheit der Türkei, dann ist nur noch schwer nachvollziehbar, dass Erdogans Partei, die AKP, einst große Hoffnungen auf demokratische Reformen, einen EU-Beitritt, friedliche Beziehungen zu den Nachbarländern und mehr Wohlstand weckte. Das kam gut an in einem Land, das von einem grausamen Krieg gegen die Kurden, grassierender Korruption, instabilen Koalitionsregierungen und der Vorherrschaft des Militärs heimgesucht wurde.
Erdogans Machtentfaltung
Doch inzwischen hat Erdogan nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die Verwaltung und den Staatsapparat in seine Hand gebracht und wichtige Posten mit seinen Günstlingen besetzt. Auch der größte Teil der Medien des Landes ist unter seiner Kontrolle, außerdem die Justiz, das Militär und die Polizei. Widerspruch und Kritik werden konsequent verfolgt und unterdrückt.
Seine Anhängerinnen und Anhänger konnte Erdogan mit einer Politik gewinnen, die an religiöse Gefühle und einen extremen Nationalstolz appelliert. In der heutigen Türkei bestimmt der Staatspräsident, was das „Gemeinwohl“ ist. Für Erdogan gehören zum „Gemeinwohl“: die Förderung einer „islamischen“ Generation und die Einschränkung aller anderen Lebensformen, eine hohe Geburtenrate der ethnischen Türkinnen und eine niedrige der ethnischen Kurdinnen, die Stärkung traditioneller Geschlechterrollen und der Kampf gegen sexuelle Selbstbestimmung.
Die Exekutive besteht aus ihm selbst. Er ernennt seine Minister ohne Zustimmung des Parlaments. Er hat in allen Bereichen der Staatsverwaltung das letzte Wort. Das Parlament ist faktisch seiner Stellung als Gesetzgeber beraubt. Seine Möglichkeiten zur Kontrolle der Regierung sind extrem beschnitten. Den Abgeordneten kann fast nach Belieben die Immunität entzogen werden.
Erdogan kurbelte die Rüstungsindustrie an und ließ ethnische „Säuberungen“ durchführen. Sie ermöglichten die Nutzung von Gebieten, die zuvor nicht unter der Kontorolle ethnischer Türken standen. Dazu zählen die Cûdî- und Gabar-Berge im Südosten des Landes. „Zufällig“ wurden dort „später“ große Erdölreserven mit einer täglichen Förderkapazität von 100.000 Barrel entdeckt.
Hemmungslose Bereicherung
Während das Russland-Geschäft der übrigen NATO-Staaten einbrach, lag das Handelsvolumen der Türkei mit Russland nur sieben Monate nach Beginn des Überfalls auf die Ukraine um 198 Prozent über dem des Vorjahrs. Im März 2022 rief Erdogan Unternehmer dazu auf, ihre Firmen in die Türkei zu verlagern. Im August desselben Jahres wurde ein Gesetz mit dem Namen „Frieden mit dem Reichtum“ (Varlık Barışı) neu aufgelegt und auf nichttürkische Staatsbürger ausgedehnt. Es ermöglicht den Transfer aller beweglichen Vermögenswerte (Devisen, Gold etc.) ohne nennenswerte Steuern und ohne jegliche Prüfung darüber, wie dieser Reichtum entstanden und in die Hände seiner Besitzer gelangt ist. Es ist offensichtlich, dass sich durch Erdogans Politik sein eigener Clan und die kapitalistische Klasse insgesamt hemmungslos bereichern.
Um erfolgreich sein zu können, muss der Kampf gegen Erdogans Autoritarismus mit einem sozialen, klassenmäßigen Inhalt ausgestattet werden. Dies geschieht durch das Entwickeln des Klassenbewusstseins der Arbeitenden, die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Ausgebeuteten, die Kämpfe der Frauen gegen die patriarchalische Vorherrschaft und durch die Vereinigung der einheimischen und migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter – seien sie türkischer, kurdischer, syrischer oder afghanischer Herkunft. Letzteres ist die größte Herausforderung für die radikale Linke. Denn Freiheit und Gleichheit können nur durch die einheitliche Gegenmacht der arbeitende Klasse selbst erreicht werden.