Am 21. Dezember 2017 wäre Heinrich Böll einhundert Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass geben wir einen Briefwechsel unseres Genossen Willy Boepple (1911-1992) mit dem bedeutenden deutschen Schriftsteller aus dem Jahr 1982 wieder. Böll ist am 16. Juli 1985 viel zu früh gestorben.
Brief Willy Boepples vom 7. September 1982*
Sehr geehrter Herr Böll,
im Fernsehprogramm Hessen 3 vom 4.9. hörte ich (leider nur) einen Teil Ihres Gesprächs mit Siegfried Lenz.1 Eine dabei von ihnen gemachte Bemerkung veranlaßt mich zu diesem Schreiben. Sie sagten (wenn ich Sie richtig verstanden habe), daß man eine Alternative zu Kapitalismus und Sozialismus, einen „Dritten Weg“, suchen müsse. Ich darf daraus wohl den Schluß ziehen, daß Sie das in den Ostblockstaaten, in Vietnam, China und weitgehend auch in Jugoslawien und - mit Einschränkung - in Kuba herrschende gesellschaftliche System als „Sozialismus“ verstehen. Das tut einem alten Kommunisten, der auf Prestige und Karriere um seiner politischen Ideale willen verzichtet hat, ziemlich weh, zumal ich Sie nicht nur als Schriftsteller, sondern auch und nicht zuletzt als engagierten Bürger mit viel Zivilcourage sehr schätze. Ich bin, wie viele meiner politischen Freunde hinsichtlich der Verunglimpfung, ja sogar Schändung des Begriffs „Sozialismus“ Kummer gewöhnt. Wenn aber ein Mann Ihrer Bildung, Ihres Formats und Ihrer weltanschaulichen Loyalität ebenfalls dieser Klischee-Vorstellung zum Opfer fällt, dann ist das ganz besonders bitter.
Ich erlaube mir daher, Ihnen zum Thema „Dritter Weg“ beziehungsweise „Sozialismus“ die letzten 10 Seiten des soeben von mir vollendeten Manuskripts meiner Übersetzung des Buches „Revolutionärer Marxismus heute“ zu senden. Ich tue das nicht etwa in der Hoffnung, Sie zu „bekehren“, sondern in der zagen Erwartung, daß Ihnen die Lektüre Anlaß zu weiteren Studien gibt, wodurch Ihre Vorstellung von einer „Alternative“ vielleicht ein wenig beeinflußt wird. Der Autor des Buches ist Ernest Mandel, Professor an der Universität Brüssel, Mitglied der Führungsgremien der von Trotzki gegründeten IV. Internationale und Autor vieler politischer und wirtschaftswissenschaftlicher Schriften und Bücher. Sein Buch „Marxistische Wirtschaftstheorie“ („Traité d’économie marxiste“) wurde in etwa 16 Sprachen übersetzt. Professor Mandel, dessen Berufung an die Freie Universität Berlin durch massiven Druck der Bundesregierung verhindert worden ist,2 wurde von Walter Jens3 als Mitglied des PEN-Clubs vorgeschlagen. Durch Austrittsdrohungen „prominenter” Mitglieder wurde die Aufnahme vereitelt.4
Meine politische Kurzbiographie: Jahrgang 1911, mit 20 Jahren Eintritt in die KPD (1931).5 1933 KZ Heuberg. Nach dem Krieg Gründungsmitglied der KPD in Mannheim. Mitglied des Parteivorstandes und 2. Vorsitzender der KPD Württemberg/Baden, Mitglied des ZK der KPD der 3 Besatzungszonen („Trizonesien“), Mitglied des gesamtdeutschen Vorstandes der KPD/SED in Berlin und Mitglied des ersten Landtages von Württemberg/Baden. Im März 19496 trat ich mit einer schriftlichen Erklärung aus Protest gegen die total abhängige Pseudo-Politik der KPD/SED und gegen die verheerende Befehlspraxis der KPdSU aus der Partei aus und wurde selbstverständlich postwendend als Verräter, Agent des amerikanischen Imperialismus und Feind der Arbeiterklasse entlarvt. Ab 1951 war ich Mitglied der deutschen Sektion der IV. Internationale und seit etwa 10 Jahren bin ich aktiver Sympathisant dieser Organisation.
Wenn ich mir erlaubt habe, diese Kurzbiographie anzufügen, so nicht aus Geltungssucht, sondern als höflichen Hinweis, daß ich von den Dingen etwas verstehe und einen Abschnitt der deutschen Arbeiterbewegung hautnah in der politischen Praxis erlebt habe. Ich bringe damit, so meine ich, einige Voraussetzungen mit, die mir eine gewisse Berechtigung geben, den Träger eines so berühmten Namens (ein ehrliches Kompliment) mit meinem Anliegen zu behelligen. (Mit Ausnahme eines vor 3 Jahren an Robert Havemann gerichteten kritischen offenen Briefes zum Thema „Euro-Kommunismus“ ist dies das erste Mal, daß ich mich an einen prominenten Zeitgenossen außerhalb meines engeren politischen Spektrums wende.) Zum andern will ich Sie nicht im Zweifel lassen, mit wem Sie es zu tun haben, für den Fall, daß sich aus meiner „Demarche“ ein, wenn auch noch so kurzer Gedankenaustausch entwickeln sollte.
Wenn Ihnen mein Schreiben einen Denkanstoß gibt oder Sie gar veranlasst, unter anderem einige von L. Trotzkis, Isaac Deutschers oder E. Mandels Schriften zu lesen, dann hätte ich viel, ja sehr viel erreicht.
Mit größter Hochachtung und freundlichen Grüßen
[Willy Boepple]7
Antwortbrief Heinrich Bölls vom 18. Dezember 19828
Sehr geehrter Herr Boepple,
Ihnen - irgendeinem Marxisten - weh zu tun, war natürlich nicht meine Absicht.
Wenn ich den „Dritten Weg“ meine, so meine ich etwa, was in Nicaragua versucht wird und in Kuba versucht worden ist; seien Sie sicher, daß es weiter versucht werden muß. Ich wollte in dem Gespräch den Ausdruck „real existierender Sozialismus“ vermeiden, der mir zu dumm ist. So bin [ich] auf das Alternativ-Paar Kapitalismus-Sozialismus verfallen. Ich glaube allerdings, daß auch der reine, selbst der reinste Sozialismus nicht ohne eine Wendung zum Metaphysischen auskommen kann; es wird immer ein Teil von uns „fremd“ bleiben. Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich Sie verletzt habe. Ich danke Ihnen für Ihren Hinweis und Ihre Anregungen.
Freundliche Grüße und Dank
Heinrich Böll
* [Die beiden Briefe sind erstmals veröffentlicht worden in: Wolfgang Alles (Hg.), Gegen den Strom, Texte von Willy Boepple (1911-1992), Köln 1997, S. 258 ff.; die Anmerkungen sind für die vorliegende Wiederveröffentlichung ergänzt worden.]
1 [Siegfried Lenz (1926 - 2014), dt. Schriftsteller.]
2 [Wegen Mandels Engagement für die IV. Internationale verhängte Hans-Dietrich Genscher (FDP), damaliger Innenminister der von Willy Brandt geführten Bundesregierung, 1972 ein Einreiseverbot für Mandel, das erst 1978 aufgehoben wurde.]
3 [Walter Jens (1923 - 2013), dt. Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. 1976-82 Präsident des PEN-Zentrums der BRD.]
4 [1977 wurde Mandel dann doch in das PEN-Zentrum der BRD aufgenommen.]
5 [Im Manuskript steht fälschlicherweise „mit 19 Jahren Eintritt in die KPD“.]
6 [Im Manuskript steht irrtümlicherweise 1948.]
7 [Maschinenschriftlicher Durchschlag des Briefes im Nachlaß Willy Boepple ohne Signatur.]
8 [Handschriftliches Original im Nachlaß Willy Boepple.]