Interview der Revista Peruana de Filosofía Aplicada mit Helmut Dahmer*
Was ist Ihrer Meinung nach das Vermächtnis der „Frankfurter Schule“ für die Welt von heute?
Zum einen, dass es drei verschiedenartige Erkenntnisinteressen gibt: das Interesse an Selbsterhaltung, das Interesse an Selbstverständnis und das Interesse an Selbstbefreiung. Das Inter- esse, die menschliche und außermenschliche Natur zu kontrollieren (oder zu beherrschen), treibt die Natur- und Technikwissenschaften – sowie die „positivistisch“ orientierten Sozialwissen- schaften. Das Interesse für die Geschichte menschlicher Kulturen, für ihre Welt- und Menschenbilder, der Wunsch, die uns überlieferten Künste und Texte zu verstehen, beseelt die „Geisteswissenschaften“. Und das Interesse, die Zwangsgewalt menschlicher Institutionen kritisch aufzulösen (handele es sich um äu- ßere, sozio-politische, oder um verinnerlichte, seelische Zwänge) motiviert die Kritik, die sie der Geschichte überliefert.
Zum andern, dass die von Kritikern der kapitalistischen Produktionsweise befürchtete Verkehrung der Produktivkräfte in Destruktivkräfte – nach den beiden Weltkriegen, dem „Holocaust“, dem „Archipel GULag“ und Hiroshima-Nagasaki – in vollem Gange ist und dass darum der „gemeinsame Untergang der kämpfenden Klassen“ (Marx) beziehungsweise die „Selbstauslöschung der Menschheit“ (Freud) eine aktuelle Gefahr ist.
Zum dritten, dass der „Messias“ (wie Franz Kafka vor 100 Jahren schrieb), erst kommen wird, wenn wir ihn nicht mehr brauchen. Das heißt, dass wir selbst alles tun müssen, wozu wir imstande sind, um eine Wiederholung der Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu verhindern, dass es keine Institution gibt, auf die wir dabei bauen können, keine Partei, keinen „Führer“ und schon gar kein „irdisches Paradies“, an denen wir uns orientieren könnten.
Wer sind die bisher meistgelesenen Autoren der [Frankfurter] Schule?
Theodor W. Adorno und Walter Benjamin.
Welche marxistischen Ideen sind Ihrer Meinung nach auch nach dem Fall der Berliner Mauer, der Sowjetunion und anderer sogenannter sozialistischer Länder noch gültig?
Zunächst die Marx’sche (historisch-materialistische) Theorie der Gesellschaftsformationen (oder „Produktionsweisen“) und seine (von der Analyse der „Wertform“ ausgehende) Darstellung der Funktionsweise der kapitalistischen (Welt-)Wirtschaft und ihrer Krisen. Sodann die marxistischen Imperialismus-Theorien der Hilferding, Luxemburg, Lenin, Bucharin und Grossmann. Ferner Trotzkis Analysen des internationalen Faschismus und der stalinistischen Sowjetunion der dreißiger Jahre. Schließlich die historisch-biographischen Darstellungen der Arbeiterrevolutionen und der rätedemokratischen Bewegungen, die uns von Marx, Engels, Luxemburg, Trotzki, Deutscher und anderen hinterlassen sind.
Welche Autoren folgen diesen marxistischen Ideen und verbreiten sie?
Zur Beantwortung dieser Frage empfehle ich, die folgende Literatur zu konsultieren:
Mandel, Ernest (1962), Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt (Suhrkamp) 1968.
Ders. (1972), Der Spätkapitalismus, Versuch einer marxistischen Erklärung, Band 1 und 2, Frankfurt (Suhrkamp) 1972.
Kühne, Karl (1974), Ökonomie und Marxismus, Bd. 1 und 2, Neuwied, Berlin (Luchterhand).
Henning, Christoph (2005), Philosophie nach Marx, 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik, Bielefeld (transcript-Verlag).
Bidet, Jacques, und Stathis Kouvelakis (Hg.) (2005), Critical Companion to Contemporary Marxism, Leiden (Brill Academic Publishers).
Elbe, Ingo (2008), Marx im Westen, Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin (Akademie-Verlag).
Hoff, Jan (2009), Marx global, Zur Entwicklung des internationalen Marx-Diskurses seit 1965, Berlin (Akademie-Verlag).
Stutje, Jan Willem (2009), Rebell zwischen Traum und Tat, Ernest Mandel (1923-1995), Hamburg (VSA).
Braunstein, Dirk (2011, 2025), Adornos Kritik der politischen Ökonomie, Freiburg, Wien (Ca ira-Verlag).
Behrens, Diethard, und Kornelia Hafner (2017), Westlicher Marxismus, Eine Einführung, Stuttgart (Schmetterling Verlag).
Schmidt, Ingo, und Carlo Fanelli (Hg.) (2017), Reading ‚Capital‘ today, London (Pluto Press).
Roberts, Michael (2018), Marx 200, A Review of Marx’s economics 200 years after his Birth, London (Lulu.com).
Später, Jörg (2024), Adornos Erben, Eine Geschichte aus der Bundesrepublik, Berlin (Suhrkamp).
Die Entwicklung der Weltwirtschaft kommentieren regelmäßig die marxistischen Ökonomen Michael Roberts (comment-reply@wordpress.com) und Ingo Schmidt (in der in Köln erscheinenden Sozialistischen Zeitung [SoZ]).
Was würden sie Karl R. Popper und anderen Wissenschaftsphilosophen entgegnen, die behaupteten, die Freud’sche Psychoanalyse sei eine Pseudowissenschaft?
A. Popper, der die Konzeption der „Einheitswissenschaft“ des sogen. Wiener Kreises vertrat und ausbaute – die Natur-Wissenschaft stellt Gesetzeshypothesen auf und sucht sie empirisch zu falsifizieren –, teilte dessen Zweiteilung der bestehenden Wissenschaften in Natur-Wissenschaften und „Dichtung“. Für die kritischen Wissenschaften, deren „Gegenstand“ das „Ganze“ der Gesellschaft (bzw. von Seele und Kultur) und die Geschichte dieses Ganzen ist – samt den in der jeweiligen Gesellschaft entwickelten Wissenschaften –, hatte er kein Verständnis, weder für die von Marx entwickelte „kritische Theorie“, noch für die Freud’sche.
Wenn überhaupt, welche der verschiedenen Varianten der Psychoanalyse wäre die wissenschaftlichste?
Die Psychoanalyse entspricht weder dem Typus der Natur-, noch dem der Geisteswissenschaften. Sie ist eine Rätsellösungs-Kunst. Die Rätsel, die sie zu lösen sucht, sind solche der seelischen bzw. der kulturellen Entwicklung, also z. B. das der Zwangsneurose oder das des Inzesttabus, das Rätsel eines Verfolgungswahns oder das des Antisemitismus. Der Rätselcharakter solcher Phänomene beruht darauf, dass sie als „natür- liche“ erscheinen, obwohl es sich um „Produktionen“ der Lebens- und Sozialgeschichte handelt, deren Genese „vergessen“ ist. Die Rückeroberung der verlorenen Erinnerung eröffnet die Möglichkeit, bewusstlos entstandene, „pseudonatürliche“ Institutionen zu revidieren, sich ihrem Zwang zu entziehen. Dieses „anamnestische“ (oder „genealogische“) [aus der Krankengeschichte sich ergebende] Verfahren führt – im Rahmen von Dialogen – über das „Erklären“ zum „Verstehen“ (also zu „Selbst- reflexion“). Die „wissenschaftlichste“ Psychoanalyse ist dem entsprechend diejenige, die in Theorie und Therapie der Eigenart dieser „unnatürlichen“ Wissenschaft (des Rätsellösens und der Institutionenkritik) Rechnung trägt.
Bestätigen die Erkenntnisse der Neurowissenschaften die psychoanalytische Theorie Freuds oder nicht?
Die Erkenntnisse der neueren Neurowissenschaften gehören – wie die Erkenntnisse aller anderen Natur-Wissenschaften vom Menschen – zu den Voraussetzungen der psychoanalytischen kritischen Psychologie (so, wie sie auch zu den Voraussetzungen der Kritik der politischen Ökonomie gehören). Deren Aufgabe ist aber eine andere, nämlich die der Kritik von Kultur und Wissenschaft. (Freud war ja selbst zunächst ein brillanter Neurowissenschaftler, der dann, in seiner zweiten Karriere, um der Lösung des Rätsels der Hysterie willen eine neuartige Psychologie entwickelte.)
Weder kann die Marx’sche Analyse des Warenwerts durch Genetik und Quantentheorie „bestätigt“ werden, noch die Freud’- sche Trieb- und Kulturtheorie durch die „bildgebenden“ Verfahren der Neurobiologie.
Stehen wir aufgrund der Zunahme des globalen Neofaschismus am Rande der Selbstzerstörung der Menschheit?
Seit der Entwicklung der Atomwaffen und ihrer Verwendung zur Zerstörung der Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 besteht die Möglichkeit der Selbstzerstörung der Menschheit (was Freud 1932 und Günther Anders 1956 erkannt und ausgesprochen haben). Gegenwärtig sind wir Zeugen der Ablösung der wenigen parlamentarischen Demokra- tien (in Europa und Nordamerika) durch autoritäre Regime. Diese Transformation der staatlichen „Überbauten“ kapitalistischer Gesellschaften, also die Verwandlung von Repräsentativ-Demokratien in „plebiszitäre Führerdemokratien“ (Max Weber) oder Präsidialdiktaturen entspricht der Konzentration des Kapitals und der atomaren Destruktionsmittel in wenigen Staaten und in immer weniger Händen. Diese und andere Risiken der Selbstausrottung unserer Gattung (wie die Klimaänderung infolge der herrschenden Wirtschaftsweise, die vom Interesse an Profitmaximierung getrieben ist) haben inzwischen ein solches Ausmaß erreicht, dass große Teile der Bevölkerung sich deren Wahrnehmung durch Verleugnung entziehen (wie wir das bei den Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-Pandemie gesehen haben).
Gibt es Hoffnung und Möglichkeiten für eine bessere Welt durch die Proteste, Forderungen und direkten Aktionen der Menschen auf planetarischer Ebene?
An Protesten, Forderungen und direkten Aktionen sind heutzutage jeweils nur ein paar Dutzend Millionen Menschen von den 8 Milliarden Erdbewohnern beteiligt. Nicht beteiligt ist zum einen die große Mehrheit des privilegierten Fünftels unserer Zeitgenossen, das in den Luxuszonen unserer Erde lebt, und ebenso wenig beteiligt ist jenes andere Fünftel, das verelendet, krank oder auf der Flucht vor Krieg und Hunger ist. Es gibt internationale politische (wie die UN) und Finanz-Institutionen (wie die Weltbank oder den IWF), und es gibt Hilfs- und Wohltätigkeits-Organisationen, aber keine internationale politische Protest- und Widerstands-Organisation, die es mit ihren Gegenspielern, den Armeen, Polizei- und Geheimpolizei-Truppen der vielen autoritären Regime und der wenigen Demokratien aufnehmen könnte. In Dutzenden von Staaten kämpfen gleichzeitig, aber unkoordiniert, oppositionelle Kräfte gegen „Korruption“, also gegen die Unterminierung politischer Regime durch deren Basis, die (kapitalistische) Geldwirtschaft. Flackert in irgendeinem Land ein spontaner Protest auf („Occupy Wallstreet“, „Fridays for future“, „Black lives matter“ etc.), der vielleicht auch ein internationales Echo findet – wie die früheren Antikriegs-Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg, die Stationierung von Mittelstreckenraketen beidseits des „Eisernen Vorhangs“ oder gegen den Irak-Krieg – so erlischt er binnen Monaten oder Jahren, weil es den Protestierenden an Zeit, Geld und Kräften mangelt und weil sie wieder und wieder die Erfahrung machen, dass „Machteliten“ und Regierungen die bestehende Eigentumsordnung verteidigen und darum die Durchsetzung egalitärer und emanzipatorischer Interessen blockieren. „Reformen“, die diesen Namen verdienten – wie die Abschaffung des Hungers und der Verelendung, der Kriege und der Massen-Vernichtungswaffen –, setzen eine Entprivatisierung der Weltwirtschaft voraus, die gegenwärtig jenseits des Vorstellungsvermögens der Bevölkerungsmehrheit liegt, die die bestehende Ungleichheits-, Krisen- und Kriegs-Gesellschaft für eine „natürliche“ hält.
Eine Verteidigung der demokratischen Verfassungen in den wenigen Wohlstandsoasen unserer Welt gegen die totalitären (faschistischen oder fundamentalistischen) Strömungen, die sich zu deren Beseitigung rüsten, ist nur als Vorwärts-Verteidigung möglich: Durch die Erweiterung der Wählerkontrolle über Parlament und Regierung zur Kontrolle über die gesellschaftliche Basis der Demokratien und Autokratien: die Renditenwirtschaft, die der Mehrung privaten Kapitals, nicht der öffentlichen Wohlfahrt dient. Eine Fundierung der parlamentarischen durch eine Wirtschafts-Demokratie könnte die Lebensnot aller Bürgerinnen und Bürger soweit mindern1, dass sie erstmals in der Geschichte zu so etwas wie „Selbstverwaltung“ imstande wären.
Eine solche Reform unserer politischen Ökonomie erscheint gegenwärtig als ebenso notwendig wie unwahrscheinlich. Doch da „der Messias erst kommen wird, wenn wir ihn nicht mehr brauchen“ (Kafka), bleibt es unsere Aufgabe, mit aller Kraft auf eine Kultur hinzuarbeiten, die (wie Freud schrieb) „keinen mehr erdrückt.“