Gute Arbeit“, der belas­te­te Kör­per und die Fra­ge des Widerstandes

 

Wolf­gang Hien

Die Arbeits­so­zio­lo­gie über­schlägt sich mit Stu­di­en und Vor­schlä­gen zu „Gute[r] Arbeit“. Etwa 2005 gab es sei­tens der IG Metall dazu die ers­ten Initia­ti­ven, dann kamen die Auf­trä­ge für den Index Gute Arbeit, dann die For­schungs­auf­trä­ge – nicht zuletzt über den Ein­fluss der IG Metall-Füh­rung auf die Pro­gram­me der Bun­des­re­gie­rung und ande­rer Mittelgeber.

Mitt­ler­wei­le sind zehn Jahr­bü­cher Gute Arbeit (Bund-Ver­lag, Frank­furt am Main) mit ins­ge­samt mehr als 200 wis­sen­schaft­li­chen Auf­sät­zen erschie­nen, allen vor­an von For­schen­den der Fried­rich-Schil­ler-Uni­ver­si­tät Jena und des Insti­tuts für Sozi­al­for­schung (ISF) München.

Mit­tel­wei­le redet auch die wirt­schaft­li­che und poli­ti­sche „Eli­te“ wie selbst­ver­ständ­lich von „Gute[r] Arbeit“, auch die dem Arbeits­mi­nis­te­ri­um unter­stell­te Bun­des­an­stalt für Arbeits­schutz und Arbeits­me­di­zin (BAuA).

Asbestaktion in Berlin, 26. September 2019 (Foto: Privat)

Asbestak­ti­on in Ber­lin, 26. Sep­tem­ber 2019 (Foto: Privat)

Nicht hin­ter­frag­te Grundannahmen
Das Kon­zept „Gute Arbeit“ setzt eini­ge Grund­axio­me – unhin­ter­frag­te Grund­an­nah­men – vor­aus: a) Arbeit – im Kapi­ta­lis­mus also die Lohn­ar­beit – ist für den Men­schen der ent­schei­den­de Fak­tor sei­ner Iden­ti­täts­bil­dung, gleich­sam eine anthro­po­lo­gi­sche Kern­kon­stan­te; b) sinn­vol­le, per­sön­lich­keits­för­dern­de und gesund­erhal­ten­de Arbeit ist im Kapi­ta­lis­mus grund­sätz­lich mög­lich; c) Mecha­ni­sie­rung und Digi­ta­li­sie­rung schaf­fen ten­den­zi­ell schwe­re Arbeit ab; d) Inter­es­sen­ge­gen­sät­ze las­sen sich über Mit­be­stim­mung aus­glei­chen, d.h. „Arbeit­ge­ber“ las­sen sich durch gute Argu­men­te überzeugen.

Um es vor­weg offen zu sagen: Die­se Grund­an­nah­men sind mehr oder weni­ger illu­so­risch, und das wis­sen im Grun­de auch die betei­lig­ten wis­sen­schaft­li­chen, poli­ti­schen, admi­nis­tra­ti­ven und gewerk­schaft­li­chen Akteu­re und Akteu­rin­nen. Und selbst dann, wenn sich Men­schen mit Arbeit, auch mit schlech­ter Arbeit zu iden­ti­fi­zie­ren schei­nen, und ihnen dies selbst so erscheint, erzählt ihr Kör­per – ihr kör­per­li­ches und see­li­sches Leid – eine ande­re Geschichte.

Jede/r drit­te Erwerbs­tä­ti­ge quält sich mit einer, oft­mals mit meh­re­ren chro­ni­schen und schmerz­haf­ten Erkran­kun­gen, bei den Älte­ren (50 Jah­re und älter) ist es jede/r Zweite.

Der Kör­per spricht wahr, der Mund spricht oft unwahr. Und weil aus der leib­li­chen Exis­tenz nie­mand wirk­lich ent­flie­hen kann, staut sich bei vie­len Betrof­fe­nen eine Wut auf, die sich mit der Zeit immer drän­gen­der ein Ven­til sucht, eine Pro­jek­ti­ons­flä­che für die Aggres­sio­nen, die – weil die Mög­lich­keit des kol­lek­ti­ven Wider­stan­des gegen die herr­schen­den Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen so stark ver­schüt­tet ist – ihr Objekt weit verfehlen.

Weit ver­brei­te­te Belastungen
Im Juli die­ses Jah­res kam ein Mit­tei­lungs­blatt der BAuA her­aus (baua: Aktu­ell 2/2019), in dem neue reprä­sen­ta­ti­ve Befra­gungs­er­geb­nis­se ver­öf­fent­licht wur­den. Dem­nach ist schwe­re kör­per­li­che Arbeit in Deutsch­land nach wie vor sehr verbreitet.

Jede/r zwei­te Beschäf­tig­te muss zumeist im Ste­hen arbei­ten, jede/r Fünf­te muss schwer Heben und Tra­gen. In bestimm­ten Bran­chen wie z.B. Bau­wirt­schaft, Logis­tik und Lager­wirt­schaft, Kran­ken- und Alten­pfle­ge, Gas­tro­no­mie und in wei­ten Berei­chen der Dienst­leis­tungs­be­ru­fe ist schwe­re Arbeit an der Tages­ord­nung. Dies gilt auch für die Auto­mo­bil­in­dus­trie und vor allem für deren Zulieferer.

Hin­zu kommt ein stei­gen­des Maß an teil­wei­se extre­men psy­chi­schen Belas­tun­gen. Die BAuA nennt als Bei­spiel die Lager­wirt­schaft mit rund 1,2 Mil­lio­nen Beschäf­tig­ten, die nicht nur unter kör­per­lich anstren­gen­den Tätig­kei­ten sowie Käl­te, Hit­ze, Näs­se und Zug­luft lei­den, son­dern zugleich unter per­ma­nent hohem Ter­min- und Leis­tungs­druck ste­hen, bei gleich­zei­tig man­geln­dem Handlungsspielraum.

Asbestaktion in Berlin, 26. September 2019 (Foto: Privat)

Asbestak­ti­on in Ber­lin, 26. Sep­tem­ber 2019 (Foto: Privat)

Zur schwe­ren Arbeit kom­men zusätz­lich hohe psy­chi­sche Belas­tun­gen hin­zu, die zu leib­see­li­schen Ver­span­nun­gen füh­ren. 61 Pro­zent der Beschäf­tig­ten kla­gen über anhal­ten­de Schmer­zen im unte­ren Rücken­be­reich. Das ist mehr als vor 50 Jah­ren; zugleich neh­men psy­cho­so­ma­ti­sche Erkran­kun­gen deut­lich zu.

Indi­rek­te Steuerung
In For­schungs-, Ent­wick­lungs-, Pla­nungs- und Ver­wal­tungs­be­rei­chen grei­fen Kon­zep­te der Pro­jekt­ar­beit, der „agi­len“ und „fle­xi­blen“ Arbeit und wei­te­rer neue Manage­ment­tech­ni­ken tief in den Arbeits­all­tag hin­ein. Alle sind dar­auf aus­ge­rich­tet, die Leis­tung jedes ein­zel­nen zu steigern.

Im BAuA-Mit­tei­lungs­blatt wird von For­schun­gen des ISF Mün­chen berich­tet, nach denen Ziel­vor­ga­ben bewusst so vor­ge­ge­ben wer­den, dass sie nicht erreich­bar sind. Dies führt zur sys­te­ma­ti­schen Über­las­tung – ein Kon­zept der indi­rek­ten Steue­rung, genau­er: ein Kon­zept der ver­ant­wor­tungs­lo­sen Leistungssteigerung.

So wer­den Pro­ble­me der Arbeits­ver­hält­nis­se, also sozia­le Pro­ble­me, indi­vi­dua­li­siert, d.h. zu einem Pro­blem des Ein­zel­nen gemacht. Immer­hin kon­sta­tie­ren dies die BAuA und die For- scher/innen durch­aus, doch wel­che Lösungs­we­ge geben sie an?

Ich zitie­re wört­lich: „Arbeit­ge­ber kön­nen die hohen Arbeits­an­for­de­run­gen mit einer gesund­heits­för­der­li­chen Gestal­tung der Arbeit begeg­nen“ (S. 5). Und an ande­rer Stel­le heisst es: Arbeits­in­ten­si­tät müs­se genau­er erfasst wer­den, und den Pro­ble­men müs­se durch „gute betrieb­li­che Leis­tungs­po­li­tik sowie eine Kul­tur des gesun­den Schei­terns“ ent­ge­gen­ge­wirkt wer­den (S. 11).

Die­se For­mu­lie­run­gen unter­stel­len, dass die „Arbeit­ge­ber“ ein Inter­es­se dar­an hät­ten, das Leid ihrer Mehr­wert­pro­du­zen­ten/-innen zu lin­dern oder auf­zu­he­ben. Es mag eini­ge ganz weni­ge Unternehmer/innen geben, die der­ar­ti­ges anstre­ben, doch dies sind die Aus­nah­men. Die Mehr­heit sieht das Gan­ze garan­tiert anders, zumal man­che Gut­wil­li­ge vom herr­schen­den „Markt­ge­sche­hen“ eines Bes­se­ren belehrt wur­den und werden.

Des Wei­te­ren klingt im Ter­mi­nus „Leis­tungs­po­li­tik“ für die Betrof­fe­nen immer Ent­frem­dung, Druck und Angst mit. Eine auf das Gemein­wohl ver­pflich­te­te Öko­no­mie, die nicht die Pro­fit­ma­xi­mie­rung, son­dern den gesell­schaft­li­chen und öko­lo­gi­schen Nut­zen für alle Men­schen zum Ziel hat, bräuch­te kei­ne „Leis­tungs­po­li­tik“.

Außer­dem was heißt „gesun­des Schei­tern“, vor allem in Ver­bin­dung mit kapi­ta­lis­ti­schen Ver­hält­nis­sen? Dass Men­schen ler­nen müs­sen, nicht an den gege­be­nen Bedin­gun­gen zu zer­bre­chen, wird in jeder Klas­sen­ge­sell­schaft not­wen­dig sein. Doch Schei­tern im Kon­text von tota­ler Kon­kur­renz – und nichts ande­res hat der neo­li­be­ra­le Kapi­ta­lis­mus in den Betrie­ben instal­liert – ist psy­chisch und psy­cho­so­ma­tisch sehr bedroh­lich und zuwei­len ver­nich­tend. Das wird durch kein Coa­ching und kei­ne Psy­cho­the­ra­pie auf­zu­fan­gen sein.

Neue Kul­tur“ der Ausbeutung
Eine beson­ders heim­tü­cki­sche Form der „neu­en Kul­tur“ ist das Kon­zept der „agi­len Arbeit“. Alle Ver­ant­wor­tung für die Tur­bu­len­zen und Schreck­lich­kei­ten des kapi­ta­lis­ti­schen „Mark­tes“ wer­den auf die arbei­ten­den Men­schen abge­wälzt. Kol­lek­ti­vi­tät darf sich nur im Kon­sens mit den „Markt­er­for­der­nis­sen“ ent­wi­ckeln – eine ent­frem­de­te und letzt­lich absur­de Fehl­ori­en­tie­rung mensch­li­cher Ressourcen.

Es ist bestür­zend zu sehen, wie gewerk­schaft­li­chen Prot­ago­nis­ten der „Gute[n] Arbeit“ sich die­sen Ver­ir­run­gen anbie­dern – sie­he die Aus­ga­be 2019 des Jahr­buchs „Gute Arbeit“.

Asbestaktion in Berlin, 26. September 2019 (Foto: Privat)

Asbestak­ti­on in Ber­lin, 26. Sep­tem­ber 2019 (Foto: Privat)

In mei­nem Buch Die Arbeit des Kör­pers (Man­del­baum-Ver­lag, Wien 2018) habe ich gezeigt, dass aller Digi­ta­li­sie­rung zum Trotz schwe­re kör­per­li­che Arbeit in glo­ba­ler Per­spek­ti­ve immer noch vor­herr­schend ist. Zugleich haben wir es, nicht zuletzt auf­grund des neo­li­be­ra­len Trom­mel­feu­ers, mit einem ekla­tan­ten Repu­ta­ti­ons­ver­lust kör­per­li­cher Arbeit zu tun. Sie gilt längst nicht mehr als der „pro­le­ta­ri­sche Adel“, der sie mal war.

Zugleich dif­fe­ren­ziert sich die Arbeits­welt. Wir sehen eine deut­li­che Pola­ri­sie­rung in nied­rig bewer­te­te Dienst­leis­tungs­ar­beit – Logis­tik, Gas­tro­no­mie, Pfle­ge, Rei­ni­gung und den zuneh­men­den Sek­to­ren pre­kä­rer Arbeit – und höher bewer­te­te Arbeit in Stamm­be­leg­schaf­ten, Ent­wick­lungs- und Marketingbereichen.

Beleg­schaf­ten und Teil­be­leg­schaf­ten wer­den gegen­ein­an­der aus­ge­spielt. Die Kon­kur­renz unter­ein­an­der ver­gif­tet Her­zen und Hir­ne. Neben den klei­nen Lösun­gen brau­chen wir auch grö­ße­re Visio­nen. Und wir brau­chen Brü­cken zwi­schen dem klei­nen All­tag und einer über­grei­fen­den Gemein­schaft­lich­keit, also einer bewuss­ten soli­da­ri­schen Gesell­schaft­lich­keit. Sie kann und muss zu einem poli­ti­schen Fak­tor werden.

Wider­stand gegen unmensch­li­che Arbeitsverhältnisse
Ent­schei­dend wird sein, unmensch­li­chen Arbeits­ver­hält­nis­sen gemein­sa­men Wider­stand ent­ge­gen­zu­set­zen, – wo immer es mög­lich und not­wen­dig ist.

Es wird in aller Regel nichts nut­zen, „Arbeit­ge­ber“ per Mit­be­stim­mung über­zeu­gen zu wol­len, den Zeit- und Leis­tungs­druck zu sen­ken und ins­ge­samt für mehr gesund­heits- för­der­li­che Arbeits­ver­hält­nis­se zu sor­gen. Auch Wissenschaftler/innen und Berater/innen wer­den die Arbeit nicht gesün­der machen.

Das kön­nen nur die Beschäf­tig­ten selbst errei­chen, indem sie für Ent­las­tung, für mehr Per­so­nal, für mehr Pau­sen, für weni­ger Arbeits­vor­ga­ben, für bes­se­re Gesund­heits­schutz­maß­nah­men und gegen alle sinn­lo­sen und will­kür­li­chen Anord­nun­gen kämp­fen. Sei es mit klei­nen oder grö­ße­ren Ver­wei­ge­rungs­ak­tio­nen oder Streiks, sei es mit „Dienst nach Vor­schrift“, Über­stun­den­boy­kott, ver­län­ger­ten Betriebs­ver­samm­lun­gen, sei es mit poli­ti­schen und öffent­lich­keits­wirk­sa­men Aktionen.

Wir müs­sen uns Nischen – in der Arbeits­wis­sen­schaft war von „verborgene(n) Situa­tio­nen“ die Rede – im Betrieb zurück­er­obern oder neu schaf­fen, das heißt Räu­me des angst­frei­en Mit­ein­an­ders, Orte, die dem Leis­tungs­druck und dem unter­neh­me­ri­schen Zugriff ent­zo­gen sind.

Umfas­sen­de Demokratie
Oskar Negt hat in sei­nem Buch Arbeit und mensch­li­che Wür­de (Steidl-Ver­lag 2001) einen ganz ande­ren, nicht ent­frem­de­ten Arbeits­be­griff ent­wi­ckelt. Er hat schon vor 50 Jah­ren dar­auf hin­ge­wie­sen, dass unse­re Demo­kra­tie sys­te­ma­tisch unvoll­stän­dig ist. Die Ursa­che dafür ist, dass sie am Werks­tor, am Betriebs­ein­gang – und mitt­ler­wei­le kann man sagen, durch die inne­re Zen­sur und die Ein­ver­lei­bung der unter­neh­me­ri­schen Zie­le, schon im Kopf vie­ler Beschäf­tig­ter – endet.

Demo­kra­tie ist erst dann ihren Namen wert, wenn alle Arbei­ten­den auf allen Ebe­nen – lokal, regio­nal, natio­nal und glo­bal – dar­über berat­schla­gen und befin­den, was Men­schen brau­chen und danach die Pro­duk­ti­ons- und Dienst­leis­tungs­pro­zes­se ausrichten.

Wolfgang Hien (Foto: Fritz Hofmann)

Wolf­gang Hien (Foto: Fritz Hofmann)

Um die­sen not­wen­di­gen gesell­schaft­li­chen Wan­del ansto­ßen und in Gang brin­gen zu kön­nen, bedarf es frei­lich einer grund­sätz­li­chen „Ent­gif­tung“ unse­res leib­lich-see­li­schen Seins, einer Wie­der­be­sin­nung auf unse­re mensch­li­che Verletzlichkeit.

Genau die­sen Punkt betont die US-ame­ri­ka­ni­sche Sozi­al­phi­lo­so­phin Judith But­ler (zum Bei­spiel in ihrem Buch Kri­tik der ethi­schen Gewalt, Suhr­kamp 2007). Sie sagt: Wir müs­sen unse­re leib­li­che Exis­tenz anneh­men, mit all ihren Schwä­chen, Ver­letz­lich­kei­ten und tat­säch­li­chen Ver­let­zun­gen. Men­schen sind qua Exis­tenz ver­wund­bar, und wir kön­nen uns vor Gefähr­dun­gen, Zurich­tun­gen und Drang­sa­lie­run­gen nur schüt­zen, wenn wir zunächst ein­mal unse­re grund­sätz­li­che Ver­letz­lich­keit aner­ken­nen. Dann kön­nen sich unse­re Angst und unse­re Wut zu einer kol­lek­ti­ven Kraft ver­wan­deln. Dann braucht sich die Wut kein Ersatz­ob­jekt zu suchen.

Es geht um eine Bewe­gung, die sich sowohl der Bedeu­tung unse­rer leib­li­chen und see­li­schen Exis­tenz erin­nert als auch des Men­schen als Gemein­schafts­we­sen und als Teil der Natur. Der Gesund­heits­schutz am Arbeits­platz kann in die­sem Sin­ne sys­tem­spren­gend sein, und als sol­chen soll­ten wir ihn auch aufgreifen.

Theo­rie­bei­la­ge der Avan­ti² Rhein-Neckar Novem­ber 2019
Tagged , , , , . Bookmark the permalink.