Wolfgang Hien
Die Arbeitssoziologie überschlägt sich mit Studien und Vorschlägen zu „Gute[r] Arbeit“. Etwa 2005 gab es seitens der IG Metall dazu die ersten Initiativen, dann kamen die Aufträge für den Index Gute Arbeit, dann die Forschungsaufträge – nicht zuletzt über den Einfluss der IG Metall-Führung auf die Programme der Bundesregierung und anderer Mittelgeber.
Mittlerweile sind zehn Jahrbücher Gute Arbeit (Bund-Verlag, Frankfurt am Main) mit insgesamt mehr als 200 wissenschaftlichen Aufsätzen erschienen, allen voran von Forschenden der Friedrich-Schiller-Universität Jena und des Instituts für Sozialforschung (ISF) München.
Mittelweile redet auch die wirtschaftliche und politische „Elite“ wie selbstverständlich von „Gute[r] Arbeit“, auch die dem Arbeitsministerium unterstellte Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA).
Nicht hinterfragte Grundannahmen
Das Konzept „Gute Arbeit“ setzt einige Grundaxiome – unhinterfragte Grundannahmen – voraus: a) Arbeit – im Kapitalismus also die Lohnarbeit – ist für den Menschen der entscheidende Faktor seiner Identitätsbildung, gleichsam eine anthropologische Kernkonstante; b) sinnvolle, persönlichkeitsfördernde und gesunderhaltende Arbeit ist im Kapitalismus grundsätzlich möglich; c) Mechanisierung und Digitalisierung schaffen tendenziell schwere Arbeit ab; d) Interessengegensätze lassen sich über Mitbestimmung ausgleichen, d.h. „Arbeitgeber“ lassen sich durch gute Argumente überzeugen.
Um es vorweg offen zu sagen: Diese Grundannahmen sind mehr oder weniger illusorisch, und das wissen im Grunde auch die beteiligten wissenschaftlichen, politischen, administrativen und gewerkschaftlichen Akteure und Akteurinnen. Und selbst dann, wenn sich Menschen mit Arbeit, auch mit schlechter Arbeit zu identifizieren scheinen, und ihnen dies selbst so erscheint, erzählt ihr Körper – ihr körperliches und seelisches Leid – eine andere Geschichte.
Jede/r dritte Erwerbstätige quält sich mit einer, oftmals mit mehreren chronischen und schmerzhaften Erkrankungen, bei den Älteren (50 Jahre und älter) ist es jede/r Zweite.
Der Körper spricht wahr, der Mund spricht oft unwahr. Und weil aus der leiblichen Existenz niemand wirklich entfliehen kann, staut sich bei vielen Betroffenen eine Wut auf, die sich mit der Zeit immer drängender ein Ventil sucht, eine Projektionsfläche für die Aggressionen, die – weil die Möglichkeit des kollektiven Widerstandes gegen die herrschenden Arbeits- und Lebensbedingungen so stark verschüttet ist – ihr Objekt weit verfehlen.
Weit verbreitete Belastungen
Im Juli dieses Jahres kam ein Mitteilungsblatt der BAuA heraus (baua: Aktuell 2/2019), in dem neue repräsentative Befragungsergebnisse veröffentlicht wurden. Demnach ist schwere körperliche Arbeit in Deutschland nach wie vor sehr verbreitet.
Jede/r zweite Beschäftigte muss zumeist im Stehen arbeiten, jede/r Fünfte muss schwer Heben und Tragen. In bestimmten Branchen wie z.B. Bauwirtschaft, Logistik und Lagerwirtschaft, Kranken- und Altenpflege, Gastronomie und in weiten Bereichen der Dienstleistungsberufe ist schwere Arbeit an der Tagesordnung. Dies gilt auch für die Automobilindustrie und vor allem für deren Zulieferer.
Hinzu kommt ein steigendes Maß an teilweise extremen psychischen Belastungen. Die BAuA nennt als Beispiel die Lagerwirtschaft mit rund 1,2 Millionen Beschäftigten, die nicht nur unter körperlich anstrengenden Tätigkeiten sowie Kälte, Hitze, Nässe und Zugluft leiden, sondern zugleich unter permanent hohem Termin- und Leistungsdruck stehen, bei gleichzeitig mangelndem Handlungsspielraum.
Zur schweren Arbeit kommen zusätzlich hohe psychische Belastungen hinzu, die zu leibseelischen Verspannungen führen. 61 Prozent der Beschäftigten klagen über anhaltende Schmerzen im unteren Rückenbereich. Das ist mehr als vor 50 Jahren; zugleich nehmen psychosomatische Erkrankungen deutlich zu.
Indirekte Steuerung
In Forschungs-, Entwicklungs-, Planungs- und Verwaltungsbereichen greifen Konzepte der Projektarbeit, der „agilen“ und „flexiblen“ Arbeit und weiterer neue Managementtechniken tief in den Arbeitsalltag hinein. Alle sind darauf ausgerichtet, die Leistung jedes einzelnen zu steigern.
Im BAuA-Mitteilungsblatt wird von Forschungen des ISF München berichtet, nach denen Zielvorgaben bewusst so vorgegeben werden, dass sie nicht erreichbar sind. Dies führt zur systematischen Überlastung – ein Konzept der indirekten Steuerung, genauer: ein Konzept der verantwortungslosen Leistungssteigerung.
So werden Probleme der Arbeitsverhältnisse, also soziale Probleme, individualisiert, d.h. zu einem Problem des Einzelnen gemacht. Immerhin konstatieren dies die BAuA und die For- scher/innen durchaus, doch welche Lösungswege geben sie an?
Ich zitiere wörtlich: „Arbeitgeber können die hohen Arbeitsanforderungen mit einer gesundheitsförderlichen Gestaltung der Arbeit begegnen“ (S. 5). Und an anderer Stelle heisst es: Arbeitsintensität müsse genauer erfasst werden, und den Problemen müsse durch „gute betriebliche Leistungspolitik sowie eine Kultur des gesunden Scheiterns“ entgegengewirkt werden (S. 11).
Diese Formulierungen unterstellen, dass die „Arbeitgeber“ ein Interesse daran hätten, das Leid ihrer Mehrwertproduzenten/-innen zu lindern oder aufzuheben. Es mag einige ganz wenige Unternehmer/innen geben, die derartiges anstreben, doch dies sind die Ausnahmen. Die Mehrheit sieht das Ganze garantiert anders, zumal manche Gutwillige vom herrschenden „Marktgeschehen“ eines Besseren belehrt wurden und werden.
Des Weiteren klingt im Terminus „Leistungspolitik“ für die Betroffenen immer Entfremdung, Druck und Angst mit. Eine auf das Gemeinwohl verpflichtete Ökonomie, die nicht die Profitmaximierung, sondern den gesellschaftlichen und ökologischen Nutzen für alle Menschen zum Ziel hat, bräuchte keine „Leistungspolitik“.
Außerdem was heißt „gesundes Scheitern“, vor allem in Verbindung mit kapitalistischen Verhältnissen? Dass Menschen lernen müssen, nicht an den gegebenen Bedingungen zu zerbrechen, wird in jeder Klassengesellschaft notwendig sein. Doch Scheitern im Kontext von totaler Konkurrenz – und nichts anderes hat der neoliberale Kapitalismus in den Betrieben installiert – ist psychisch und psychosomatisch sehr bedrohlich und zuweilen vernichtend. Das wird durch kein Coaching und keine Psychotherapie aufzufangen sein.
„Neue Kultur“ der Ausbeutung
Eine besonders heimtückische Form der „neuen Kultur“ ist das Konzept der „agilen Arbeit“. Alle Verantwortung für die Turbulenzen und Schrecklichkeiten des kapitalistischen „Marktes“ werden auf die arbeitenden Menschen abgewälzt. Kollektivität darf sich nur im Konsens mit den „Markterfordernissen“ entwickeln – eine entfremdete und letztlich absurde Fehlorientierung menschlicher Ressourcen.
Es ist bestürzend zu sehen, wie gewerkschaftlichen Protagonisten der „Gute[n] Arbeit“ sich diesen Verirrungen anbiedern – siehe die Ausgabe 2019 des Jahrbuchs „Gute Arbeit“.
In meinem Buch Die Arbeit des Körpers (Mandelbaum-Verlag, Wien 2018) habe ich gezeigt, dass aller Digitalisierung zum Trotz schwere körperliche Arbeit in globaler Perspektive immer noch vorherrschend ist. Zugleich haben wir es, nicht zuletzt aufgrund des neoliberalen Trommelfeuers, mit einem eklatanten Reputationsverlust körperlicher Arbeit zu tun. Sie gilt längst nicht mehr als der „proletarische Adel“, der sie mal war.
Zugleich differenziert sich die Arbeitswelt. Wir sehen eine deutliche Polarisierung in niedrig bewertete Dienstleistungsarbeit – Logistik, Gastronomie, Pflege, Reinigung und den zunehmenden Sektoren prekärer Arbeit – und höher bewertete Arbeit in Stammbelegschaften, Entwicklungs- und Marketingbereichen.
Belegschaften und Teilbelegschaften werden gegeneinander ausgespielt. Die Konkurrenz untereinander vergiftet Herzen und Hirne. Neben den kleinen Lösungen brauchen wir auch größere Visionen. Und wir brauchen Brücken zwischen dem kleinen Alltag und einer übergreifenden Gemeinschaftlichkeit, also einer bewussten solidarischen Gesellschaftlichkeit. Sie kann und muss zu einem politischen Faktor werden.
Widerstand gegen unmenschliche Arbeitsverhältnisse
Entscheidend wird sein, unmenschlichen Arbeitsverhältnissen gemeinsamen Widerstand entgegenzusetzen, – wo immer es möglich und notwendig ist.
Es wird in aller Regel nichts nutzen, „Arbeitgeber“ per Mitbestimmung überzeugen zu wollen, den Zeit- und Leistungsdruck zu senken und insgesamt für mehr gesundheits- förderliche Arbeitsverhältnisse zu sorgen. Auch Wissenschaftler/innen und Berater/innen werden die Arbeit nicht gesünder machen.
Das können nur die Beschäftigten selbst erreichen, indem sie für Entlastung, für mehr Personal, für mehr Pausen, für weniger Arbeitsvorgaben, für bessere Gesundheitsschutzmaßnahmen und gegen alle sinnlosen und willkürlichen Anordnungen kämpfen. Sei es mit kleinen oder größeren Verweigerungsaktionen oder Streiks, sei es mit „Dienst nach Vorschrift“, Überstundenboykott, verlängerten Betriebsversammlungen, sei es mit politischen und öffentlichkeitswirksamen Aktionen.
Wir müssen uns Nischen – in der Arbeitswissenschaft war von „verborgene(n) Situationen“ die Rede – im Betrieb zurückerobern oder neu schaffen, das heißt Räume des angstfreien Miteinanders, Orte, die dem Leistungsdruck und dem unternehmerischen Zugriff entzogen sind.
Umfassende Demokratie
Oskar Negt hat in seinem Buch Arbeit und menschliche Würde (Steidl-Verlag 2001) einen ganz anderen, nicht entfremdeten Arbeitsbegriff entwickelt. Er hat schon vor 50 Jahren darauf hingewiesen, dass unsere Demokratie systematisch unvollständig ist. Die Ursache dafür ist, dass sie am Werkstor, am Betriebseingang – und mittlerweile kann man sagen, durch die innere Zensur und die Einverleibung der unternehmerischen Ziele, schon im Kopf vieler Beschäftigter – endet.
Demokratie ist erst dann ihren Namen wert, wenn alle Arbeitenden auf allen Ebenen – lokal, regional, national und global – darüber beratschlagen und befinden, was Menschen brauchen und danach die Produktions- und Dienstleistungsprozesse ausrichten.
Um diesen notwendigen gesellschaftlichen Wandel anstoßen und in Gang bringen zu können, bedarf es freilich einer grundsätzlichen „Entgiftung“ unseres leiblich-seelischen Seins, einer Wiederbesinnung auf unsere menschliche Verletzlichkeit.
Genau diesen Punkt betont die US-amerikanische Sozialphilosophin Judith Butler (zum Beispiel in ihrem Buch Kritik der ethischen Gewalt, Suhrkamp 2007). Sie sagt: Wir müssen unsere leibliche Existenz annehmen, mit all ihren Schwächen, Verletzlichkeiten und tatsächlichen Verletzungen. Menschen sind qua Existenz verwundbar, und wir können uns vor Gefährdungen, Zurichtungen und Drangsalierungen nur schützen, wenn wir zunächst einmal unsere grundsätzliche Verletzlichkeit anerkennen. Dann können sich unsere Angst und unsere Wut zu einer kollektiven Kraft verwandeln. Dann braucht sich die Wut kein Ersatzobjekt zu suchen.
Es geht um eine Bewegung, die sich sowohl der Bedeutung unserer leiblichen und seelischen Existenz erinnert als auch des Menschen als Gemeinschaftswesen und als Teil der Natur. Der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz kann in diesem Sinne systemsprengend sein, und als solchen sollten wir ihn auch aufgreifen.