„Die Höhe der Profite ist unantastbar“
E. B.
Die Kapitalstrategien werden aggressiver – „wirtschaftlich“ und politisch. Artikel 1 des Grundgesetzes (GG), dessen 70. Jahrestag mit Pomp gefeiert wird, ist eindeutig: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Diese Formulierung war eine Reaktion auf die beispiellosen Verbrechen der Nazi-Diktatur.
Aktuell sehen wir die Transformation der Bundesrepublik durch zentrale Kapitalfraktionen und ihre politischen Erfüllungsgehilfen in eine „marktkonforme Demokratie“. Die zunehmende Aushebelung von Grundrechten findet parallel zum Aufstieg rechtsextremer Parteien mit bedrohlichen neofaschistischen Einfärbungen statt.
Es sollen hierzulande nun andere Schwerpunktsetzungen gelten. Statt des historischen Artikels 1 GG wird faktisch in weiten Bereichen der Wirtschaft neu formuliert: „Die Höhe der Profite ist unantastbar.“
Es ist ein weitverbreiteter Mythos, dass das Grundgesetz den Kapitalismus als Wirtschaftssystem festgeschrieben hätte. Vor allem Wolfgang Abendroth, der sozialistische „Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer“, hat sehr fundiert Alternativen formuliert. Für ihn war das „Fernziel der [sozialistischen] Umstrukturierung der gesamten Wirtschaftsgesellschaft“ im Grundgesetz angelegt. Das dort festgeschriebene sozialstaatliche Bekenntnis hielt er nicht bloß für einen formalen Rechtsbegriff, sondern für die verpflichtende Begründung einer demokratischen und sozialen Wirtschaftsordnung jenseits des Kapitalismus.*
In Zusammenhang mit der hysterischen Debatte um den „Enteignungs“-Artikel 15 GG muss selbst die konservative Frankfurter Allgemeine in ihrer Ausgabe vom 14. April 2019 eingestehen: „Das Grundgesetz verhält sich – vorsichtig gesprochen – zur Frage der Wirtschaftsordnung neutral. Von Marktwirtschaft ist dort nirgends explizit die Rede, wohl aber von Gemeinwirtschaft [und von Vergesellschaftung, E.B.]. Erst Artikel 3 des 2009 in Kraft getretenen Lissabon-Vertrags verpflichtet die Mitgliedsländer der EU auf das Ziel einer ‚sozialen Marktwirtschaft‘.“ Mit Bedauern stellt das Blatt dann fest: „Diese Fortschrittsgeschichte wäre ein guter Grund, dem Artikel 15 den Laufpass zu geben. Doch angesichts der aktuellen Enteignungseuphorie in allen politischen Lagern bekäme ein solcher Antrag nie und nimmer eine Zweidrittelmehrheit.“
Wenn das keine Steilvorlage für konsequente Linke und GewerkschafterInnen ist? Sie sind gerade heute gut beraten, Abendroths Argumentation zur Kenntnis zu nehmen. Für ihn waren „die rechtsstaatlichen Grundrechte immer eine Voraussetzung für die Realisierung einer sozialistischen Gesellschaft“, die elementar dem Zerrbild stalinistischer Diktaturen und der unkontrollierten Macht des Kapitalismus widerspricht. Logischerweise trat Abendroth deshalb auch für die massive Ausweitung demokratischer Rechte und Freiheiten in allen Bereichen ein.
* [Vgl. Wolfgang Abendroth, Das Grundgesetz, Einführung in seine politischen Probleme, Pfullingen 1966.]