Kon­gress der IG BCE

Vor­wärts – und alles vergessen?*

 

J. H. Wassermann

Vom 24. bis 28. Okto­ber 2021 haben 400 Dele­gier­te und knapp 300 wei­te­re ehren­amt­li­che und haupt­amt­li­che Funk­tio­nä­rin­nen und Funk­tio­nä­re am 7. Ordent­li­chen Gewerk­schafts­kon­gress der Indus­trie­ge­werk­schaft Berg­bau, Che­mie, Ener­gie (IG BCE) in Han­no­ver teil­ge­nom­men. Die IG BCE ist mit knapp 600.000 Mit­glie­dern die zweit­stärks­te Indus­trie­ge­werk­schaft in Deutschland.

Aktive IG BCE-Basis am 1. Mai 2021 in Mannheim. (Foto: helmut-roos@web.de.)

Akti­ve IG BCE-Basis am 1. Mai 2021 in Mann­heim. (Foto: helmut-roos@web.de.)

Erst wäh­len, dann diskutieren
Neben den fünf ehren­amt­li­chen Mit­glie­dern des geschäfts­füh­ren­den Haupt­vor­stan­des (gHV) wur­den aus den acht Lan­des­be­zir­ken je drei ehren­amt­li­che Haupt­vor­stands­mit­glie­der gewählt, so- wie je eine Ver­tre­te­rin der Per­so­nen­grup­pen Frau­en und Jugend. Die drei männ­li­chen gHV-Mit­glie­der erhiel­ten „SED-Ergeb­nis­se“ von 95 % plus, ihre bei­den Kol­le­gin­nen knapp unter 90 %.

Für die Haupt­amt­li­chen und für alle, die den Appa­rat für das Wich­tigs­te einer Gewerk­schaft hal­ten, sind natür­lich die Wah­len und das Pres­se­echo am bedeut­sams­ten bei einer sol­chen Veranstaltung.

Part­ner in der „Trans­for­ma­ti­on“
Die IG BCE hat schon mehr­fach gezeigt hat, wie gan­ze Bran­chen „abge­wi­ckelt“ und dabei zehn­tau­sen­de von Arbeits­plät­zen mit kräf­ti­ger staat­li­cher Bezu­schus­sung „sozi­al­ver­träg­lich“ aus­ra­diert wer­den können.

Die IG BCE-Füh­rung sieht sich als „ver­läss­li­cher“ Part­ner der anste­hen­den „unver­meid­li­chen, not­wen­di­gen und wün­schens­wer­ten Trans­for­ma­ti­on“. Wün­schens­wert ist sie nicht etwa wegen des zu begren­zen­den Kli­ma­wan­dels, das ist das Not­wen­di­ge. Und auch nicht wegen der inter­na­tio­na­len Kon­kur­renz um neue, weni­ger umwelt­schäd­li­che Tech­no­lo­gien – das ist das Unver­meid­li­che. Die neu­en indus­tri­el­len Wert­schöp­fungs­ket­ten sol­len aber in Deutsch­land ent­ste­hen, das ist das Wün­schens­wer­te. Der Weg dahin soll aber „fair und gerecht“ sein.

Beson­de­re „Dis­kus­si­ons­kul­tur“ …
Wird denn bei einem IG BCE-Kon­gress nicht über die Inhal­te und die Aus­rich­tung, was in Zukunft gemacht wer­den soll, dis­ku­tiert? Doch, aller­dings in einer ganz beson­de­ren Form. Übli­cher­wei­se fin­det die­se Debat­te bei der Antrags­be­ra­tung statt.

Aus den Basis­glie­de­run­gen der Ver­trau­ens­leu­te und Orts­grup­pen konn­ten Anträ­ge über die Bezirks- und Lan­des­be­zirks­de­le­gier­ten­kon­fe­ren­zen gestellt wer­den. Die­ses Jahr waren es 460 und damit mehr als je zuvor. Sie wur­den dann in einem zwei­tä­gi­gen Sit­zungs­ma­ra­thon abgearbeitet.

In den Sach­ge­bie­ten: Wirt­schaft, Gesell­schaft, Indus­trie­po­li­tik, Orga­ni­sa­ti­ons­le­ben und Tarif­po­li­tik stand jeweils ein – zwar nicht so genann­ter, aber die Funk­ti­on erfül­len­der – „Leit­an­trag“ des Haupt­vor­stan­des am Anfang.

Bei der Bera­tung wird dann von der mäch­ti­gen Antrags­kom­mis­si­on, die im Vor­feld alle Anträ­ge durch­ge­ar­bei­tet und mit Emp­feh­lun­gen ver­se­hen hat, erklärt, dass mit der Annah­me des Leit­an- tra­ges zahl­rei­che Anträ­ge „als Mate­ri­al“ auch ange­nom­men seien.

Bei vie­len Anträ­gen war das Anlie­gen so gela­gert, dass eine Annah­me zu „ver­pflich­tend“ wäre, aber nie­mand die grund­sätz­li­che Berech­ti­gung bestrei­ten moch­te. Dann wird es als unver­bind­li­ches Mate­ri­al an „Haupt­vor­stand wei­ter­ge­lei­tet“. Die­ses Schick­sal ereil­te immer­hin 79 von den 460 Anträgen.

Und dann gab es noch ein paar weni­ge Anträ­ge, die zur „Ableh­nung“ emp­foh­len wur­den. Das war dann der Fall, wenn es im Wider­spruch zur Beschluss­la­ge stand oder poli­tisch nicht gewollt war.

Die­ses Ver­fah­ren führ­te dazu, dass es prak­tisch kei­ne inhalt­li­che Dis­kus­si­on gab. Es gab zwar auf die­sem Kon­gress mehr Wort­mel­dun­gen in der Antrags­de­bat­te als je zuvor. Aber Kri­tik an den Leit­an­trä­gen gab es keine.

… mit nur zwei Ausnahmen
Es gab nur zwei Aus­nah­men von die­ser „Dis­kus­si­ons­kul­tur“.

Beim The­ma Ren­te gibt es immer noch eini­ge Unver­zag­te, die fin­den, dass das gesetz­li­che Ren­ten­al­ter mit 67 Jah­ren zu hoch sei und 45 Bei­trags­jah­re zu vie­le sei­en, um ohne Abschlä­ge in Ren­te zu gehen. Die Beschluss­la­ge war und ist aber, dass die neo­li­be­ra­len „Refor­men“ der „Agen­da 2010“ nicht rück­gän­gig gemacht wer­den könnten.

Von „der Jugend“ gab es offen­sicht­lich abge­spro­che­ne Ver­su­che, „ihre“ Anträ­ge jeweils zu popu­la­ri­sie­ren. Die bis­her unver­bind­li­che tarif­li­che Ver­ein­ba­rung zur Gesamt­an­zahl von Aus­bil­dungs­plät­zen in der Che­mie­in­dus­trie soll­te in eine ver­bind­li­che, betriebs­be­zo­ge­ne Quo­te umge­formt werden.

Zwei kon­kre­te Anträ­ge zur Über­nah­me nach der Aus­bil­dung und zum Ren­ten­al­ter wur­den nach ent­spre­che­der Emp­feh­lung der Antrags­kom­mis­si­on abgelehnt.

Geräusch­lo­se“ Tarifpolitik
Unvor­ein­ge­nom­me­ne könn­ten anneh­men, dass Tarif­po­li­tik der Kern von Gewerk­schaft sei. Und dass es des­halb dar­über bestimmt Dis­kus­sio­nen geben wür­de. Dem war nicht so. Vor eini­gen Jah­ren hat­te es nach einem Tarif­ab­schluss in der Che­mi­schen Indus­trie noch meh­re­re hun­dert Aus­trit­te aus­ge­rech­net beim Kern­be­trieb BASF in Lud­wigs­ha­fen gege­ben. Aber seit­dem hört man nichts von einer Kri­tik an den meist „geräusch­los“ erreich­ten Regelungen.

Aus der beschlos­se­nen Antrags­la­ge lässt sich auch nicht ablei­ten, wel­che Art von Tarif­po­li­tik die IG BCE in der Zukunft ver­fol­gen wird. Der Leit­an­trag war so all­ge­mein for­mu­liert, dass damit alles gerecht­fer­tigt wer­den kann. Nicht weni­ger als 23 wei­te­re tarif­po­li­ti­sche Anträ­ge wur­den hier als „Mate­ri­al ange­nom­men“. Aber mit Aus­nah­me eines Antrags, wel­cher eine Lan­ze für Arbeits­zeit­ver­kür­zung in jeder Form brach, und dies als all­ge­mei­ne Ori­en­tie­rung vor­schlug, gab es auch in die­sen Anträ­gen kei­ne wirk­li­chen Alter­na­ti- ven oder Fokussierungen.

Kul­tur als Kitt
Eine Groß­ver­an­stal­tung über fünf Tage mit meh­re­ren Hun­dert Teil­neh­men­den braucht auch etwas Kul­tur, am bes­ten Musik zum Mit­tan­zen und Mitsingen.

Dies­mal spiel­ten bei der Eröff­nungs­fei­er die Brings aus Köln Mund­art­rock. Die IG BCE hat­te einen eige­nen Rock­song in Auf­trag gege­ben, der mit gro­ßem Bei­fall bedacht wur­de. Die Band spiel­te auch ihre ver­rock­ten Ver­sio­nen des Ein­heits­front­lie­des und des Soli­da­ri­täts­lie­des. Ob nun der Text das Publi­kum begeis­ter­te oder ein­fach der schmis­si­ge Rhyth­mus des Dis­co­fox, man weiß es nicht. Und wel­che Umdre­hungs­zah­len Ber­told Brecht und Hanns Eis­ler in ihren Grä­bern erreich­ten, war auch nicht festzustellen.

Zum Abschluss wur­de dann gemein­sam „Brü­der zur Son­ne, zur Frei­heit“ gesun­gen: „Brü­der, in eins nun die Hän­de, Brü­der, das Ster­ben ver­lacht! Ewig, der Sklav’rei ein Ende, hei­lig die letz­te Schlacht!“

Nach die­sem Gewerk­schafts­kon­gress darf wei­ter­hin bezwei­felt wer­den, dass die IG BCE „der letz­ten Schlacht“ oder über­haupt einer Aus­ein­an­der­set­zung, die die­sen Namen ver­dient, entgegenfiebert.


*[Dies ist eine aus Platz­grün­den stark gekürz­te und redak­tio­nell bear­bei­te­te Fas­sung des ursprüng­lich im Netz ver­öf­fent­lich­ten Tex­tes – www.intersoz.org/vorwaerts-und-alles-vergessen/]

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Dezem­ber 2021
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