Vorwärts – und alles vergessen?*
J. H. Wassermann
Vom 24. bis 28. Oktober 2021 haben 400 Delegierte und knapp 300 weitere ehrenamtliche und hauptamtliche Funktionärinnen und Funktionäre am 7. Ordentlichen Gewerkschaftskongress der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) in Hannover teilgenommen. Die IG BCE ist mit knapp 600.000 Mitgliedern die zweitstärkste Industriegewerkschaft in Deutschland.
Erst wählen, dann diskutieren
Neben den fünf ehrenamtlichen Mitgliedern des geschäftsführenden Hauptvorstandes (gHV) wurden aus den acht Landesbezirken je drei ehrenamtliche Hauptvorstandsmitglieder gewählt, so- wie je eine Vertreterin der Personengruppen Frauen und Jugend. Die drei männlichen gHV-Mitglieder erhielten „SED-Ergebnisse“ von 95 % plus, ihre beiden Kolleginnen knapp unter 90 %.
Für die Hauptamtlichen und für alle, die den Apparat für das Wichtigste einer Gewerkschaft halten, sind natürlich die Wahlen und das Presseecho am bedeutsamsten bei einer solchen Veranstaltung.
Partner in der „Transformation“
Die IG BCE hat schon mehrfach gezeigt hat, wie ganze Branchen „abgewickelt“ und dabei zehntausende von Arbeitsplätzen mit kräftiger staatlicher Bezuschussung „sozialverträglich“ ausradiert werden können.
Die IG BCE-Führung sieht sich als „verlässlicher“ Partner der anstehenden „unvermeidlichen, notwendigen und wünschenswerten Transformation“. Wünschenswert ist sie nicht etwa wegen des zu begrenzenden Klimawandels, das ist das Notwendige. Und auch nicht wegen der internationalen Konkurrenz um neue, weniger umweltschädliche Technologien – das ist das Unvermeidliche. Die neuen industriellen Wertschöpfungsketten sollen aber in Deutschland entstehen, das ist das Wünschenswerte. Der Weg dahin soll aber „fair und gerecht“ sein.
Besondere „Diskussionskultur“ …
Wird denn bei einem IG BCE-Kongress nicht über die Inhalte und die Ausrichtung, was in Zukunft gemacht werden soll, diskutiert? Doch, allerdings in einer ganz besonderen Form. Üblicherweise findet diese Debatte bei der Antragsberatung statt.
Aus den Basisgliederungen der Vertrauensleute und Ortsgruppen konnten Anträge über die Bezirks- und Landesbezirksdelegiertenkonferenzen gestellt werden. Dieses Jahr waren es 460 und damit mehr als je zuvor. Sie wurden dann in einem zweitägigen Sitzungsmarathon abgearbeitet.
In den Sachgebieten: Wirtschaft, Gesellschaft, Industriepolitik, Organisationsleben und Tarifpolitik stand jeweils ein – zwar nicht so genannter, aber die Funktion erfüllender – „Leitantrag“ des Hauptvorstandes am Anfang.
Bei der Beratung wird dann von der mächtigen Antragskommission, die im Vorfeld alle Anträge durchgearbeitet und mit Empfehlungen versehen hat, erklärt, dass mit der Annahme des Leitan- trages zahlreiche Anträge „als Material“ auch angenommen seien.
Bei vielen Anträgen war das Anliegen so gelagert, dass eine Annahme zu „verpflichtend“ wäre, aber niemand die grundsätzliche Berechtigung bestreiten mochte. Dann wird es als unverbindliches Material an „Hauptvorstand weitergeleitet“. Dieses Schicksal ereilte immerhin 79 von den 460 Anträgen.
Und dann gab es noch ein paar wenige Anträge, die zur „Ablehnung“ empfohlen wurden. Das war dann der Fall, wenn es im Widerspruch zur Beschlusslage stand oder politisch nicht gewollt war.
Dieses Verfahren führte dazu, dass es praktisch keine inhaltliche Diskussion gab. Es gab zwar auf diesem Kongress mehr Wortmeldungen in der Antragsdebatte als je zuvor. Aber Kritik an den Leitanträgen gab es keine.
… mit nur zwei Ausnahmen
Es gab nur zwei Ausnahmen von dieser „Diskussionskultur“.
Beim Thema Rente gibt es immer noch einige Unverzagte, die finden, dass das gesetzliche Rentenalter mit 67 Jahren zu hoch sei und 45 Beitragsjahre zu viele seien, um ohne Abschläge in Rente zu gehen. Die Beschlusslage war und ist aber, dass die neoliberalen „Reformen“ der „Agenda 2010“ nicht rückgängig gemacht werden könnten.
Von „der Jugend“ gab es offensichtlich abgesprochene Versuche, „ihre“ Anträge jeweils zu popularisieren. Die bisher unverbindliche tarifliche Vereinbarung zur Gesamtanzahl von Ausbildungsplätzen in der Chemieindustrie sollte in eine verbindliche, betriebsbezogene Quote umgeformt werden.
Zwei konkrete Anträge zur Übernahme nach der Ausbildung und zum Rentenalter wurden nach entsprecheder Empfehlung der Antragskommission abgelehnt.
„Geräuschlose“ Tarifpolitik
Unvoreingenommene könnten annehmen, dass Tarifpolitik der Kern von Gewerkschaft sei. Und dass es deshalb darüber bestimmt Diskussionen geben würde. Dem war nicht so. Vor einigen Jahren hatte es nach einem Tarifabschluss in der Chemischen Industrie noch mehrere hundert Austritte ausgerechnet beim Kernbetrieb BASF in Ludwigshafen gegeben. Aber seitdem hört man nichts von einer Kritik an den meist „geräuschlos“ erreichten Regelungen.
Aus der beschlossenen Antragslage lässt sich auch nicht ableiten, welche Art von Tarifpolitik die IG BCE in der Zukunft verfolgen wird. Der Leitantrag war so allgemein formuliert, dass damit alles gerechtfertigt werden kann. Nicht weniger als 23 weitere tarifpolitische Anträge wurden hier als „Material angenommen“. Aber mit Ausnahme eines Antrags, welcher eine Lanze für Arbeitszeitverkürzung in jeder Form brach, und dies als allgemeine Orientierung vorschlug, gab es auch in diesen Anträgen keine wirklichen Alternati- ven oder Fokussierungen.
Kultur als Kitt
Eine Großveranstaltung über fünf Tage mit mehreren Hundert Teilnehmenden braucht auch etwas Kultur, am besten Musik zum Mittanzen und Mitsingen.
Diesmal spielten bei der Eröffnungsfeier die Brings aus Köln Mundartrock. Die IG BCE hatte einen eigenen Rocksong in Auftrag gegeben, der mit großem Beifall bedacht wurde. Die Band spielte auch ihre verrockten Versionen des Einheitsfrontliedes und des Solidaritätsliedes. Ob nun der Text das Publikum begeisterte oder einfach der schmissige Rhythmus des Discofox, man weiß es nicht. Und welche Umdrehungszahlen Bertold Brecht und Hanns Eisler in ihren Gräbern erreichten, war auch nicht festzustellen.
Zum Abschluss wurde dann gemeinsam „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ gesungen: „Brüder, in eins nun die Hände, Brüder, das Sterben verlacht! Ewig, der Sklav’rei ein Ende, heilig die letzte Schlacht!“
Nach diesem Gewerkschaftskongress darf weiterhin bezweifelt werden, dass die IG BCE „der letzten Schlacht“ oder überhaupt einer Auseinandersetzung, die diesen Namen verdient, entgegenfiebert.