Am 19. und 20.11.2016 fand unser Wochenendseminar „ ‚Organizing‘ in Betrieb und Gesellschaft – Wut, Hoffnung, Aktion?“ in Weinheim statt. Wir veröffentlichen im Folgenden das dort vorgetragene Referat „Grundzüge des Organizing-Konzepts“.
U.D.
Im Folgenden soll das Organizing-Konzept zusammengefasst werden, wie es im „Organizing-Handbuch“ der IG Metall aus dem Jahr 2013 entwickelt wird.
Dabei muss berücksichtigt werden, dass das Konzept, wie es die IG Metall vorlegt, stark vom Ziel geprägt ist, bislang nicht oder nur gering gewerkschaftlich organisierte Betriebe zu „erschließen“. Damit soll der Einfluss des gewerkschaftlichen Apparates gesichert werden (mehr Mitglieder und „neue“ Betriebe = mehr Beiträge und mehr betrieblicher Einfluss). Dass die IG Metall-Führung dabei nicht ihre eigene sozialpartnerschaftliche Orientierung in Frage stellt, darf deshalb nicht verwundern. Genau dies ist jedoch die große Schwäche dieser Herangehensweise: Das Fehlen (oder bewusste Vermeiden) politischer Antworten soll durch organisatorische Maßnahmen ersetzt werden.
Andererseits bietet dieses Handbuch aber eine gute Grundlage, sich mit dem Konzept des Organizing zu befassen und mit einer systematischen Organisierung unserer politischen Arbeit - unabhängig davon, ob sie innerhalb oder außerhalb des Betriebes stattfindet und / oder unter völlig unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen.
Im Folgenden wird sich immer auf das oben genannte „Organizing-Handbuch“ der IG Metall bezogen:
Grundprinzip des Organizing
Das Grundprinzip des Organizing baut auf dem Dreiklang „Wut-Hoffnung-Aktion“ auf.
1. Wut: Was sind die Themen, die den Menschen unserer „Zielgruppe“ unter den Nägeln brennen? Wie kommen wir mit ihnen über ihre Probleme ins Gespräch? Wie aktivieren wir sie, sich für ihre Anliegen und Veränderungswünsche einzusetzen?
2. Hoffnung: Wie erreichen wir Veränderungen? Wie organisieren wir uns? Was kann mit einer starken Gewerkschaft erreicht werden?
3. Aktion: Was können wir tun (Information, Öffentlichkeit, Aktionen usw.)? Was können die Menschen der Zielgruppe tun, um Probleme anzugehen? Wie können die Interessen durchgesetzt werden? Was sind die nächsten Schritte?
Dabei soll der Grundsatz beachtet werden: Tue nie etwas, was die Menschen selbst tun können.
Die sechs Phasen des Organizing
Das Organizing-Konzept geht von sechs Phasen aus, die quasi als Handlungsfaden zu verstehen sind. Dabei gilt es, sich immer bewusst zu machen, in welcher Phase man sich gerade befindet und ob der gewählte Weg fortgesetzt werden kann und soll.
Die sechs Phasen sind: Phase 1 = Vorbereitung und Planung; Phase 2 = Zugang zur Zielgruppe finden; Phase 3 = Basisaufbau; Phase 4 = Themenkonflikt; Phase 5 = Eskalation; Phase 6 = Sicherung eines möglichen Erfolgs.
Phase 1: Vorbereitung und Planung
Was wollen wir?
Welches Potenzial ist vorhanden (organisierte, politisch interessierte, widerständige Menschen)?
Welche Probleme, Konflikte und Unzufriedenheiten gibt es?
Eingehende Recherche über Unternehmen, über Stadtteil, über Thema usw.
Phase 2 = Zugang
Kontakt zu den Menschen aufbauen (sofern nicht bereits vorhanden). Gibt es bereits AktivistInnen, sind Menschen ansprechbar usw.
Welche Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme bestehen?
Wo kann ich wen, wann, wo und wie ansprechen?
Habe ich Kenntnisse über Probleme, Konflikte, Unzufriedenheit?
Phase 3 = Basisaufbau
➢ Organizing-Team aufbauen.
Dieses entwickelt die Strategie und versucht, den Überblick zu bewahren. Hier sollten Menschen mit Erfahrung dabei sein.
➢ „Landkarte“ bzw. „Lageplan“ erstellen
Erstellen eines Lageplans (Hilfsmittel zur Erfassung der Wirklichkeit und zugleich Visualisierung). In diesem Plan werden die geografischen wie sonstigen Informationen (politische, soziale usw.) eingetragen. Je mehr Wissen und Kenntnisse hier einfließen, umso besser. Dieser Plan „lebt“ und wird immer um neue Informationen ergänzt.
➢ Direkte Kommunikation in Form von Gesprächen mit (betroffenen) Menschen der Zielgruppe.
Hier greift das zuvor erwähnte Prinzip „Wut-Hoffnung-Aktion“. Ziel ist dabei, die Menschen zu aktivieren und mit ihnen ein gemeinsames Handeln zu verabreden.
Bei den Gesprächen gilt die Formel: 70 Prozent zuhören, 30 Prozent reden.
➢ Informationen erfassen und zusammentragen, in den Lageplan eintragen und gemeinsam auswerten.
Dabei gilt es u. a. zu erfahren: Wo sind mögliche MitstreiterInnen, wer ist wozu bereit usw.
➢ Einen Aktivenkreis aufbauen, der sich regelmäßig und verbindlich trifft.
Dieser Kreis diskutiert die laufende praktische Arbeit. Dabei sind auch mögliche (repressive, juristische oder sonstige) Angriffe der Gegenseite zu beraten und sich darauf vorzubereiten bzw. wenn möglich, eine Gegenstrategie zu entwickeln.
Phase 4 = Themenkonflikt
Auswahl eines Themas oder eines kontinuierlichen Arbeitsfeldes (z. B. Umwelt, Wohnung, Ausbildung, Schule, Gesundheitsschutz, Arbeitszeit).
Aktions- und / oder Kampagnenplan erstellen (so konkret wie möglich): Was ist das Ziel? Aktionen entwickeln: Was, wann, wo und mit wem
Öffentlichkeit herstellen? Wer kann und will unterstützen? Usw.
Mobilisierung und Organisierung der Menschen anhand eines konkreten, aktuellen Missstands. MitstreiterInnen gewinnen.
Druck erzeugen!
Zeigen, dass es sich lohnt.
Phase 5 = Eskalation
Jederzeit ist zu prüfen, wie weit man gehen kann. Am besten geschieht dies mit anderen Menschen, mit denen man die jeweilige Arbeit leistet. Dabei muss versucht werden, in der Diskussion und den jeweiligen Aktionen Formen zu finden, an denen sich möglichst „alle“ beteiligen können. Einzelaktionen sind oftmals nur sinnvoll, wenn sie Erfolg versprechen.
Phase 6 = Erfolg auf Dauer sichern
Dafür findet sich sicherlich keine klare Regel, da die Gegenseite oftmals erneut versuchen wird, ihre Interessen durchzusetzen. Insofern ist dies abhängig von den ursprünglichen Zielen und den erzielten Ergebnissen. Wichtig ist aber, sich auch kleine Erfolge bewusst zu machen und andere Menschen dauerhaft in die politische Arbeit einzubinden.
Fazit
Viele Aktive praktizieren wahrscheinlich bereits „intuitiv“ Teile dieses Konzeptes. Vielleicht nicht bewusst und eher zufällig, ohne ihr Handeln in ein strukturiertes Konzept einzubinden.
Genau hier liegt aber der Vorteil des Organizing. AktivistInnen können mit Hilfe dieses Konzeptes, ihre jeweilige Arbeit systematisieren und strukturieren.
Dabei ist es ein wichtiges Ziel, mehr zu werden (also mehr Menschen einzubeziehen) und aus der Vereinzelung herauszutreten. Nicht zuletzt weil wir wissen, dass kollektives Handeln nicht nur am wirkungsvollsten ist, sondern auch den besten persönlichen Schutz bietet.
Letztendlich darf gerade auch bei der Umsetzung des Organizing-Konzeptes das langfristige Ziel, die herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen umzuwälzen und eine andere Gesellschaft zu erreichen, nicht aus den Augen verloren werden. Denn Organizing kann nicht die politische Orientierung ersetzen. Im Gegenteil: Nur wer über eine solche Orientierung verfügt, zermürbt und verliert sich nicht in der oft auch mühevollen und zähen politischen Tagesarbeit.