Helmut Dahmer
Über unserer Gegenwart liegt der Schatten der Geschichte. Die Präsidialdemokratie, mit deren Hilfe das Land von der Wüstenstadt Lima (einer Gründung Pizarros) aus kontrolliert wird(1) , ist seit dem Sturz der Diktatur vor knapp 20 Jahren immer wieder heftigen Erschütterungen ausgesetzt gewesen.
Wie in allen Gesellschaften mit zunehmender Polarisierung zwischen verelendeten Paria-Schichten, einer von Proletarisierung bedrohten Mehrheit von abhängig Beschäftigten und einer kleinen Minderheit von (international vernetzten) Finanzkapitalisten ist die Bestechung des politischen Personals (in Legislative, Exekutive und Judikative) für die Aufrechterhaltung des Status quo von entscheidender Bedeutung. Je ärmer das Land, je niedriger also das Pro-Kopf-Einkommen und je größer die soziale Ungleichheit sind, desto erkennbarer werden die Machtverhältnisse. Die traditionellen Parteien und die Funktionseliten der (miteinander verflochtenen) drei Gewalten werden (gut) dafür bezahlt, dass sie die bestehenden Verhältnisse verwalten und deren Veränderung verhindern.
Schmiergelder
In den vergangenen Jahren hat der brasilianische Tycoon Odebrecht, der sich auf den Bau von enormen Infrastruktur-Projekten spezialisiert hat, eine ganze Reihe von süd- und mittelamerikanischen Regierungen mit Hilfe ebenso enormer Schmiergelder dafür gewonnen, jeweils seiner Firma den Zuschlag zu geben. Das eröffnete Präsidenten und Parlamentariern enorme Bereicherungschancen. Und nachdem Odebrecht (2014) verhaftet worden war(2) – eines der wirklichen Wunder im wundergläubig-katholischen Lateinamerika –, wurde nach und nach die Korruption des politischen Führungspersonals in einer ganzen Reihe von lateinamerikanischen Staaten publik. In den letzten Jahren ereilte dies Schicksal dann auch die politische „Elite“ Perús.
Ist ein bestimmter Grad von „Transparenz“ erreicht und sind die „Grundrechte“ nicht (qua „Ausnahmezustand“) außer Kraft gesetzt, ist also die Bevölkerung nicht von Angst gelähmt, dann findet sich bald eine aktive Minderheit, die spontan gegen die bestehende Unordnung und gegen das Personal, das sie verwaltet und von ihr profitiert, rebelliert. Genau das ist – ein zweites „Wunder“ – seit Herbst 2018 in Perú in Gang gekommen. Gegen Jahresende erregten zwei mutige junge Staatsanwälte, die gegen Korruption und Machtmissbrauch nicht nur in den Reihen der Parlamentarier und Parteiführer, sondern auch im Justizapparat selbst vorgehen sollten, und das auch wirklich taten, öffentliches Aufsehen.
Moderne Robin Hoods
Wie zwei moderne Robin Hoods werden die beiden, Pérez und Vela, seitdem von dem in politische Gärung geratenen Teil der Bevölkerung auf Händen getragen. Und als der Generalstaatsanwalt Chávarry am Silvesterabend 2018 plötzlich beide von dem Geldwäsche- und Korruptions-Fall Odebrecht abziehen wollte, gingen in den Städten des Landes spontan Zehntausende von Protestlern auf die Straße. Nach kurzer Frist musste Chávarry seine Entscheidung wieder zurücknehmen.
Doch nun gibt es neue Ermittlungen gegen ihn selbst wegen seines Versuchs, die Übermittlung der die Machtelite belastenden Odebrecht-Akten zu verhindern. Die DemonstrantInnen gingen schon wenige Stunden nach dem Versuch Chávarrys, die Aufdeckung des riesigen Korruptionsskandals zu blockieren, auf die Straße. In den ersten Januartagen weiteten sich die Proteste aus.
Schluss mit der Korruption!
So lautet die Hauptlosung der Massenproteste. Und diese Losung hat es in sich. Denn es genügt ja nicht, ein paar korrupte Politiker abzusetzen und zu bestrafen. Will man die Korruption beseitigen, muss man die unkontrollierte Herrschaft des Finanzkapitals, ihre Voraussetzung, brechen.
Der Fall Odebrecht hat neuerlich die Wahrheit über die politischen Regime der Gegenwart – über alle politischen Regime der Gegenwart, die parlamentarischen, also die mildesten, eingeschlossen – an den Tag gebracht: Als vermeintliche Jedermanns-Repräsentanz aller Klassen und Hautfarben verwalten und verteidigen sie die bestehende, fatale Ungleichheit der Lebenslagen. Und die politischen Funktionseliten, die zwischen Staat, Wirtschaft und Armee zirkulieren, werden für eben diesen Job königlich bezahlt. Mit gekauften Parlamenten und Schwarzgeldwahlen wird ein Weltzustand verteidigt, in dem ein Fünftel der Erdbevölkerung in abgeschlossenen irdischen Paradiesen („gated communities“) lebt, ein anderes Fünftel aber in irdischen Höllen vegetiert.
Die Intervention des politisch aktiven Teils der peruanischen Stadtbevölkerung zeigt, dass auch heute, auch in einem Land der „Dritten Welt“, autonome „Massen“-Bewegungen möglich sind. Die Protestierenden folgen keinem Aufruf und hören auf keine Partei, sie formulieren ihre eigenen Slogans, und die TeilnehmerInnen bringen eigene Plakate mit. Wir haben es mit einer „individuierten Menge“ zu tun, die nicht manipulierbar ist und für deren Aufkommen eine Theorie erst noch gefunden werden muss.
Der Geist der internationalen, anti-autoritären Jugendrevolte von 1968 fliegt um die Welt. Derzeit hat er in Lima und Ayacucho seine Zelte aufgeschlagen.
(Lima, 07.01.2019.)