B.G.
Am 25. April 2015 fand ein weiteres Betriebs- und Gewerkschaftsseminar des RSB Rhein-Neckar statt. Gewerkschaftlich aktive KollegInnen und GenossInnen aus der IG BCE, der IG Metall und von ver.di beteiligten sich an der inhaltlich vollgepackten Tagung.In der sehr positiven Bilanzrunde zum Abschluss des Seminars kam die einhellig begrüße Idee auf, sich im Herbst bei einem Nachfolgetreffen mit dem Thema Arbeitszeitverkürzung auseinanderzusetzen. Wir dokumentieren im Folgenden zunächst Auszüge aus dem Einleitungsreferat.
Formen der Ausbeutung – eine kurze Einführung [K.O.]
Vorbemerkungen
Was ist „Ausbeutung“?
Die allgemeine Definition nach dem Duden lautet: Sachen oder Personen ausnutzen.
Ausbeutung im marxistischen Sinne ist die unvergütete Aneignung von fremder Arbeitskraft.
Den Arbeitenden wird etwas weggenommen, ohne dass sie den Gegenwert dafür erhalten. Also handelt es sich faktisch um Diebstahl.
Damit dies überhaupt möglich ist, müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein:
• Der ausgebeutete Mensch muss nicht seine gesamte Arbeitskraft einsetzen, um sein eigenes Überleben zu sichern, also für notwendige Arbeit. Denn würden ihm dauerhaft Produkte seiner notwendigen Arbeit abgepresst, könnte er seine Arbeitskraft nicht erhalten.
• Er muss also neben der notwendigen Arbeit Mehrarbeit leisten, die sich jemand anders aneignen kann.
• Bezogen auf die Gesellschaft heißt das: Sie ist in der Lage, ein gesellschaftliches Mehrprodukt zu erzeugen, das zur Aneignung zur Verfügung steht.
• Voraussetzung hierfür ist ein gewisses Maß an Produktivität.
Es ist also ein bestimmter Stand der Produktivkräfte notwendig.
Unter Produktivkräften versteht man alle Mittel, die einer Gesellschaft für die Produktion und Reproduktion zur Verfügung stehen:
• Technik bzw. Technologie
• die Arbeitskraft mit den ihr innewohnenden Fähigkeiten und Qualifikationen sowie
• Wissen.
• Und im weiteren Sinne auch: (erschlossene) Rohstoffe und Energiequellen sowie die Infrastruktur.
Klassengesellschaften
Ein gesellschaftliches Mehrprodukt, also ein von den ProduzentInnen geschaffener Überschuss, war Voraussetzung dafür, dass Klassengesellschaften entstehen konnten. Denn:
• Hierdurch wurde gesellschaftliche Arbeitsteilung möglich. Nicht alle müssen für ihren eigenen Lebensunterhalt arbeiten.
• Hierdurch wurde Ungleichheit möglich:
• Nicht mehr selbst arbeiten, sondern andere für sich arbeiten lassen.
• Nicht alle profitieren gleichermaßen vom gesellschaftlichen Überschuss.
• Es sind antagonistische Klassen entstanden, also Klassen, die entgegengesetzte Interessen haben.
In der Geschichte hat es verschiedene Formen von Klassengesellschaften gegeben. Gemein ist ihnen, dass es in ihnen produzierende und herrschende Klassen gegeben hat. Die herrschende Klasse ist in der Lage, der produzierenden Klasse Mehrarbeit abzupressen.
Die Gegensätze von reich und arm oder besitzend und nicht besitzend sind durch Ausbeutung zu erklären.
Dass ein Teil der Bevölkerung nicht mehr für das eigene Überleben arbeiten muss, war gleichzeitig Voraussetzung für die Entwicklung der Zivilisation, für Wissenschaft und Kunst, für die Weiterentwicklung von Technik und Wissen – und damit auch der immer weiter ansteigenden Arbeitsproduktivität. Die Produktivkräfte wurden im Laufe der Geschichte immer weiter entwickelt. Der Kapitalismus hat ihre Entwicklung erheblich beschleunigt.
Aber zunächst die wesentlichen Formen der Ausbeutung die dem Kapitalismus vorausgingen:
Vor dem Kapitalismus hat die metallzeitliche Revolution dazu geführt, dass aus einer egalitären Gesellschaft mit frei zusammengeschlossenen ProduzentInnen ab ca. 4.000 v. Chr. die erste Klassengesellschaft entstand.
[…]
Neuzeit: Kapitalismus
Es entwickelten sich kapitalistische Elemente in der Warenproduktion. Die Kleinproduktion wurde mechanisiert. In der Landwirtschaft führten Hilfsmittel wie Erntemaschinen zu größerer Effizienz der Arbeit. Wasserkraft wurde genutzt. Es entstanden Mühlen und Sägewerke. Der Übergang von handwerklicher Produktion und Handarbeit zu maschineller Produktion begann.
Der Feudalismus wurde zur Fessel für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte. Mit der bürgerlichen Revolution, sie begann im 17. Jahrhundert in England, änderten sich die grundlegenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse erneut. Und damit die Form der Ausbeutung.
Die neue herrschende Klasse ist die Bourgeoisie, das Großbürgertum. Die neue produzierende Klasse, die ihr unvereinbar gegenüber steht, ist das Proletariat, die ArbeiterInnenklasse.
Die wichtigsten gesellschaftlichen Produktionsmittel sind in den Händen der Bourgeoisie. Das Proletariat besitzt nur seine Arbeitskraft, die es als Ware einsetzen muss, um den Lebensunterhalt zu sichern. Das vorherrschende Produktionsverhältnis ist die Lohnarbeit.
LohnarbeiterInnen sind in einem doppelten Sinne frei: Sie besitzen bürgerliche Freiheiten und sind befreit von feudalistischen und ständischen Fesseln. Sie sind aber gleichzeitig auch frei von Produktionsmitteln.
Die Bourgeoisie und die Lohnabhängigen treten sich als vorgeblich gleichgestellte VerhandlungspartnerInnen gegenüber. Tatsächlich bleibt den Lohnabhängigen aufgrund ökonomischer Zwänge aber nichts anderes übrig, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen.
Die Lohnabhängigen werden ausgebeutet, indem sie nicht den tatsächlichen Gegenwert für ihre Arbeitskraft erhalten. Sie arbeiten länger, als sie es für ihre eigene Reproduktion müssten, erhalten jedoch nur den hierfür erforderlichen Lohn. Das, was sie in der zusätzlichen Arbeitszeit produzieren, das Produkt ihrer Mehrarbeit - den Mehrwert - eignet sich der Kapitalist an.
Anders als der Sklavenhalter ist der Kapitalist für das Überleben der LohnarbeiterInnen nicht verantwortlich. Da die ProletarierInnen frei sind, obliegt ihnen auch die Verantwortung, ihr Überleben zu sichern. Der angeblich umfassende Einfluss der Lohnabhängigen auf die Gestaltung ihres eigenen Lebens samt dem Erlangen von Glück und Wohlstand und die daraus resultierende Eigenverantwortung machen Lohnarbeit effektiver als Sklaven- oder Fronarbeit.
Jedenfalls, wenn es um die Weiterentwicklung der Produktivkräfte geht.
Mit dem Kapitalismus untrennbar verbunden sind jedoch auch periodisch wiederkehrende Krisen.
Unterschiedliche Formen der Ausbeutung innerhalb des Kapitalismus
Mit dem Kapitalismus schreitet die Steigerung der Produktivität in immer schnelleren Schritten voran. Und damit auch die Steigerung des gesellschaftlichen Mehrprodukts. Nur kommt dieser stetig wachsende Reichtum nur einer kleinen Minderheit zugute. Mit der Steigerung der Produktivität ändern sich die Arbeitsanforderungen. Damit ändern sich auch innerhalb des Kapitalismus die speziellen Formen der Ausbeutung.
Auch Krisen und Ereignisse wie Kriege führen zu Veränderungen in den Formen der Ausbeutung. Nicht zuletzt reagieren die Herrschenden auch auf die Kämpfe der Lohnabhängigen und ergreifen Gegenmaßnahmen, um die Kräfteverhältnisse in ihrem Sinne zu verändern.
Hier spielt auch der Staat als Garant der herrschenden Verhältnisse eine wesentliche Rolle.
[…]
Die Ausbeutung im Kapitalismus hat in Deutschland seit Beginn die folgende Entwicklung genommen:
Der frühe Kapitalismus war geprägt von Pauperisierung, das heißt, der strukturell bedingten, längerfristigen Armut weiter Teile der Bevölkerung zur Zeit der Frühindustrialisierung während des Übergangs von der Ständegesellschaft zur Industriegesellschaft.
Es entstanden Fabriken und Großbetriebe und ein erstes Proletariat, das völlig von diesen abhängig war-
- Abhängigkeit und Ausbeutung z.B. beim wohnen (Wohnraum gebunden an den Arbeitsplatz und Wohlverhalten – (keine Streiks u. ä.)
- Niedrigste Entlohnung bei unvorstellbaren Arbeitsbedingungen ….
- Massive Repressalien bei z.B. Streiks, Organisierung ….
Mit dem Fortschreiten der industriellen Entwicklung fanden zunehmend Konzentrationsprozesse in der Produktion statt.
[…]
Ab der Machtergreifung der Faschisten 1933 wurden die Systeme der Ausbeutung dann erneut verschärft mit Gründung der DAF (Deutsche Arbeitsfront) im Mai 1933. Die Gewerkschaften wurden zwangsweise aufgelöst und deren Vermögen beschlagnahmt. Alle Beschäftigten mussten seit Gründung der DAF ein Arbeitsbuch haben, ein entsprechender Zwangsmitgliedsbeitrag wurde direkt vom Lohn abgezogen.
Die nun scheinbare Sicherheit des Arbeitsplatzes ließ keinerlei Widerstand auf betrieblicher Ebene mehr aufkommen. Durch „Nationalsozialistische Musterbetriebe“ wurde die Produktion innerhalb der Industrie jetzt unter anderem mit Methoden von REFA ([…] Reichsausschuß für Arbeitsstudien) bereits auf Rüstungsproduktion umgestellt.
Die Methoden hatten sich ja schon in der Zeit vor und während des 1. Weltkrieges als enorm lukrativ erwiesen. Mit dem Beginn des 2. Weltkrieges wurden durch die Faschisten dann neue zusätzliche Systeme der Ausbeutung installiert: Einerseits wurde, in geringerem Maße als im 1. Weltkrieg, auf Frauen mit den gleichen Methoden zurückgegriffen.
Andererseits wurde erneut ein System der Sklaverei eingeführt mit Zwangsarbeiterinnen in Industriebetrieben […] [bzw. Häftlingen in Konzentrationslagern], unter dem Motto „Vernichtung durch Arbeit“, welches ein Maximum an [brutalster] Ausbeutung und Profit bedeutete.
Nach dem 2. Weltkrieg stand der Wiederaufbau an, und es wurden viele Arbeitskräfte benötigt. Ab 1947 standen Gelder aus dem Marshallplan zur Verfügung. Die deutsche Wirtschaft wuchs schnell und nachhaltig. Die Unternehmen machten gute Gewinne, die sie wieder investierten. Auch der Export spielte dabei eine wichtige Rolle.
Auch die Einkommen der Lohnabhängigen stiegen. Ebenso ihr Lebensstandard. Der Staat hatte die Aufgabe, einen Interessensausgleich zwischen den Klassen herzustellen. In den 1970er Jahren endete diese Phase der […] „sozialen Marktwirtschaft“, die nur wegen den gegebenen historischen Bedingungen möglich war.
Es folgte eine Krise des Kapitalismus, die bis heute andauert, mit Massenerwerbslosigkeit und tendenziell sinkender Profitrate.
Dies ist der Eintritt in die Phase des Neoliberalismus, einer Strategie der Herrschenden, um ihre Profite aufrecht zu erhalten.
[…]
Es entstehen im Sinne des Neoliberalismus neue Formen der Ausbeutung durch Maßnahmen, die den Profit zu erhöhen sollen:
• Aufspaltung von Unternehmen in kleinste Einheiten – und damit auch Verhinderung bzw. Erschwerung kollektiver Gegenwehr
• Gleichzeitig Konzentration des Kapitals: immer weniger immer größere Konzerne
• Umstrukturierung durch Zukäufe und Verkäufe etc.
• Optimierung von Prozessen
• Einsatz von neuer, immer teurerer Technologie, insbesondere auch Informationstechnologie
• Ständige Veränderung von Arbeitsprozessen
[…]
Damit verbunden waren bzw. sind:
• Aufgabe des Interessenausgleichs / der Integration und Verschärfung der Ausbeutung
• Einführung der “Agenda 2010” und damit eines Niedriglohnsektors und Hartz IV
• Fortschreitende Individualisierung und Entsolidarisierung unter den Lohnabhängigen
• Gegeneinander Ausspielen der Lohnabhängigen
[…]
• Beginn der Einführung einer Agenda 2020
[…]
Bislang gibt es dagegen keinen adäquaten Widerstand – weder in Deutschland noch international.
Einige Literaturhinweise aus dem Einleitungsreferat
Jürgen Kuczynski,
Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland, Dietz 1954, in 3 Bänden
Oskar Stillich,
Ausbeutungssysteme. Buchreihe: Die Gewerkschaftsschule Band 2; Thüringer Verlagsanstalt, Jena 1925
Arthur Rosenberg,
Demokratie und Klassenkampf im Altertum. Bielefeld 1921. Neuauflage Ahriman Verlag, Freiburg 2007, ISBN 978-3-8948-4810-1
Bernhard Brosius
Strukturen der Geschichte
Eine Einführung in den Historischen Materialismus
ISP 2007,
ISBN 978-3-89900-122-8
Ernest Mandel
Einführung in den Marxismus
ISP 2008
ISBN 978-3-89900-004-7
Karl Marx,
Das Kapital Bd. 1-3. MEW(Bd. 23-25)
Theorien über den Mehrwert.
Hrsg. Karl Kautsky. Internationale Bibliothek 35 - 38. 1919