Schicht­ar­beit gehört abgeschafft“

Inter­view mit einem Kollegen*

 

Die Belas­tun­gen durch Stress am Arbeits­platz rücken auch das The­ma Schicht­ar­beit wie­der mehr ins Blick­feld betrieb­li­cher Akteu­re. Seit vie­len Jah­ren wird das The­ma arbeits­wis­sen­schaft­lich erforscht und die zumeist nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen auf die betrof­fe­nen Men­schen benannt.

Trotz­dem ist eine posi­ti­ve Ent­wick­lung zu weni­ger Schicht­ar­beit nicht zu erken­nen, im Gegen­teil. Spät­schich­ten, Nacht- und Wochen­end­ar­beit gehö­ren für immer mehr Beschäf­tig­te zum All­tag. Arbei­te­ten 1992 noch 15,5 Pro­zent der Beschäf­tig­ten abends zwi­schen 18 und 23 Uhr, so waren es 2016 bereits 25,2 Pro­zent. Der Anteil der Erwerbs­tä­ti­gen in Deutsch­land, die Schicht­ar­beit leis­ten, ist laut Euro­stat (Sta­tis­tik­amt der Euro­päi­schen Uni­on) zwi­schen 1992 bis 2016 von 11,5 auf 17,4 Pro­zent angewachsen.

Vor die­sem Hin­ter­grund haben wir Sal­va­to­re, einen Beschäf­tig­ten in der Che­mie­bran­che und Ver­trau­ens­mann der IG BCE, zu sei­nen Erfah­run­gen mit Schicht­ar­beit befragt.

Seit wann arbei­test Du unter Schichtbedingungen?
Sal­va­to­re: Ich bin jetzt 53 Jah­re alt und arbei­te seit 1998 in der Fir­ma, immer in Schicht­ar­beit und in ver­schie­de­nen Schicht­mo­del­len. Schicht­ar­beit habe ich aber schon in mei­ner Jugend wäh­rend mei­ner Aus­bil­dung zum Stahl­bau­schlos­ser kennengelernt.

Wie sieht Dei­ne Schicht­ar­beit der­zeit aus?
Sal­va­to­re: Bei uns gibt es ver­schie­de­ne Schicht­mo­del­le. Neben der Nor­mal­ar­beits­zeit (haupt­säch­lich im Ver­triebs- und Ver­wal­tungs­be­reich) gibt es ein 2-Schicht­mo­dell (Früh- und Spät­schicht), ein 3-Schicht­mo­dell (Früh-, Spät- und Nacht­schicht) und ein 4-Schicht­mo­dell (Früh-, Spät- und Nacht­schicht), das aber fes­te Sams­tags­ar­beit und Sonn­tags­ar­beit (ohne Mehr­ar­beits­zu­la­gen) an wech­seln­den frei­en Wochen­ta­gen umfasst. Zur­zeit arbei­te ich im 3-Schicht­mo­dell, das aber bei hoher Auf­trags­la­ge auch Sams­tag­ar­beit oder sogar Sonn­tag­ar­beit (mit Mehr­ar­beits­zu­la­gen) beinhal­ten kann. Im Pro­duk­ti­ons­be­reich gibt es bei uns so gut wie nur Schichtarbeit.

Wie bewer­test Du die Schicht­ar­beit? Bringt sie für Dich einen Nut­zen oder siehst Du sie eher kritisch?
Sal­va­to­re: Den Nut­zen der Schicht­ar­beit sehe ich vor allem bei der Fir­ma, die dadurch wegen des Durch- lau­fens der Maschi­nen und Anla­gen höhe­re Pro­fi­te erzie­len kann. Das ist auch der ein­zi­ge Grund, war­um es bei uns Schicht­ar­beit gibt. Für mich selbst sehe ich die Schicht­ar­beit kri­tisch, da sie mit mas­si­ven Beein­träch­ti­gun­gen für die Gesund­heit und das Pri­vat­le­ben einhergeht.*Im Übri­gen hat­te ich bei mei­ner Ein­stel­lung kei­ne Chan­ce, um die Schicht­ar­beit her­um­zu­kom­men. Hät­te ich der Schicht­ar­beit nicht zuge­stimmt, wäre ich nicht ein­ge­stellt wor­den. Damals war ich auch jün­ger, da denkt man noch nicht ans Alter, und dass man nicht so leis­tungs­fä­hig bleibt. Man sieht dann vor allem das Geld, das man in Form von Schicht­zu­schlä­gen erhält. Spä­tes­tens wenn man in die Jah­re kommt, merkt man, dass die Geld­zu­schlä­ge nicht die Beein­träch­ti­gun­gen aufwiegen.

Wel­che Beein­träch­ti­gun­gen meinst*Du konkret?
Sal­va­to­re: Da sind die gesund­heit­li­chen Pro­ble­me, die vor allem aus der Nacht­ar­beit und dem Wech­sel­rhyth­mus resultieren.
Die Fol­gen sind Schlaf­stö­run­gen, Magen­pro­ble­me, Gereizt­heit im Umgang mit Men­schen und die damit ver­bun­de­ne Ein­nah­me von Medi­ka­men­ten, um die gesund­heit­li­chen Pro­ble­me unter Kon­trol­le zu hal­ten. Vie­le mei­ner Kol­le­gen sind star­ke Rau­cher. Ich habe es zum Glück geschafft, davon wegzukommen.

Dazu kommt die sozia­le Iso­la­ti­on, die in der Spät­schicht am stärks­ten aus­ge­prägt ist.Wenn ande­re Frei­zeit haben, musst du zur Arbeit gehen.

Kul­tu­rel­le Frei­zeit­an­ge­bo­te kann man dadurch nur sehr begrenzt in Anspruch neh­men. Ver­eins­ar­beit oder poli­ti­sche Arbeit zum Bei­spiel in Gewerk­schaf­ten oder Par­tei­en ist auch nur ein­ge­schränkt mög­lich. Dies schränkt die Teil­ha­be an demo­kra­ti­schen Pro­zes­sen in der Gesell­schaft ein, was viel­leicht auch das star­ke Abwan­dern von Schichtarbeiter*innen zur AfD wenigs­tens teil­wei­se erklärt.

Auch inner­halb der Fami­lie sieht man sich auf­grund der Schicht­ar­beit viel weni­ger, ins­be­son­de­re dann, wenn auch die Frau arbei­tet. Sehr vie­le mei­ner Kol­le­gen auf Schicht sind geschieden.

Gibt es bei Euch betrieb­li­che oder tarif­ver­trag­li­che Rege­lun­gen, die ei-*nen Aus­stieg aus der Schicht­ar­beit ermöglichen?
Sal­va­to­re: Da ist mir nichts bekannt. Wer ein­mal in der Schicht­ar­beit drin ist, kommt so schnell nicht mehr her­aus. Dadurch, dass bei uns die gesam­te Pro­duk­ti­on in Schicht­ar­beit ist, gibt es auch kaum Mög­lich­kei­ten, in die Nor­mal­ar­beits­zeit zu wechseln.

Das trifft selbst für gesund­heit­lich Ange­schla­ge­ne und Schwer­be­hin­der­te zu. Die Fir­ma beruft sich dann sehr oft dar­auf, dass lei­der kein adäqua­ter Arbeits­platz außer­halb der Schicht zur Ver­fü­gung steht. Oft genug müs­sen dann die betrof­fe­nen Kol­le­gen in ihrem Schicht­mo­dell blei­ben oder sie müs­sen kündigen.

Was unter­nimmt Euer Betriebs­rat, um gesün­de­re Arbeit durchzusetzen?Salvatore: Eigent­lich ist es die Auf­ga­be des Betriebs­rats, sich ent­spre­chend dem Arbeits­schutz­ge­setz für Arbeits­be­din­gun­gen, die auch den arbeits­wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen ent­spre­chen, ein­zu­set­zen. Dazu gehört auch die Schicht­ar­beit. Lei­der habe ich nicht den Ein­druck, dass sich unser Betriebs­rat die­ser Auf­ga­be wirk­lich stellt. Es gibt nur ein paar BR-Mit­glie­der, die sich ernst­haft bemü­hen, den Erfor­der­nis­sen gerecht zu wer­den. Die allei­ne kön­nen sich aber nicht gegen die Geschäfts­lei­tung oder gegen eine Betriebs­rats­mehr­heit, die nicht bereit ist mehr zu tun, durchsetzen.

Was gibt es aus Dei­ner Sicht für Mög­lich­kei­ten oder Alternativen?
Sal­va­to­re: Genau genom­men gehört die Schicht­ar­beit in Indus­trie­be­trie­ben abge­schafft. Das gilt vor allem für die gesund­heits­schäd­li­che Nacht­ar­beit. Das lässt sich aber nicht so ein­fach durch­set­zen. Aus mei­ner Sicht müs­sen ins­be­son­de­re bei der gesetz­lich vor­ge­schrie­be­nen Gefähr­dungs­ana­ly­se sowohl der Betrieb als auch der Betriebs­rat genau­er hin­schau­en, wo auf Nacht­ar­beit und über­haupt Schicht­ar­beit ver­zich­tet wer­den kann. Die stei­gen­de Pro­duk­ti­vi­tät ermög­licht es, Pro­duk­te in immer kür­ze­rer Zeit her­zu­stel­len. Die kür­ze­re Her­stel­lungs­zeit für die Pro­duk­te könn­te dann zum Bei­spiel in eine kür­ze­re täg­li­che Arbeits­zeit für die Beschäf­tig­ten umge­setzt wer­den, wel­che die Gesund­heit begüns­tigt und gleich­zei­tig mehr Raum für die Frei­zeit­be­tä­ti­gung lässt. Eine finan­zi­el­le Schlech­ter­stel­lung darf dabei natür­lich nicht erfolgen.


* [O. T. und S. T. stell­ten am 27. Okto­ber 2021 die Fra­gen. Der Name des Kol­le­gen wur­de sicher­heits­hal­ber abgeändert.]

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Novem­ber 2021
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