Schö­ne neue Arbeitswelt“?

Her­aus­for­de­run­gen für den Arbeits- und Gesundheitsschutz

Wolf­gang Hien

Der US-ame­ri­ka­ni­sche Sozio­lo­ge Richard Sen­nett ver­öf­fent­lich­te 1998 ein Buch zu den gra­vie­ren­den Wand­lun­gen der kapi­ta­lis­ti­schen Arbeits­welt. Der deut­sche Titel lau­te­te: Der fle­xi­ble Mensch, – doch der eng­li­sche Ori­gi­nal­ti­tel The cor­ro­si­on of cha­rac­ter („Die Zer­stö­rung der Per­sön­lich­keit“) kommt der Pro­ble­ma­tik schon näher. 2005 ver­öf­fent­lich­te Sen­nett eine ver­tief­te Betrach­tung unter dem Titel: Die Kul­tur des neu­en Kapi­ta­lis­mus. Die­se „neue Kul­tur“ ist eine Kul­tur der Zerstörung.

Die Fle­xi­bi­li­sie­rung der Arbeits­welt – nicht nur der Arbeits­or­te und Arbeits­zei­ten, son­dern auch der Arbeits­in­hal­te – for­dern von arbei­ten­den Men­schen ein der­art hohes Maß an Anpas­sung, dass sich auch ethisch-mora­li­sche Ori­en­tie­run­gen ändern. Der Cha­rak­ter wird im Ver­lauf der zuneh­men­den Anpas­sung auf­ge­rie­ben – er zer­setzt sich. Oder der Mensch ver­sucht, sich nicht ver­bie­gen zu las­sen und droht zu zer­bre­chen. Das ist Sen­netts Beob­ach­tung aus den USA der 1990er-Jah­re, und die­se Ent­wick­lung hat nun auch uns in Mit­tel­eu­ro­pa erreicht.

Gleich­wohl war – um gleich einem gra­vie­ren­den Miss­ver­ständ­nis vor­zu­beu­gen – frü­her nicht alles bes­ser. Der Preis dafür, eine sozi­al siche­re Ein­bin­dung in ein Tra­di­ti­ons­un­ter­neh­men gehabt zu haben, war hoch. Unter der alten Kul­tur der Arbeit war mensch der Macht von Hier­ar­chien und Auto­ri­tä­ten aus­ge­setzt. Nicht sel­ten waren jah­re­lang brül­len­de und schi­ka­nie­ren­de Vor­ge­setz­te zu ertra­gen – eine kei­nes­wegs gesund­heits­för­der­li­che Situa­ti­on. Abwei­chun­gen von tra­dier­ten Regeln und Ver­hal­tens- mus­tern wur­den zuwei­len hart sank­tio­niert, nicht sel­ten auch von Kol­le­gen und Kol­le­gin­nen. Gleich­wohl gab es auch viel All­tags­so­li­da­ri­tät. Teil die­ser „alten Kul­tur“ war frei­lich der unhin­ter­frag­te phy­si­sche Gesundheitsverschleiß.

Heu­te, nach­dem die neue Kul­tur der Arbeit Ein­zug gehal­ten hat, gibt es mehr Frei­hei­ten, genau­er betrach­tet oft nur schein­ba­re Frei­hei­ten. Doch der Preis ist sehr hoch. Ego­zen­triert­heit, Kon­kur­renz unter­ein­an­der, Unsi­cher­heit, Rück­sichts­lo­sig­keit, Ver­ein­ze­lung – das alles führt zu hohen psy­chi­schen Belas­tun­gen, und in vie­len Berei­chen gibt es zudem das Wei­ter­be­stehen alter Belastungen.

Krank­heits­ur­sa­chen verstehen

Plakat zur IGM-Kampagne Tatort Betrieb im Bezirk Baden-Württemberg (Foto: Privat)

Pla­kat zur IGM-Kam­pa­gne Tat­ort Betrieb im Bezirk Baden-Würt­tem­berg (Foto: Privat)

Psy­chi­sche Belas­tun­gen füh­ren, wenn unse­re Bewäl­ti­gungs­res­sour­cen erschöpft sind, zu psy­chi­schen und psy­cho­so­ma­ti­schen Erkran­kun­gen. 17 % aller Arbeits­un­fä­hig­keits­ta­ge gehen mitt­ler­wei­le auf das Kon­to psych­ia­tri­scher Dia­gno­sen. Dabei ste­hen Depres­si­ons­er­kran­kun­gen ganz im Vor­der­grund. Die­se Dia­gno­se steigt in allen Indus­trie­län­dern seit Jah­ren steil an. Es wird davon aus­ge­gan­gen, dass mehr als 15 % der erwerbs­fähigen Bevöl­ke­rung an psy­chi­schen oder psy­cho­so­ma­ti­schen Erkran­kun­gen lei­den, wobei vie­le Erkrank­te wei­ter zur Arbeit gehen und ver­su­chen, ihre Pro­ble­me zu über­spie­len oder zu verheimlichen.

Hin­ter vie­len Burn­out-Fäl­len ver­steckt sich eine Depres­si­on. Auch hier gilt es, auf ein Miss­ver­ständ­nis hin­zu­wei­sen: Nicht jeder Trau­er­zu­stand ist eine Depres­si­on! Ent­täu­schung, Trau­er und auch Nie­der­ge­schla­gen­heit gehö­ren zum mensch­li­chen Leben. Was hilft, ist ein gutes Gespräch oder ein­fach mal das Sich-Aus­kot­zen oder das Sich-Aus­wei­nen, sei es in der Fami­lie, bei Freun­dIn­nen oder sei es am Arbeits­platz im Kreis ver­trau­ter Kol­le­gen­In­nen. Das Pro­blem ist aller­dings, wenn wir immer mehr ver­ein­zeln, ato­mi­sie­ren, dann gibt es die­sen ver­trau­ten Kreis – die­se sozia­le Unter­stüt­zung – immer weniger.

Arbeits- und gesundheits­soziologische Theo­rien sehen einen inne­ren Zusam­men­hang zwi­schen der glo­ba­li­sier­ten, fle­xi­blen, agi­len und ato­mi­sier­ten Arbeits­welt einer­seits und der Erschöp­fungs­de­pres­si­on ander­seits. Stu­di­en zei­gen, dass gera­de der über­an­ge­pass­te Mensch, der sich selbst beson­ders hohe Zie­le setzt, auch beson­ders gefähr­det ist (Das über­for­der­te Sub­jekt, Frankfurt/M. 2018).

Aus anony­men Befra­gun­gen wis­sen wir, dass sich vie­le mit Medi­ka­men­ten, mit Psycho-Sti­mu­lan­zi­en, Stim­mungs-Auf­hel­lern und kurz­fris­tig leis­tungs­stei­gern­den Sub­stan­zen „über Was­ser“ zu hal­ten ver­su­chen. Letz­ten Endes zögern der­ar­ti­ge Stra­te­gien den Zusam­men­bruch nur hin­aus, der dann umso hef­ti­ger aus­fal­len kann. Depres­si­ons­er­kran­kun­gen erhö­hen die vor­zei­ti­ge Sterb­lich­keit, das heißt sie erhö­hen das Suizid-Risiko.

Arbeits­fle­xi­bi­li­sie­rung, Arbeits­ver­dich­tung, extre­mer Zeit­druck, Ent­gren­zung von Arbeits­zei­ten, „Arbei­ten ohne Ende“ ohne noch durch­at­men zu kön­nen – all das sind schon Belas­tun­gen im Über­maß, die unse­re Res­sour­cen auf­brau­chen und das Fass zum Über­lau­fen brin­gen. Nega­tiv wir­ken man­geln­de sozia­le Unter­stüt­zung durch Vor­ge­setz­te und Kol­le­gIn­nen, man­geln­de All­tags­so­li­da­ri­tät, man­geln­de Aner­ken­nung, man­geln­de Wert­schät­zung und dazu noch per­ma­nen­te Kon­kur­renz und das „Gegen­ein­an­der-Arbei­ten“. Unsi­cher­hei­ten, Angst und Aus­gren­zung tun ein Übri­ges, den arbei­ten­den Men­schen niederzudrücken.

Ein kaum zu unter­schät­zen­des Pro­blem stel­len die Gegen­sät­ze dar, die sich zwi­schen der eige­nen Berufs­auf­fas­sung, der eige­nen berufs­ethi­schen Hal­tung, und den vom Manage­ment oder „dem Markt“ gesetz­ten Rah­men­be­din­gun­gen auf­tun. Wenn einer Alten­pfle­ge­rin die für ihre emo­tio­na­le Arbeit not­wen­di­ge Zeit fehlt und sie nur die mecha­ni­schen Abläu­fe bewerk­stel­li­gen kann, ent­wi­ckeln sich inner­lich hoch belas­ten­de emo­tio­na­le Unstim­mig­kei­ten. All das ist durch gro­ße Stu­di­en zur Erfor­schung von Krank­heits­ur­sa­chen viel­fach bestä­tigt. Die Fol­gen sind nicht nur Depres­sio­nen, son­dern auch Herz-Kreis­lauf-Erkran­kun­gen, Dia­be­tes Typ 2, mus­ku­lä­re Ver­span­nun­gen und Wir­bel­säu­len­schä­den. Die­se alle sind als arbeits­be­ding­te Erkran­kun­gen gut dokumentiert.

Kör­per­li­che (soma­ti­sche) und see­li­sche (psy­chi­sche) Erkran­kun­gen über­lap­pen sich oft, und so suchen sich man­che inne­ren Bean­spru­chun­gen, die nicht mehr bewäl­tigt wer­den kön­nen, einen von Fall zu Fall unter­schied­li­chen Weg. Als Früh­sym­pto­me soll­ten wir zum Bei­spiel anhal­ten­de Müdig­keit, Brust­schmer­zen und/oder Luft­not ernst nehmen.

Prä­ven­ti­on ermöglichen
Was kann getan wer­den? Ent­schei­dend ist das Zusam­men­spiel zwi­schen Pri­mär-, Sekun­där- und Tertiärprävention.

Pri­mär­prä­ven­ti­on heißt, die gesundheits­schädlichen Fak­to­ren mög­lichst aus­zu­schal­ten oder auf ein mög­lichst gerin­ges Maß zu redu­zie­ren. Die Fak­to­ren müs­sen mög­lichst genau benannt und beschrie­ben wer­den. Das geht nur, wenn die Beschäf­tig­ten gefragt wer­den, sei es mit anony­men Fra­ge­bö­gen, in mode­rier­ten Arbeits­platz­be­ge­hun­gen oder sei es in mode­rier­ten Gesund­heits­zir­keln oder Pro­jekt­work­shops. Es müs­sen Lösungs­vor­schlä­ge gesam­melt, prio­ri­siert und in ent­spre­chen­de Hand­lungs­plä­ne gegos­sen werden.

Doch eben­so wich­tig ist die Sekun­där­prä­ven­ti­on, das heißt die Früh­erken­nung von gesund­heit­lich gra­vie­ren­den Belas­tun­gen, von ers­ten Sym­pto­men einer Über­for­de­rung oder einer begin­nen­den Erkran­kung. Hier kön­nen Betriebs- und Per­so­nal­rä­te, aber auch Sicherheits­beauftragte oder Schwer­be­hin­der­ten-Ver­tre­te­rIn­nen wich­ti­ge Diens­te leis­ten. Sie dür­fen nicht „The­ra­peu­ten spie­len“, doch sie kön­nen eine Lot­sen­funk­ti­on wahr­neh­men. Sie sind vor Ort und kön­nen, sobald sich pro­ble­ma­ti­sche Situa­tio­nen zei­gen – Häu­fung von Miss­ver­ständ­nis­sen, von gesund­heit­li­chen Kla­gen, von Rück­zug oder Aus­gren­zung –, Vor­ge­setz­te und/oder wei­te­re pro­fes­sio­nel­le Akteu­rIn­nen unter Wah­rung aller daten­schutz­recht­li­chen Gesichts­punk­te auf die Situa­ti­on auf­merk­sam machen.

Zum Drit­ten ist die Ter­ti­är­prä­ven­ti­on wich­tig, das heißt die Wie­der­ein­glie­de­rung von Kol­le­gIn­nen, die erkrankt waren, aber noch mit gesund­heit­li­chen Ein­schrän­kun­gen zu kämp­fen haben und des­halb noch wei­te­rer Unter­stüt­zung bedür­fen, – zum Bei­spiel durch Reha­bi­li­ta­ti­ons­maß­nah­men und Leis­tun­gen zur Teil­ha­be am Arbeits­le­ben. Ter­ti­är­prä­ven­ti­on kann immer auch Anlass sein, sich über die Ver­bes­se­rung der Arbeits­ver­hält­nis­se Gedan­ken zu machen. Mit ande­ren Wor­ten: Ter­ti­är- und Sekun­där­prä­ven­ti­on wir­ken auf die Pri­mär­prä­ven­ti­on zurück.

Gesundheitsschutz im Betrieb (Foto: Privat)

Gesund­heits­schutz im Betrieb (Foto: Privat)

In einer Hand­lungs­emp­feh­lung des Pro­jekts REHADAT zur Wider­ein­glie­de­rung psy­chisch Erkrank­ter heißt es: „Ver­mei­den von Tätig­kei­ten mit häu­fig wech­seln­den Auf­ga­ben, Inhal­ten oder Per­so­nen, […] kom­ple­xe Aufgaben/„Multitasking“ gege­be­nen­falls ver­ein­fa­chen (ein­zel­ne Auf­ga­ben abge­ben, zum Bei­spiel Tele­fo­nie­ren […]), […] Tätig­kei­ten anbie­ten, die ohne Zeit­druck nach eige­nem Arbeits- und Pau­sen­rhyth­mus durch­führ­bar sind“ (REHADAT WISSEN - Aus­ga­be 6, In Schwer­mut steckt Mut, Köln 2017, S. 38).

Die gesund­heits­be­zo­ge­ne Arbeits­wis­sen­schaft ist sich einig, dass dies genau die Punk­te sind, die in einer gesund­heits­för­der­li­chen Orga­ni­sa­ti­on nicht nur den „Kran­ken“, son­dern allen Beschäf­tig­ten zugu­te­kom­men sollten.

Auch jeder Ein­zel­ne kann etwas tun. Dazu gehört: Kei­ne über­stei­ger­ten For­de­run­gen, weder an sich selbst noch an ande­re! Die bes­ten Maß­nah­men des Arbeits- und Gesund­heits­schut­zes nut­zen nichts, wenn wir nicht unse­re inne­re Hal­tung ändern. Wir müs­sen uns dar­über klar wer­den, was im Leben wirk­lich wich­tig ist: Erfolg um jeden Preis oder mensch­li­ches Maß?

Was tun?
Poli­ti­sche Auf­klä­rungs­ar­beit im Betrieb muss heu­te viel tie­fer anset­zen als frü­her: Wir müs­sen unse­ren Kol­le­gIn­nen den Wert der All­tags­so­li­da­ri­tät auf­zei­gen, wir müs­sen sie ermu­ti­gen, in ihrer eige­nen betrieb­li­chen Lebens­welt nicht allein, son­dern gemein­schaft­lich Pro­ble­me anzu­ge­hen. Wir müs­sen Wege fin­den, aus der Ver­ein­ze­lung her­aus­zu­kom­men und wie­der einen Kreis ver­trau­ter Kol­le­gIn­nen auf­zu­bau­en. Wesent­li­che Instru­men­te hier­zu sind die Durch- und die Umset­zung eines Kreis­lauf­pro­zes­ses einer ganz­heit­li­chen Gefähr­dungs­ana­ly­se und Gefähr­dungs­be­ur­tei­lung (GFA/GFB) nach dem Arbeits­schutz­ge­setz und die Ver­wirk­li­chung eines lang­fris­ti­gen Pro­jekts des poli­ti­schen Organizing.

Zuge­ge­be­ner­ma­ßen ist es das Ele­men­ta­re, das schwer zu machen ist. Die­ses Ele­men­ta­re umge­hen zu wol­len, sei es über Gesund­heits- und Psy­cho­be­rater, „Resi­li­enz-Coa­cher“, ein „betrieb- liches Gesund­heits­ma­nage­ment“ oder sons­ti­ge Aus­ge­bur­ten von Füh­rungs-Tech­ni­ken, führt zu nichts – außer zu noch mehr Anpas­sung an die krank­ma­chen­den Verhältnisse.

Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Sep­tem­ber 2019
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