Die Begriffe der Emanzipation*
Daniel Bensaïd
In einem Artikel von 1843 über die „Fortschritte der Sozialreform auf dem Kontinent“ bezeichnete der junge Engels (gerade 23 Jahre alt) den Kommunismus als „eine notwendige Folgerung, die aus den Voraussetzungen, wie sie in den allgemeinen Bedingungen der modernen Zivilisation gegeben sind, unvermeidlich gezogen werden muss“. Alles in allem als einen Kommunismus, der sich aus der Revolution von 1830 ergibt, in der die Arbeiter „auf die Geschichte der großen Revolution“ zurückgingen und „begierig Babeufs Kommunismus“ aufgriffen.
Für den jungen Marx dagegen war dieser Kommunismus noch nichts weiter als eine „dogmatische Abstraktion“, eine „aparte Erscheinung des humanistischen Prinzips“. Das entstehende Proletariat hatte sich „den Doktrinären seiner Emanzipation, den sozialistischen Sektenstiftern“ und wirren Geistern in die Arme geworfen, die „über die Leiden der Menschheit winseln“ oder „das Tausendjährige Reich und die allgemeine Bruderliebe verkünden“, als „eingebildete Aufhebung der Klassenverhältnisse“. Vor 1848 spukte dieser gespensterhafte Kommunismus ohne klares Programm, in den „rohen“ Formen gleichmacherischer Sekten oder ikarischer Träumereien umher.
Die Überwindung des abstrakten Atheismus implizierte jedoch bereits einen neuen sozialen Materialismus, der nichts anderes war als der Kommunismus selbst: „Wie der Atheismus als Aufhebung Gottes das Werden des theoretischen Humanismus, [ist] der Kommunismus als Aufhebung des Privateigentums die Einforderung des wirklichen menschlichen Lebens“. Weit entfernt von jeglichem vulgären Antiklerikalismus war dieser Kommunismus „das Werden des praktischen Humanismus“, für den es nicht mehr nur darum ging, die religiöse Entfremdung zu bekämpfen, sondern die reale soziale Entfremdung und das reale soziale Elend, aus denen das Bedürfnis nach Religion entsteht.
Von der grundlegenden Erfahrung von 1848 bis zur Pariser Kommune nahm die „wirkliche Bewegung“, die tendenziell auf die Abschaffung der bestehenden Ordnung abzielte, Form und Stärke an, sie legte die „Sektierermarotten“ ab und machte den „Orakelton wissenschaftlicher Unfehlbarkeit“ lächerlich. Anders gesagt fand der Kommunismus, der zuerst eine Geisteshaltung oder ein „philosophischer Kommunismus“ war, damit seine politische Form. In einem Vierteljahrhundert vollendete er seine Mauserung: von seinen philosophischen und utopischen Erscheinungsformen zur endlich gefundenen politischen Form der Emanzipation.
1. Die Begriffe der Emanzipation haben die Leiden des vergangenen Jahrhunderts nicht unbeschädigt überstanden. Man kann behaupten, dass sie wie die Tiere der Fabel nicht alle starben, und doch keines verschont blieb. Sozialismus, Revolution, sogar Anarchie – diesen Begriffen geht es kaum besser als dem Kommunismus.
Der Sozialismus [der Sozialdemokratie] ist in die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verwickelt, in Kolonialkriege und vielfache Regierungsbeteiligungen – so weitgehend, dass er an Inhalt verlor in dem Maße, wie er an Ausdehnung gewann. Einer methodisch geführten ideologischen Kampagne ist es gelungen, in den Augen von vielen Revolution mit Gewalt und Terror gleichzusetzen. Doch von allen Begriffen, die gestern große Verheißungen und Träume formulierten, wurde der Kommunismus am meisten beschädigt, weil er von der bürokratischen Staatsraison in Beschlag genommen wurde und einem totalitären Unterfangen diente. Es bleibt die Frage, ob es unter all diesen wund geschlagenen Begriffen welche gibt, bei denen sich es lohnt, geheilt und wieder in Bewegung gesetzt zu werden.
2. Dafür ist es notwendig, darüber nachzudenken, was aus dem Kommunismus des 20. Jahrhunderts geworden ist. Begriff und Gegenstand können nicht außerhalb der Zeit und der historischen Bewährungsproben beurteilt werden, denen sie ausgesetzt waren. Für die meisten wird die ständige Bezeichnung „kommunistisch“ für den autoritären Kapitalismus im chinesischen Staat auf Dauer viel schwerer wiegen als die brüchigen theoretischen und experimentellen Erwiderungen einer kommunistischen Annahme.
Die Versuchung, sich einer kritischen historischen Bestandsaufnahme zu entziehen, würde dazu führen, die kommunistische Idee auf zeitlose „unveränderliche Thesen“ zu reduzieren, sie zu einem Synonym für unbestimmte Ideen von Gerechtigkeit oder Emanzipation zu machen und nicht zur spezifischen Emanzipationsform in der Zeit kapitalistischer Herrschaft. Der Begriff verliert damit an politischer Schärfe, was er an ethischer und philosophischer Erweiterung gewinnt.
Eine der zentralen Fragen ist, ob der bürokratische Despotismus die legitime Fortsetzung der Oktoberrevolution oder die Frucht einer bürokratischen Konterrevolution war, die nicht nur in den Prozessen, Säuberungen, massenhaften Deportationen zum Ausdruck kommt, sondern auch mit den Umwälzungen in der Gesellschaft und im Staatsapparat der Sowjetunion der 1930er Jahre.
3. Ein neuer Wortschatz lässt sich nicht per Dekret erfinden. Das Vokabular bildet sich langfristig heraus, über Anwendung und Erfahrung. Die Gleichsetzung des Kommunismus mit der totalitären Diktatur des Stalinismus hinzunehmen hieße, vor den vorläufigen Siegern zu kapitulieren, Revolution und bürokratische Konterrevolution miteinander zu verwechseln und somit das Kapitel der Weggabelungen zu streichen, das allein Raum für Hoffnung lässt. Und das würde bedeuten, gegenüber den Besiegten eine nicht wiedergutzumachende Ungerechtigkeit zu begehen, gegenüber allen – ob bekannt oder unbekannt –, die die kommunistische Idee leidenschaftlich gelebt haben und sie gegen Zerrbilder und Verfälschungen aktiv verteidigt haben. Schande über diejenigen, die aufgehört haben, Kommunisten zu sein, als sie aufgehört haben, Stalinisten zu sein, und die nur solange Kommunisten waren, wie sie Stalinisten waren!1
4. Von allen Arten, „das Andere“ des gemeinen Kapitalismus zu benennen, das notwendig und möglich ist, behält der Begriff Kommunismus den größten historischen Sinn und die explosivste programmatische Bedeutung. Er erinnert am besten an die Gütergemeinschaft und Gleichheit, an die Vergesellschaftung oder Aufteilung der Macht, an die Solidarität, die dem egoistischen Kalkül und der verallgemeinerten Konkurrenz entgegenzustellen ist, an das Eintreten für die natürlichen und kulturellen Gemeingüter der Menschheit, an die Ausweitung kostenloser Dienste der Grundversorgung (Vergesellschaftung) gegen die verallgemeinerte Ausplünderung und Privatisierung der Welt.
5. Er steht auch für einen anderen Maßstab des gesellschaftlichen Reichtums als den des Wertgesetzes und des Marktpreises. Der „freie und unverfälschte Wettbewerb” beruht auf „Diebstahl an fremder Arbeitszeit“. Er gibt vor, das Nichtquantifizierbare bewerten zu können und das nicht messbare Verhältnis der menschlichen Gattung zu ihren natürlichen Reproduktionsbedingungen auf die armselige allgemeine Messgröße Zeit der abstrakten Arbeit reduzieren zu können.
Kommunismus ist der Begriff für ein anderes Verständnis von Reichtum, für eine qualitativ andere ökologische Entwicklung, die sich von dem quantitativen Wirtschaftswachstum unterscheidet. Die Logik der Kapitalakkumulation verlangt nicht nur Produktion um des Profits willen, sondern erheischt auch „Produktion neuer Konsumtion“, die beständige Ausweitung des Kreislaufs der Konsumtion durch die „Produktion neuer Bedürfnisse und Entdeckung und Schöpfung neuer Gebrauchswerte“: Also „Ausbeutung der gesamten Natur“ und „Ausbeutung der Erde in jedem Sinn“. Auf dieser verheerenden Maßlosigkeit des Kapitals fußt die Aktualität eines radikalen Ökokommunismus.
6. Im Kommunistischen Manifest wird der Kommunismus zunächst durch das Eigentum erklärt: „In diesem Sinn können die Kommunisten ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen.“2 Das heißt: der Aufhebung des Privateigentums an Produktions- und Tauschmitteln, das nicht mit dem individuellen Eigentum an Gebrauchsgütern zu verwechseln ist. In „allen […] Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor“.3
In der Tat beziehen sich sieben der zehn Punkte am Ende des zweiten Abschnitts [des Kommunistischen Manifests] auf die Eigentumsformen: Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zur Finanzierung der Staatsausgaben; Einführung einer stark progressiven Besteuerung; Abschaffung des Erbes an Produktions- und Tauschmitteln; Konfiskation des Eigentums emigrierter Konterrevolutionäre; Zentralisation des Kredits in einer öffentlichen Bank; Vergesellschaftung der Transportmittel und Einführung einer öffentlichen und unentgeltlichen Erziehung für alle; Schaffung von Nationalfabriken und Urbarmachung von unbebauten Ländereien.
Diese Maßnahmen sind allesamt darauf ausgerichtet, die Kontrolle der politischen Demokratie über die Ökonomie herzustellen, den Primat des Gemeinwohls über das egoistische Interesse, den des öffentlichen Raums über den privaten Raum. Es geht nicht darum, jegliche Form von Eigentum abzuschaffen, wohl aber um „die Abschaffung des heutigen Privateigentums, des bourgeoisen Eigentums“, also der „Aneignungsweise“, die auf der Ausbeutung der Einen durch die Anderen beruht.
7. Zwischen zweierlei Recht, dem der Eigentümer, sich Gemeingüter anzueignen, und dem Existenzrecht der Enteigneten, „entscheidet die Gewalt“, sagt Marx. Die gesamte moderne Geschichte des Klassenkampfs, vom Bauernkrieg in Deutschland über die Englische und die Französische Revolution bis zu den sozialen Erhebungen des vergangenen Jahrhunderts, ist die Geschichte dieses Konflikts. Er löst sich durch das Entstehen einer gegen die Legalität der Herrschenden gerichteten Legitimität.
Als „endlich entdeckte politische Form“ der Emanzipation, als „Abschaffung“ der Staatsmacht, als Vollendung der sozialen Republik, belegt die [Pariser] Kommune das Hervortreten dieser neuen Legitimität. Ihr Beispiel hat Formen der Selbstorganisation und der Selbstverwaltung der arbeitenden Bevölkerung angeregt, wie sie sich in den revolutionären Krisen gezeigt haben: Arbeiterräte, Sowjets, Milizkomitees, Industriegürtel, Nachbarschaftsvereinigungen, Bauernkommunen, die tendenziell die Berufspolitik überwinden, die gesellschaftliche Arbeitsteilung verändern und die Bedingungen für das Absterben des Staats als eigenständiger bürokratischer Körperschaft schaffen.
8. Unter der Herrschaft des Kapitals hat jeder scheinbare Fortschritt sein Gegenstück des Rückschritts und der Zerstörung. Er besteht letztlich „nur darin, die Form der Unterjochung zu ändern“. Der Kommunismus verlangt andere Ideen und Kriterien als die des wirtschaftlichen Ertrags und der monetären Rentabilität. An erster Stelle ist die drastische Verkürzung der Zeit für erzwungene Arbeit und eine Veränderung des Arbeitsbegriffs selbst erforderlich: Es kann in der „Freizeit“ keine wirkliche individuelle Entfaltung geben, solange die Arbeitenden in der Arbeit entfremdet und verstümmelt bleiben.
Die kommunistische Perspektive erfordert auch eine radikale Veränderung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau: Die Erfahrung des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern ist die erste Erfahrung des Andersseins, und solange das Unterdrückungsverhältnis fortbesteht, wird jedes durch Kultur, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung sich unterscheidende Wesen Opfer von Diskriminierung und Herrschaft sein. Authentischer Fortschritt liegt in der Entwicklung und der Differenzierung von Bedürfnissen, deren originelle Kombination jeden und jede zu einem einzigartigen Wesen macht, dessen Singularität zur Bereicherung der Gattung beiträgt.
9. Das [Kommunistische] Manifest versteht den Kommunismus als „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Er ist damit die Maxime einer freien individuellen Entfaltung, die man weder mit den Trugbildern eines dem Konformismus der Werbung unterworfenen Individualismus ohne Individualität, noch mit der plumpen Gleichmacherei eines Kasernensozialismus verwechseln darf. Die Entwicklung der singulären Bedürfnisse und Fähigkeiten eines und einer jeden trägt zur universalen Entwicklung der menschlichen Gattung bei. Umgekehrt impliziert die freie Entwicklung eines und einer jeden die freie Entwicklung aller, denn die Emanzipation ist nicht das Vergnügen einzelner.
10. Der Kommunismus ist keine reine Idee, auch kein doktrinäres Gesellschaftsmodell. Er ist weder die Bezeichnung für ein staatliches Regime, noch für eine neue Produktionsweise. Er steht für die Bewegung, die die bestehende Ordnung in Permanenz aufhebt. Er ist aber auch das Ziel, das, aus dieser Bewegung entstanden, ihr eine Richtung weist und es – anders als prinzipienlose Politik, folgenlose Aktionen, tägliches Improvisieren – möglich macht zu bestimmen, was sie dem Ziel näherbringt und was sie davon wegführt. In diesem Sinne ist er keine wissenschaftliche Erkenntnis von Ziel und Weg, sondern eine regulative strategische Annahme. Er benennt, was zusammengehört: den unbezwingbaren Traum von einer anderen Welt der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Solidarität, die permanente Bewegung, die auf einen Sturz der bestehenden Ordnung im Kapitalismus abzielt, und die Hypothese, die diese Bewegung auf eine radikale Änderung der Eigentums- und Machtverhältnisse orientiert, entfernt von Kompromissen mit einem kleineren Übel, das der kürzeste Weg zum größten Übel wäre.
11. Die soziale, ökonomische, ökologische und moralische Krise eines Kapitalismus, der seinen eigenen Widersprüchen nur um den Preis wachsender Maßlosigkeit und Unvernunft entgegentreten kann, bedroht zugleich die menschliche Gattung und den Planeten. Sie stellt die „Aktualität eines radikalen Kommunismus“ wieder auf die Tagesordnung, von der [Walter] Benjamin vor dem Hintergrund der heraufziehenden Gefahren der Zwischenkriegszeit schrieb.
Fußnoten
1 Vgl. Dionys Mascolo, À la recherche d’un communisme de pensée, Paris (éditions Fourbis) 2000, S. 113.
2 [Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei; in: Karl Marx, Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Berlin (Dietz Verlag), 1972, S. 38.]
3 [A.a.O., S. 56.]