Was heißt schon „Kom­mu­nis­mus“?

Die Begrif­fe der Emanzipation*

 

Dani­el Bensaïd

In einem Arti­kel von 1843 über die „Fort­schrit­te der Sozi­al­re­form auf dem Kon­ti­nent“ bezeich­ne­te der jun­ge Engels (gera­de 23 Jah­re alt) den Kom­mu­nis­mus als „eine not­wen­di­ge Fol­ge­rung, die aus den Vor­aus­set­zun­gen, wie sie in den all­ge­mei­nen Bedin­gun­gen der moder­nen Zivi­li­sa­ti­on gege­ben sind, unver­meid­lich gezo­gen wer­den muss“. Alles in allem als einen Kom­mu­nis­mus, der sich aus der Revo­lu­ti­on von 1830 ergibt, in der die Arbei­ter „auf die Geschich­te der gro­ßen Revo­lu­ti­on“ zurück­gin­gen und „begie­rig Babeufs Kom­mu­nis­mus“ aufgriffen.

Demo in Paris zum 150. Jahrestag der Niederschlagung der Pariser Kommune, 29. Mai 2021 (Copyright Photothèque Rouge / Martin Noda / Hans Lucas)

Demo in Paris zum 150. Jah­res­tag der Nie­der­schla­gung der Pari­ser Kom­mu­ne, 29. Mai 2021 (Copy­right Pho­to­t­hè­que Rouge / Mar­tin Noda / Hans Lucas)

Für den jun­gen Marx dage­gen war die­ser Kom­mu­nis­mus noch nichts wei­ter als eine „dog­ma­ti­sche Abs­trak­ti­on“, eine „apar­te Erschei­nung des huma­nis­ti­schen Prin­zips“. Das ent­ste­hen­de Pro­le­ta­ri­at hat­te sich „den Dok­tri­nä­ren sei­ner Eman­zi­pa­ti­on, den sozia­lis­ti­schen Sek­ten­stif­tern“ und wir­ren Geis­tern in die Arme gewor­fen, die „über die Lei­den der Mensch­heit win­seln“ oder „das Tau­send­jäh­ri­ge Reich und die all­ge­mei­ne Bru­der­lie­be ver­kün­den“, als „ein­ge­bil­de­te Auf­he­bung der Klas­sen­ver­hält­nis­se“. Vor 1848 spuk­te die­ser gespens­ter­haf­te Kom­mu­nis­mus ohne kla­res Pro­gramm, in den „rohen“ For­men gleich­ma­che­ri­scher Sek­ten oder ika­ri­scher Träu­me­rei­en umher.

Die Über­win­dung des abs­trak­ten Athe­is­mus impli­zier­te jedoch bereits einen neu­en sozia­len Mate­ria­lis­mus, der nichts ande­res war als der Kom­mu­nis­mus selbst: „Wie der Athe­is­mus als Auf­he­bung Got­tes das Wer­den des theo­re­ti­schen Huma­nis­mus, [ist] der Kom­mu­nis­mus als Auf­he­bung des Pri­vat­ei­gen­tums die Ein­for­de­rung des wirk­li­chen mensch­li­chen Lebens“. Weit ent­fernt von jeg­li­chem vul­gä­ren Anti­kle­ri­ka­lis­mus war die­ser Kom­mu­nis­mus „das Wer­den des prak­ti­schen Huma­nis­mus“, für den es nicht mehr nur dar­um ging, die reli­giö­se Ent­frem­dung zu bekämp­fen, son­dern die rea­le sozia­le Ent­frem­dung und das rea­le sozia­le Elend, aus denen das Bedürf­nis nach Reli­gi­on entsteht.

Von der grund­le­gen­den Erfah­rung von 1848 bis zur Pari­ser Kom­mu­ne nahm die „wirk­li­che Bewe­gung“, die ten­den­zi­ell auf die Abschaf­fung der bestehen­den Ord­nung abziel­te, Form und Stär­ke an, sie leg­te die „Sek­tie­rer­ma­rot­ten“ ab und mach­te den „Ora­kel­ton wis­sen­schaft­li­cher Unfehl­bar­keit“ lächer­lich. Anders gesagt fand der Kom­mu­nis­mus, der zuerst eine Geis­tes­hal­tung oder ein „phi­lo­so­phi­scher Kom­mu­nis­mus“ war, damit sei­ne poli­ti­sche Form. In einem Vier­tel­jahr­hun­dert voll­ende­te er sei­ne Mau­se­rung: von sei­nen phi­lo­so­phi­schen und uto­pi­schen Erschei­nungs­for­men zur end­lich gefun­de­nen poli­ti­schen Form der Emanzipation.

1. Die Begrif­fe der Eman­zi­pa­ti­on haben die Lei­den des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts nicht unbe­schä­digt über­stan­den. Man kann behaup­ten, dass sie wie die Tie­re der Fabel nicht alle star­ben, und doch kei­nes ver­schont blieb. Sozia­lis­mus, Revo­lu­ti­on, sogar Anar­chie – die­sen Begrif­fen geht es kaum bes­ser als dem Kommunismus.

Der Sozia­lis­mus [der Sozi­al­de­mo­kra­tie] ist in die Ermor­dung von Karl Lieb­knecht und Rosa Luxem­burg ver­wi­ckelt, in Kolo­ni­al­krie­ge und viel­fa­che Regie­rungs­be­tei­li­gun­gen – so weit­ge­hend, dass er an Inhalt ver­lor in dem Maße, wie er an Aus­deh­nung gewann. Einer metho­disch geführ­ten ideo­lo­gi­schen Kam­pa­gne ist es gelun­gen, in den Augen von vie­len Revo­lu­ti­on mit Gewalt und Ter­ror gleich­zu­set­zen. Doch von allen Begrif­fen, die ges­tern gro­ße Ver­hei­ßun­gen und Träu­me for­mu­lier­ten, wur­de der Kom­mu­nis­mus am meis­ten beschä­digt, weil er von der büro­kra­ti­schen Staats­rai­son in Beschlag genom­men wur­de und einem tota­li­tä­ren Unter­fan­gen dien­te. Es bleibt die Fra­ge, ob es unter all die­sen wund geschla­ge­nen Begrif­fen wel­che gibt, bei denen sich es lohnt, geheilt und wie­der in Bewe­gung gesetzt zu werden.

2. Dafür ist es not­wen­dig, dar­über nach­zu­den­ken, was aus dem Kom­mu­nis­mus des 20. Jahr­hun­derts gewor­den ist. Begriff und Gegen­stand kön­nen nicht außer­halb der Zeit und der his­to­ri­schen Bewäh­rungs­pro­ben beur­teilt wer­den, denen sie aus­ge­setzt waren. Für die meis­ten wird die stän­di­ge Bezeich­nung „kom­mu­nis­tisch“ für den auto­ri­tä­ren Kapi­ta­lis­mus im chi­ne­si­schen Staat auf Dau­er viel schwe­rer wie­gen als die brü­chi­gen theo­re­ti­schen und expe­ri­men­tel­len Erwi­de­run­gen einer kom­mu­nis­ti­schen Annahme.

Die Ver­su­chung, sich einer kri­ti­schen his­to­ri­schen Bestands­auf­nah­me zu ent­zie­hen, wür­de dazu füh­ren, die kom­mu­nis­ti­sche Idee auf zeit­lo­se „unver­än­der­li­che The­sen“ zu redu­zie­ren, sie zu einem Syn­onym für unbe­stimm­te Ideen von Gerech­tig­keit oder Eman­zi­pa­ti­on zu machen und nicht zur spe­zi­fi­schen Eman­zi­pa­ti­ons­form in der Zeit kapi­ta­lis­ti­scher Herr­schaft. Der Begriff ver­liert damit an poli­ti­scher Schär­fe, was er an ethi­scher und phi­lo­so­phi­scher Erwei­te­rung gewinnt.

Eine der zen­tra­len Fra­gen ist, ob der büro­kra­ti­sche Des­po­tis­mus die legi­ti­me Fort­set­zung der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on oder die Frucht einer büro­kra­ti­schen Kon­ter­re­vo­lu­ti­on war, die nicht nur in den Pro­zes­sen, Säu­be­run­gen, mas­sen­haf­ten Depor­ta­tio­nen zum Aus­druck kommt, son­dern auch mit den Umwäl­zun­gen in der Gesell­schaft und im Staats­ap­pa­rat der Sowjet­uni­on der 1930er Jahre.

Demo in Paris zum 150. Jahrestag der Niederschlagung der Pariser Kommune, 29. Mai 2021 (Copyright Photothèque Rouge / Martin Noda / Hans Lucas)

Demo in Paris zum 150. Jah­res­tag der Nie­der­schla­gung der Pari­ser Kom­mu­ne, 29. Mai 2021 (Copy­right Pho­to­t­hè­que Rouge / Mar­tin Noda / Hans Lucas)

3. Ein neu­er Wort­schatz lässt sich nicht per Dekret erfin­den. Das Voka­bu­lar bil­det sich lang­fris­tig her­aus, über Anwen­dung und Erfah­rung. Die Gleich­set­zung des Kom­mu­nis­mus mit der tota­li­tä­ren Dik­ta­tur des Sta­li­nis­mus hin­zu­neh­men hie­ße, vor den vor­läu­fi­gen Sie­gern zu kapi­tu­lie­ren, Revo­lu­ti­on und büro­kra­ti­sche Kon­ter­re­vo­lu­ti­on mit­ein­an­der zu ver­wech­seln und somit das Kapi­tel der Weg­ga­be­lun­gen zu strei­chen, das allein Raum für Hoff­nung lässt. Und das wür­de bedeu­ten, gegen­über den Besieg­ten eine nicht wie­der­gut­zu­ma­chen­de Unge­rech­tig­keit zu bege­hen, gegen­über allen – ob bekannt oder unbe­kannt –, die die kom­mu­nis­ti­sche Idee lei­den­schaft­lich gelebt haben und sie gegen Zerr­bil­der und Ver­fäl­schun­gen aktiv ver­tei­digt haben. Schan­de über die­je­ni­gen, die auf­ge­hört haben, Kom­mu­nis­ten zu sein, als sie auf­ge­hört haben, Sta­li­nis­ten zu sein, und die nur solan­ge Kom­mu­nis­ten waren, wie sie Sta­li­nis­ten waren!1

4. Von allen Arten, „das Ande­re“ des gemei­nen Kapi­ta­lis­mus zu benen­nen, das not­wen­dig und mög­lich ist, behält der Begriff Kom­mu­nis­mus den größ­ten his­to­ri­schen Sinn und die explo­sivs­te pro­gram­ma­ti­sche Bedeu­tung. Er erin­nert am bes­ten an die Güter­ge­mein­schaft und Gleich­heit, an die Ver­ge­sell­schaf­tung oder Auf­tei­lung der Macht, an die Soli­da­ri­tät, die dem ego­is­ti­schen Kal­kül und der ver­all­ge­mei­ner­ten Kon­kur­renz ent­ge­gen­zu­stel­len ist, an das Ein­tre­ten für die natür­li­chen und kul­tu­rel­len Gemein­gü­ter der Mensch­heit, an die Aus­wei­tung kos­ten­lo­ser Diens­te der Grund­ver­sor­gung (Ver­ge­sell­schaf­tung) gegen die ver­all­ge­mei­ner­te Aus­plün­de­rung und Pri­va­ti­sie­rung der Welt.

5. Er steht auch für einen ande­ren Maß­stab des gesell­schaft­li­chen Reich­tums als den des Wert­ge­set­zes und des Markt­prei­ses. Der „freie und unver­fälsch­te Wett­be­werb” beruht auf „Dieb­stahl an frem­der Arbeits­zeit“. Er gibt vor, das Nicht­quan­ti­fi­zier­ba­re bewer­ten zu kön­nen und das nicht mess­ba­re Ver­hält­nis der mensch­li­chen Gat­tung zu ihren natür­li­chen Repro­duk­ti­ons­be­din­gun­gen auf die arm­se­li­ge all­ge­mei­ne Mess­grö­ße Zeit der abs­trak­ten Arbeit redu­zie­ren zu können.

Kom­mu­nis­mus ist der Begriff für ein ande­res Ver­ständ­nis von Reich­tum, für eine qua­li­ta­tiv ande­re öko­lo­gi­sche Ent­wick­lung, die sich von dem quan­ti­ta­ti­ven Wirt­schafts­wachs­tum unter­schei­det. Die Logik der Kapi­tal­ak­ku­mu­la­ti­on ver­langt nicht nur Pro­duk­ti­on um des Pro­fits wil­len, son­dern erheischt auch „Pro­duk­ti­on neu­er Kon­sum­ti­on“, die bestän­di­ge Aus­wei­tung des Kreis­laufs der Kon­sum­ti­on durch die „Pro­duk­ti­on neu­er Bedürf­nis­se und Ent­de­ckung und Schöp­fung neu­er Gebrauchs­wer­te“: Also „Aus­beu­tung der gesam­ten Natur“ und „Aus­beu­tung der Erde in jedem Sinn“. Auf die­ser ver­hee­ren­den Maß­lo­sig­keit des Kapi­tals fußt die Aktua­li­tät eines radi­ka­len Ökokommunismus.

6. Im Kom­mu­nis­ti­schen Mani­fest wird der Kom­mu­nis­mus zunächst durch das Eigen­tum erklärt: „In die­sem Sinn kön­nen die Kom­mu­nis­ten ihre Theo­rie in dem einen Aus­druck: Auf­he­bung des Pri­vat­ei­gen­tums, zusam­men­fas­sen.“2 Das heißt: der Auf­he­bung des Pri­vat­ei­gen­tums an Pro­duk­ti­ons- und Tausch­mit­teln, das nicht mit dem indi­vi­du­el­len Eigen­tum an Gebrauchs­gü­tern zu ver­wech­seln ist. In „allen […] Bewe­gun­gen heben sie die Eigen­tums­fra­ge, wel­che mehr oder min­der ent­wi­ckel­te Form sie auch ange­nom­men haben möge, als die Grund­fra­ge der Bewe­gung her­vor“.3

In der Tat bezie­hen sich sie­ben der zehn Punk­te am Ende des zwei­ten Abschnitts [des Kom­mu­nis­ti­schen Mani­fests] auf die Eigen­tums­for­men: Expro­pria­ti­on des Grund­ei­gen­tums und Ver­wen­dung der Grund­ren­te zur Finan­zie­rung der Staats­aus­ga­ben; Ein­füh­rung einer stark pro­gres­si­ven Besteue­rung; Abschaf­fung des Erbes an Pro­duk­ti­ons- und Tausch­mit­teln; Kon­fis­ka­ti­on des Eigen­tums emi­grier­ter Kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re; Zen­tra­li­sa­ti­on des Kre­dits in einer öffent­li­chen Bank; Ver­ge­sell­schaf­tung der Trans­port­mit­tel und Ein­füh­rung einer öffent­li­chen und unent­gelt­li­chen Erzie­hung für alle; Schaf­fung von Natio­nal­fa­bri­ken und Urbar­ma­chung von unbe­bau­ten Ländereien.

Die­se Maß­nah­men sind alle­samt dar­auf aus­ge­rich­tet, die Kon­trol­le der poli­ti­schen Demo­kra­tie über die Öko­no­mie her­zu­stel­len, den Pri­mat des Gemein­wohls über das ego­is­ti­sche Inter­es­se, den des öffent­li­chen Raums über den pri­va­ten Raum. Es geht nicht dar­um, jeg­li­che Form von Eigen­tum abzu­schaf­fen, wohl aber um „die Abschaf­fung des heu­ti­gen Pri­vat­ei­gen­tums, des bour­geoi­sen Eigen­tums“, also der „Aneig­nungs­wei­se“, die auf der Aus­beu­tung der Einen durch die Ande­ren beruht.

Demo in Paris zum 150. Jahrestag der Niederschlagung der Pariser Kommune, 29. Mai 2021 (Copyright Photothèque Rouge / Martin Noda / Hans Lucas)

Demo in Paris zum 150. Jah­res­tag der Nie­der­schla­gung der Pari­ser Kom­mu­ne, 29. Mai 2021 (Copy­right Pho­to­t­hè­que Rouge / Mar­tin Noda / Hans Lucas)

7. Zwi­schen zwei­er­lei Recht, dem der Eigen­tü­mer, sich Gemein­gü­ter anzu­eig­nen, und dem Exis­tenz­recht der Ent­eig­ne­ten, „ent­schei­det die Gewalt“, sagt Marx. Die gesam­te moder­ne Geschich­te des Klas­sen­kampfs, vom Bau­ern­krieg in Deutsch­land über die Eng­li­sche und die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on bis zu den sozia­len Erhe­bun­gen des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts, ist die Geschich­te die­ses Kon­flikts. Er löst sich durch das Ent­ste­hen einer gegen die Lega­li­tät der Herr­schen­den gerich­te­ten Legitimität.

Als „end­lich ent­deck­te poli­ti­sche Form“ der Eman­zi­pa­ti­on, als „Abschaf­fung“ der Staats­macht, als Voll­endung der sozia­len Repu­blik, belegt die [Pari­ser] Kom­mu­ne das Her­vor­tre­ten die­ser neu­en Legi­ti­mi­tät. Ihr Bei­spiel hat For­men der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und der Selbst­ver­wal­tung der arbei­ten­den Bevöl­ke­rung ange­regt, wie sie sich in den revo­lu­tio­nä­ren Kri­sen gezeigt haben: Arbei­ter­rä­te, Sowjets, Miliz­ko­mi­tees, Indus­trie­gür­tel, Nach­bar­schafts­ver­ei­ni­gun­gen, Bau­ern­kom­mu­nen, die ten­den­zi­ell die Berufs­po­li­tik über­win­den, die gesell­schaft­li­che Arbeits­tei­lung ver­än­dern und die Bedin­gun­gen für das Abster­ben des Staats als eigen­stän­di­ger büro­kra­ti­scher Kör­per­schaft schaffen.

8. Unter der Herr­schaft des Kapi­tals hat jeder schein­ba­re Fort­schritt sein Gegen­stück des Rück­schritts und der Zer­stö­rung. Er besteht letzt­lich „nur dar­in, die Form der Unter­jo­chung zu ändern“. Der Kom­mu­nis­mus ver­langt ande­re Ideen und Kri­te­ri­en als die des wirt­schaft­li­chen Ertrags und der mone­tä­ren Ren­ta­bi­li­tät. An ers­ter Stel­le ist die dras­ti­sche Ver­kür­zung der Zeit für erzwun­ge­ne Arbeit und eine Ver­än­de­rung des Arbeits­be­griffs selbst erfor­der­lich: Es kann in der „Frei­zeit“ kei­ne wirk­li­che indi­vi­du­el­le Ent­fal­tung geben, solan­ge die Arbei­ten­den in der Arbeit ent­frem­det und ver­stüm­melt bleiben.

Die kom­mu­nis­ti­sche Per­spek­ti­ve erfor­dert auch eine radi­ka­le Ver­än­de­rung des Ver­hält­nis­ses zwi­schen Mann und Frau: Die Erfah­rung des Ver­hält­nis­ses zwi­schen den Geschlech­tern ist die ers­te Erfah­rung des Anders­seins, und solan­ge das Unter­drü­ckungs­ver­hält­nis fort­be­steht, wird jedes durch Kul­tur, Haut­far­be oder sexu­el­le Ori­en­tie­rung sich unter­schei­den­de Wesen Opfer von Dis­kri­mi­nie­rung und Herr­schaft sein. Authen­ti­scher Fort­schritt liegt in der Ent­wick­lung und der Dif­fe­ren­zie­rung von Bedürf­nis­sen, deren ori­gi­nel­le Kom­bi­na­ti­on jeden und jede zu einem ein­zig­ar­ti­gen Wesen macht, des­sen Sin­gu­la­ri­tät zur Berei­che­rung der Gat­tung beiträgt.

9. Das [Kom­mu­nis­ti­sche] Mani­fest ver­steht den Kom­mu­nis­mus als „eine Asso­zia­ti­on, wor­in die freie Ent­wick­lung eines jeden die Bedin­gung für die freie Ent­wick­lung aller ist“. Er ist damit die Maxi­me einer frei­en indi­vi­du­el­len Ent­fal­tung, die man weder mit den Trug­bil­dern eines dem Kon­for­mis­mus der Wer­bung unter­wor­fe­nen Indi­vi­dua­lis­mus ohne Indi­vi­dua­li­tät, noch mit der plum­pen Gleich­ma­che­rei eines Kaser­nen­so­zia­lis­mus ver­wech­seln darf. Die Ent­wick­lung der sin­gu­lä­ren Bedürf­nis­se und Fähig­kei­ten eines und einer jeden trägt zur uni­ver­sa­len Ent­wick­lung der mensch­li­chen Gat­tung bei. Umge­kehrt impli­ziert die freie Ent­wick­lung eines und einer jeden die freie Ent­wick­lung aller, denn die Eman­zi­pa­ti­on ist nicht das Ver­gnü­gen einzelner.

Demo in Paris zum 150. Jahrestag der Niederschlagung der Pariser Kommune, 29. Mai 2021 (Copyright Photothèque Rouge / Martin Noda / Hans Lucas)

Demo in Paris zum 150. Jah­res­tag der Nie­der­schla­gung der Pari­ser Kom­mu­ne, 29. Mai 2021 (Copy­right Pho­to­t­hè­que Rouge / Mar­tin Noda / Hans Lucas)

10. Der Kom­mu­nis­mus ist kei­ne rei­ne Idee, auch kein dok­tri­nä­res Gesell­schafts­mo­dell. Er ist weder die Bezeich­nung für ein staat­li­ches Regime, noch für eine neue Pro­duk­ti­ons­wei­se. Er steht für die Bewe­gung, die die bestehen­de Ord­nung in Per­ma­nenz auf­hebt. Er ist aber auch das Ziel, das, aus die­ser Bewe­gung ent­stan­den, ihr eine Rich­tung weist und es – anders als prin­zi­pi­en­lo­se Poli­tik, fol­gen­lo­se Aktio­nen, täg­li­ches Impro­vi­sie­ren – mög­lich macht zu bestim­men, was sie dem Ziel näher­bringt und was sie davon weg­führt. In die­sem Sin­ne ist er kei­ne wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis von Ziel und Weg, son­dern eine regu­la­ti­ve stra­te­gi­sche Annah­me. Er benennt, was zusam­men­ge­hört: den unbe­zwing­ba­ren Traum von einer ande­ren Welt der Gerech­tig­keit, der Gleich­heit und der Soli­da­ri­tät, die per­ma­nen­te Bewe­gung, die auf einen Sturz der bestehen­den Ord­nung im Kapi­ta­lis­mus abzielt, und die Hypo­the­se, die die­se Bewe­gung auf eine radi­ka­le Ände­rung der Eigen­tums- und Macht­ver­hält­nis­se ori­en­tiert, ent­fernt von Kom­pro­mis­sen mit einem klei­ne­ren Übel, das der kür­zes­te Weg zum größ­ten Übel wäre.

11. Die sozia­le, öko­no­mi­sche, öko­lo­gi­sche und mora­li­sche Kri­se eines Kapi­ta­lis­mus, der sei­nen eige­nen Wider­sprü­chen nur um den Preis wach­sen­der Maß­lo­sig­keit und Unver­nunft ent­ge­gen­tre­ten kann, bedroht zugleich die mensch­li­che Gat­tung und den Pla­ne­ten. Sie stellt die „Aktua­li­tät eines radi­ka­len Kom­mu­nis­mus“ wie­der auf die Tages­ord­nung, von der [Wal­ter] Ben­ja­min vor dem Hin­ter­grund der her­auf­zie­hen­den Gefah­ren der Zwi­schen­kriegs­zeit schrieb.


Fuß­no­ten

1 Vgl. Dio­nys Mas­co­lo, À la recher­che d’un com­mu­nis­me de pen­sée, Paris (édi­ti­ons Four­bis) 2000, S. 113.
2 [Karl Marx und Fried­rich Engels, Mani­fest der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei; in: Karl Marx, Fried­rich Engels, Aus­ge­wähl­te Schrif­ten in zwei Bän­den, Ber­lin (Dietz Ver­lag), 1972, S. 38.]
3 [A.a.O., S. 56.]


* [Ursprüng­lich ver­öf­fent­licht unter dem Titel „De quoi le com­mu­nis­me est-il le nom? Puis­sances du_communisme“ in Con­tre­temps, Nr. 4 (Neue Serie) von Okto­ber 2009. Deut­sche Über­set­zung von Wil­fried Dubo­is unter Mit­ar­beit von Elfi Mül­ler mit dem Titel „Von der Aktua­li­tät des Kom­mu­nis­mus?“ (vgl. http://danielbensaid.org/Von-der-Aktualitat-des-Kommunismus), redak­tio­nel­le Über­ar­bei­tung für Avan­ti² durch W. A.]

Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Juli/August 2021
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