Der bür­ger­li­che Staat

Schein und Sein

 

Ernest Man­del

Infol­ge des Kamp­fes der Arbei­ter­be­we­gung wer­den bestimm­te Insti­tu­tio­nen des bür­ger­li­chen Staa­tes sub­ti­ler und auch kom­ple­xer. Das all­ge­mei­ne Wahl­recht hat das Zen­sus­wahl­recht abge­löst, der Mili­tär­dienst ist ver­pflich­tend gewor­den, alle zah­len Steu­ern. Damit wird der Klas­sen­cha­rak­ter des Staa­tes etwas weni­ger offensichtlich.

Die Funk­ti­on des Staa­tes als Instru­ment der herr­schen­den Klas­se ist weni­ger klar als in der Zeit des klas­sisch bür­ger­li­chen Regimes, als die Bezie­hun­gen zwi­schen den ver­schie­de­nen Grup­pen, die Staats­funk­tio­nen aus­üb­ten, noch genau­so durch­sich­tig waren wie in der Feu­dal­zeit. So muss jetzt auch die Ana­ly­se etwas kom­ple­xer werden.

Hier­ar­chie ver­schie­de­ner Staatsfunktionen
Nur die Naivs­ten glau­ben heu­te noch, dass das Par­la­ment – gestützt auf das all­ge­mei­ne Wahl­reicht – das Sagen hat und den Staat kon­trol­liert. (Wir müs­sen aber fest­hal­ten, dass die­se Illu­si­on dort noch eini­ger­ma­ßen ver­brei­tet ist, wo das Par­la­ment noch nicht lan­ge existiert).

Die Staats­macht ist eine per­ma­nen­te Macht. Sie wird von einer gewis­sen Zahl geson­der­ter Insti­tu­tio­nen aus­ge­übt, die gegen­über dem wech­seln­den Ein­fluss der Stimm­ab­ga­be bei den Wah­len auto­nom sind. Die­se Insti­tu­tio­nen gilt es zu unter­su­chen, wenn man her­aus­fin­den will, wo die eigent­li­che Macht liegt. „Regie­run­gen kom­men und gehen, aber die Poli­zei und die Ver­wal­tung bleiben.“

Deutsche Erstausgabe von Mandels Text, Dezember 2013.  (Foto: Avanti²)

Deut­sche Erst­aus­ga­be von Man­dels Text, Dezem­ber 2013. (Foto: Avanti²)

Der Staat besteht in ers­ter Linie aus die­sen per­ma­nen­ten Insti­tu­tio­nen: der Armee (dem bestän­di­gen Teil wie dem Gene­ral­stab, den Son­der­trup­pen …), der Poli­zei, der Gen­dar­me­rie (Bereit­schafts­po­li­zei), der Ver­wal­tung, den Minis­te­ri­en, den Staats­si­cher­heits­diens­ten, den Rich­tern usw. – all das ist „frei“ davon, durch das all­ge­mei­ne Wahl­recht beein­flusst zu werden.

Die­se Exe­ku­tiv­ge­walt wird stän­dig aus­ge­baut. In dem Maß, wie sich das all­ge­mei­ne Wahl­recht ent­wi­ckelt und wie bestimm­te Insti­tu­tio­nen eine rela­ti­ve (im Übri­gen nur for­mel­le) Demo­kra­ti­sie­rung erfah­ren, lässt sich eine Ver­schie­bung der rea­len Macht fest­stel­len, weg von die­sen Insti­tu­tio­nen und hin zu sol­chen, die mehr und mehr dem Ein­fluss des Par­la­ments ent­zo­gen sind.

Wenn in der auf­stre­ben­den Pha­se des Par­la­men­ta­ris­mus bestimm­te Rech­te vom König und sei­nen Beam­ten auf das Par­la­ment über­ge­hen, so wer­den in der Nie­der­gangs­pha­se des Par­la­men­ta­ris­mus, die mit der Durch­set­zung des all­ge­mei­nen Wahl­rechts ein­setzt, immer mehr Rech­te dem Par­la­ment ent­zo­gen und von den per­ma­nen­ten und nicht absetz­ba­ren Ein­rich­tun­gen des Staa­tes über­nom­men. Die­ses ist in ganz West­eu­ro­pa ein gene­rel­les Phä­no­men. Zur­zeit ist Frank­reichs V. Repu­blik dafür das auf­fäl­ligs­te und das am wei­tes­ten ent­wi­ckel­te Beispiel.

Ist in die­ser Umkeh­rung der Ent­wick­lung ein teuf­li­sches Kom­plott bös­ar­ti­ger Bour­geois gegen das all­ge­mei­ne Wahl­recht aus­zu­ma­chen? Es han­delt sich dabei um viel tie­fer lie­gen­de objek­ti­ve Bedin­gun­gen und Vor­gän­ge: Die rea­le Macht wird zuneh­mend von der Legis­la­ti­ve zur Exe­ku­ti­ve ver­scho­ben, die Exe­ku­ti­ve wird stän­dig und unauf­hör­lich auf­grund von Ver­än­de­run­gen gestärkt, die sich inner­halb der bür­ger­li­chen Klas­se selbst abspielen.

Die­ser Pro­zess hat wäh­rend des Ers­ten Welt­kriegs in den meis­ten der krieg­füh­ren­den Län­der begon­nen und hat sich seit­dem unab­läs­sig fort­ge­setzt. Aber die­ses Phä­no­men gab es stel­len­wei­se bereits vor­her. So gab es im deut­schen Kai­ser­reich schon bei der Ein­füh­rung des all­ge­mei­nen Wahl­rechts die­se Vor­herr­schaft der Exe­ku­ti­ve gegen­über der Legis­la­ti­ve. Bis­marck und die Jun­ker haben das all­ge­mei­ne Wahl­recht ein­ge­führt, um – in gewis­sem Umfang – die Arbei­ter­klas­se als Manö­vrier­mas­se gegen die libe­ra­le Bour­geoi­sie ein­set­zen zu kön­nen und so in die­ser im Wesent­li­chen schon kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft die rela­ti­ve Unab­hän­gig­keit der exe­ku­ti­ven Gewalt, die vom preu­ßi­schen Adel aus­ge­übt wur­de, zu sichern.

Die­ser Pro­zess zeigt sehr wohl, dass die poli­ti­sche Gleich­heit nur vor­der­grün­dig exis­tiert und dass das Recht der stimm­be­rech­tig­ten Bür­ger nur dar­in besteht, alle vier Jah­re ein klei­nes Papier in die Wahl­ur­ne zu ste­cken. Es reicht nicht wei­ter, und vor allem betrifft es nicht die wirk­li­chen Ent­schei­dungs­zen­tren der Macht.

Die Mono­po­le lösen das Par­la­ment ab
Die klas­si­sche Epo­che des Par­la­men­ta­ris­mus ist die der frei­en Kon­kur­renz. Zu jener Zeit ist der ein­zel­ne Bour­geois, der Indus­tri­el­le, der Ban­kier, indi­vi­du­ell sehr stark. Er ist sehr unab­hän­gig, sehr frei im Rah­men der bür­ger­li­chen Frei­heit und kann nach Belie­ben sein Kapi­tal dem Risi­ko des Mark­tes aus­set­zen. In die­ser ato­mi­sier­ten bür­ger­li­chen Gesell­schaft spielt das Par­la­ment eine sehr nütz­li­che objek­ti­ve Rol­le, für das nor­ma­le All­tags­ge­schäft sogar eine unver­zicht­ba­re Rolle.

Denn nur im Par­la­ment lässt sich der gemein­sa­me Nen­ner der Inter­es­sen der Bour­geoi­sie bestim­men. Es las­sen sich Dut­zen­de ver­schie­de­ner Grup­pen des Bür­ger­tums aus­ma­chen, die sich auf­grund einer Viel­zahl sek­to­ra­ler, regio­na­ler oder Bran­chen­in­ter­es­sen gegen­über­ste­hen. Die­se Grup­pen begeg­nen sich nir­gend­wo auf insti­tu­tio­na­li­sier­te Wei­se, außer im Par­la­ment. (Sie begeg­nen sich auf dem Markt, aber dort mit Mes­sern!) Nur im Par­la­ment kann sich eine ver­mit­teln­de Linie her­aus­schä­len, die Aus­druck der Inter­es­sen der gesam­ten bür­ger­li­chen Klas­se ist. Denn dies war damals die Funk­ti­on des Par­la­ments: Als Treff­punkt die­nen, wo die kol­lek­ti­ven Inter­es­sen der Bour­geoi­sie for­mu­liert werden.

Ver­ges­sen wir nicht, dass in der heroi­schen Pha­se des Par­la­men­ta­ris­mus bei der Her­aus­bil­dung des kol­lek­ti­ven Inter­es­ses nicht nur Wor­te und Abstim­mun­gen eine Rol­le spiel­ten, son­dern auch Dol­che und Pis­to­len. Wur­den nicht im Kon­vent, dem klas­si­schen bür­ger­li­chen Par­la­ment in der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on, nach bestimm­ten Abstim­mun­gen, die oft nur mit hau­dün­ner Mehr­heit gewon­nen wur­den, poli­ti­sche Geg­ner auf die Guil­lo­ti­ne geschickt?

Aber die kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft bleibt nicht ato­mi­siert. Nach und nach orga­ni­siert sie sich und gibt sich zuneh­mend kon­zen­trier­te und zen­tra­li­sier­te Struk­tu­ren. Die freie Kon­kur­renz tritt zurück und wird durch Mono­po­le, Trusts und ande­re Kapi­tal­grup­pen ersetzt.

Die kapi­ta­lis­ti­sche Macht zen­tra­li­siert sich außer­halb des Par­la­ments. Eine wirk­li­che Zen­tra­li­sie­rung des Finanz­ka­pi­tals, der gro­ßen Ban­ken und Finanz­grup­pen wird orga­ni­siert. Wenn vor einem Jahr­hun­dert die vom (bel­gi­schen) Par­la­ment her­aus­ge­ge­be­ne Ana­ly­tique¹ die Bestre­bun­gen der bel­gi­schen Bour­geoi­sie zum Aus­druck brach­te, so ist es heu­te der Jah­res­be­richt der Socié­té Géné­ra­le oder der Bru­fi­na², mit denen die Jah­res­haupt­ver­samm­lun­gen ihrer Aktio­nä­re vor­be­rei­tet wer­den und die es zu stu­die­ren gilt, wenn man die wirk­li­chen Ansich­ten der Kapi­ta­lis­ten ken­nen­ler­nen will. Dort kom­men die Anschau­un­gen der­je­ni­gen Bour­geois zum Aus­druck, die wirk­lich zäh­len, näm­lich die gro­ßen Finanz­grup­pen, die das Land beherrschen.

Damit ist die kapi­ta­lis­ti­sche Macht außer­halb des Par­la­ments und der aus den Wah­len her­vor­ge­hen­den Insti­tu­tio­nen kon­zen­triert. Ange­sichts einer der­art fort­ge­schrit­te­nen Kon­zen­tra­ti­on (ver­ges­sen wir nicht, dass in Bel­gi­en etwa zehn Finanz­grup­pen das Wirt­schafts­le­ben der Nati­on kon­trol­lie­ren) ist die Bezie­hung zwi­schen dem Par­la­ment, den Beam­ten, den Poli­zei­prä­si­den­ten … und die­sen Leu­ten, die Mil­li­ar­den ein­neh­men, eine Bezie­hung, die sich wenig um theo­re­ti­sche Fest­le­gun­gen küm­mert. Es ist eine unmit­tel­ba­re und prak­ti­sche Ver­bin­dung: Sie läuft über die Bezahlung.

CRS (Bereitschaftspolizei) vor Alstom-Zentrale in Paris, 8. April 2016. (Foto: Avanti²)

Deut­sche Erst­aus­ga­be von Man­dels Text, Dezem­ber 2013.

Die sicht­ba­ren Gold­ket­ten der Bour­geoi­sie – die Staatsverschuldung
Das Par­la­ment und mehr noch die Regie­rung eines kapi­ta­lis­ti­schen Staa­tes, und sei er dem Anschein nach noch so demo­kra­tisch, sind mit Gold­ket­ten an die Bour­geoi­sie gebun­den. Die­se Gold­ket­ten haben einen Namen: die Staats­ver­schul­dung. Kei­ne Regie­rung kann län­ger als einen Monat über­le­ben, ohne an die Tür der Ban­ken zu klop­fen, um die lau­fen­den Aus­ga­ben täti­gen zu kön­nen. Wenn die Ban­ken ableh­nen, ist die Regie­rung bank­rott. Für die­ses Phä­no­men gibt es zwei Ursa­chen: Die Steu­ern flie­ßen nicht jeden Tag in die Staats­kas­se; die Ein­künf­te kon­zen­trie­ren sich auf eine bestimm­te Zeit im Jahr, wäh­rend die Aus­ga­ben kon­ti­nu­ier­lich sind.

Dar­aus erge­ben sich die kurz­fris­ti­gen Staats­schul­den. Die­ses Pro­blem könn­te gelöst wer­den; vor­stell­bar ist eine tech­ni­sche Über­ein­kunft, aber es gibt ein viel schwer­wie­gen­de­res Pro­blem: Alle moder­nen kapi­ta­lis­ti­schen Staa­ten geben mehr aus, als sie ein­neh­men. Für die Staats­schul­den kön­nen die Ban­ken und ande­re Finanz­in­sti­tu­te ohne gro­ße Beden­ken Geld zur Ver­fü­gung stel­len. Für den Staat ergibt sich dar­aus näm­lich eine direk­te und unmit­tel­ba­re, täg­li­che Abhän­gig­keit vom Großkapital.

Die Hier­ar­chie im Staatsapparat …
Wei­te­re – in dem Fall unsicht­ba­re – Gold­ket­ten sor­gen dafür, dass der Staats­ap­pa­rat ein Instru­ment in den Hän­den der Bour­geoi­sie ist. Betrach­ten wir bei­spiels­wei­se das Ein­stel­lungs­ver­fah­ren für Beschäf­tig­te des Öffent­li­chen Diens­tes, so stel­len wir fest, dass für eine ein­fa­che Arbeits­stel­le in einem Minis­te­ri­um eine Auf­nah­me­prü­fung zu absol­vie­ren ist. Die Regel erscheint demo­kra­tisch. Auf der ande­ren Sei­te kann sich nicht jeder Mensch mit einer Prü­fung um eine Tätig­keit egal auf wel­cher Hier­ar­chie­stu­fe bewer­ben. Die Prü­fung für einen Staats­se­kre­tärs­pos­ten oder für den Gene­ral­stab einer Armee ist nicht die glei­che wie für die Aus­bil­dungs­stel­le eines ein­fa­chen Ange­stell­ten in einer klei­nen Ver­wal­tung. Auf den ers­ten Blick mag das noch nor­mal erscheinen.

Aber bei die­sen Prü­fun­gen gibt es eine pro­gres­si­ve Ver­schär­fung, die selek­tiv wirkt. Die Bewer­be­rin­nen und Bewer­ber müs­sen bestimm­te Zeug­nis­se vor­wei­sen, sie müs­sen bestimm­te Lehr­gän­ge besucht haben, um über­haupt als Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten für bestimm­te Pos­ten in Fra­ge zu kom­men, vor allem wenn es sich um Lei­tungs­funk­tio­nen han­delt. Ein sol­ches Sys­tem schließt von vorn­her­ein die­je­ni­gen Men­schen aus, die kei­ne uni­ver­si­tä­re oder ver­gleich­ba­re Aus­bil­dung durch­lau­fen konn­ten, denn die Demo­kra­ti­sie­rung des Bil­dungs­sys­tems muss erst noch rea­li­siert wer­den. Auch wenn das Sys­tem der Prü­fun­gen ega­li­tär erscheint, so ist es doch in Wirk­lich­keit ein Selektionsinstrument.

… Spie­gel der Hier­ar­chie in der kapi­ta­lis­ti­schen Gesellschaft
Die­se unsicht­ba­ren Gold­ket­ten fin­den sich auch bei den Gehäl­tern der­je­ni­gen, die dem Staats­ap­pa­rat ange­hö­ren. Alle Ver­wal­tun­gen ein­schließ­lich der Armee wei­sen die­sen Aspekt der Pyra­mi­de auf, der Hier­ar­chie, die die bür­ger­li­che Gesell­schaft aus­zeich­net. Wir sind der­ma­ßen beein­flusst und von der Ideo­lo­gie der herr­schen­den Klas­se geprägt, dass wir das – im Ver­gleich zu dem Gehalt eines ein­fa­chen Ange­stell­ten oder einer Rei­ni­gungs­frau – zehn­fach höhe­re Ein­kom­men eines Staats­se­kre­tärs bil­li­gen. Die Putz­kraft muss phy­sisch sehr viel mehr leis­ten, aber der Staats­se­kre­tär „denkt“! Das ist ja bekannt­lich viel ermü­den­der. So ist auch der Sold des Gene­ral­stabchefs (noch einer, der „denkt“!) sehr viel höher als der eines ein­fa­chen Soldaten.

Die­se hier­ar­chi­sche Struk­tur des Staats­ap­pa­rats lässt uns fol­gen­des unter­strei­chen: Es fin­den sich dort Staats­se­kre­tä­re, Gene­rä­le usw., die über ver­gleich­ba­re Ein­kom­men ver­fü­gen, also über einen ver­gleich­ba­ren Lebens­stan­dard, der sie dem glei­chen gesell­schaft­li­chen und ideo­lo­gi­schen Milieu ange­hö­ren lässt wie die Groß­bour­geoi­sie. Dann fol­gen die mitt­le­ren Beam­ten, die mitt­le­ren Offi­zie­re, die unter ähn­li­chen gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen leben und ähn­li­che Ein­kom­men haben wie die mitt­le­re und Klein­bour­geoi­sie. Und dann gibt es noch die Mas­se der ein­fa­chen Staats­an­ge­stell­ten, der Unge­lern­ten, der Rei­ni­gungs­kräf­te, der kom­mu­na­len Arbei­ter, die oft weni­ger ver­die­nen als Fabrik­ar­bei­te­rin­nen und -arbei­ter. Ihr Lebens­stan­dard ent­spricht dem des Proletariats.

Der Staats­ap­pa­rat ist kein homo­ge­nes Instru­ment. Er weist eine Struk­tur auf, die ganz deut­lich der Struk­tur der bür­ger­li­chen Gesell­schaft ent­spricht, mit einer Klas­sen­hier­ar­chie und den ent­spre­chen­den Unter­schie­den. Die­se Pyra­mi­den­struk­tur ent­spricht einem rea­len Bedürf­nis der Bour­geoi­sie. Sie will über ein Instru­ment ver­fü­gen, das sie nach eige­nem Gut­dün­ken nut­zen kann. So lässt sich des­halb auch gut ver­ste­hen, wie­so die Bour­geoi­sie lan­ge und hart­nä­ckig ver­sucht hat, den Beschäf­tig­ten des Öffent­li­chen Diens­tes das Streik­recht zu verwehren.

Der Staat? – Ein Überwacher!
Die­ses Argu­ment ist wich­tig. Schon in der Kon­zep­ti­on des bür­ger­li­chen Staa­tes – ganz gleich übri­gens, wie „demo­kra­tisch“ er im jewei­li­gen Fall ist – gibt es einen fun­da­men­ta­len Punkt, der übri­gens mit sei­ner Ent­ste­hung zusam­men­hängt: Von sei­nem Wesen her ist und bleibt der Staat gegen­über den Bedürf­nis­sen der Gemein­schaft feind­lich oder wenig zugäng­lich. Der Staat ist per Defi­ni­ti­on eine Grup­pe von Men­schen, die bestimm­te Funk­tio­nen aus­üben, die ursprüng­lich von allen Mit­glie­dern des Gemein­we­sens aus­ge­übt wur­den. Die­se Staats­be­am­ten üben kei­ne pro­duk­ti­ve Tätig­keit aus, son­dern wer­den von den ande­ren Mit­glie­dern der Gesell­schaft ausgehalten.

Zu nor­ma­len Zei­ten haben wir kei­nen Bedarf an Über­wa­chern. So gibt es in Bus­sen der Mos­kau­er Ver­kehrs­be­trie­be nie­mand, der die Funk­ti­on des Geld­ein­sam­melns über­nimmt; die Nut­zer legen ihre Kope­ken hin, ohne dass sie jemand dabei kontrolliert.³ In Gesell­schaf­ten, in denen die Pro­duk­tiv­kräf­te noch wenig ent­wi­ckelt sind und es einen inten­si­ven Kampf jeder gegen jeden gibt, um sich von dem ins­ge­samt unzu­rei­chen­den Sozi­al­pro­dukt ein gewis­ses Stück anzu­eig­nen, braucht es einen Appa­rat an Auf­se­hern. So wur­den in der Zeit der Besat­zung wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs Unmen­gen an spe­zi­el­len Über­wa­chungs­diens­ten ein­ge­rich­tet (Bahn­hofs­po­li­zei, Über­wa­chung der Dru­cke­rei­en, Über­wa­chung der Ratio­nie­rung von Lebensmitteln …).

In sol­chen Zei­ten gibt es so viel Kon­flikt­stoff, dass ein gewal­ti­ger Über­wa­chungs­ap­pa­rat erfor­der­lich ist. Bei genaue­rer Über­le­gung stellt sich her­aus, dass alle, die Staats­funk­tio­nen aus­üben, die also zum Staats­ap­pa­rat gehö­ren, auf die eine oder ande­re Wei­se Auf­se­her sind. Die Ange­hö­ri­gen der unter­schied­li­chen Poli­zei­struk­tu­ren sind Auf­se­her, aber auch die Beam­ten der Finanz­äm­ter, der Jus­tiz, der Minis­te­ri­al­ver­wal­tun­gen, der Fahr­kar­ten­kon­trol­len in Bus­sen usw. Letzt­end­lich las­sen sich alle Funk­tio­nen des Staats­ap­pa­ra­tes auf Fol­gen­des zurück­füh­ren: über­wa­chen und das gesell­schaft­li­che Leben im Inter­es­se der herr­schen­den Klas­se kontrollieren.

Es heißt oft, der heu­ti­ge Staat sei so etwas wie ein Schieds­rich­ter; die­se Fest­stel­lung könn­te in enger Ver­bin­dung mit der Erklä­rung gese­hen wer­den, die wir hier dar­ge­legt haben: Denn sind nicht „über­wa­chen“ und „den Schieds­rich­ter geben“ letzt­lich das Gleiche?

Dazu müs­sen wir zwei Anmer­kun­gen machen: Ers­tens ist die­ser Schieds­rich­ter nicht neu­tral. Wie wir oben dar­ge­legt haben, sind die Spit­zen des Staats­ap­pa­rats sehr eng mit der Groß­bour­geoi­se ver­bun­den. Sodann erfolgt die Aus­übung des Schieds­rich­ter­am­tes nicht im luft­lee­ren Raum; sie erfolgt im Rah­men der Auf­recht­erhal­tung der exis­tie­ren­den Klas­sen­ge­sell­schaft. Sicher­lich kön­nen die „Schieds­rich­ter“ den Aus­ge­beu­te­ten Zuge­ständ­nis­se machen; dies hängt im Wesent­li­chen von den Kräf­te­ver­hält­nis­sen ab. Aber das wesent­li­che Ziel der Schieds­rich­ter­rol­le ist die Auf­recht­erhal­tung der kapi­ta­lis­ti­schen Aus­beu­tung als sol­cher, not­falls indem zweit­ran­gi­ge Zuge­ständ­nis­se gemacht werden.

Der Über­wa­chungs­staat – Beleg für die Armut in der Gesellschaft
Der Staat ist eine von der Gesell­schaft abge­son­der­te Kör­per­schaft, um das täg­li­che Funk­tio­nie­ren des gesell­schaft­li­chen Lebens zu über­wa­chen – im Dienst der herr­schen­den Klas­se und zur Absi­che­rung ihrer Herr­schaft. Die­ses Über­wa­chungs­in­stru­ment ist objek­tiv not­wen­dig, denn es ergibt sich unmit­tel­bar aus dem Aus­maß der Armut und der Viel­zahl der sozia­len Kon­flik­te, die in die­ser Gesell­schaft existieren.

In einer all­ge­mei­ne­ren geschicht­li­chen Betrach­tung ist die Aus­übung der Staats­funk­tio­nen eng mit der Exis­tenz gesell­schaft­li­cher Kon­flik­te ver­bun­den, und die­se wie­der­um sind eng mit dem Vor­han­den­sein eines gewis­sen Man­gels an mate­ri­el­len Gütern, an Wohl­stand und an Res­sour­cen ver­knüpft, also Mit­teln, die der Befrie­di­gung mensch­li­cher Bedürf­nis­se die­nen. Wir beto­nen: Solan­ge es einen Staat geben wird, wird er ein Beleg dafür sein, dass es noch gesell­schaft­li­che Kon­flik­te gibt (also auch einen rela­ti­ven Man­gel an Gütern und Dienst­leis­tun­gen). Mit dem Ver­schwin­den gesell­schaft­li­cher Kon­flik­te wer­den auch die Auf­se­her ver­schwin­den, die dann para­si­tär und über­flüs­sig gewor­den sind, aber nicht vor­her! Die Gesell­schaft bezahlt die­se Men­schen für ihre Über­wa­chungs­auf­ga­be, und zwar solan­ge, wie ein Teil der Gesell­schaft dar­an ein Inter­es­se hat. Aber es ist offen­sicht­lich, dass dann, wenn kein Teil der Gesell­schaft mehr ein Inter­es­se an dem Aus­üben der Über­wa­chung hat, mit ihrer Bedeu­tungs­lo­sig­keit auch die Funk­ti­on selbst ver­schwin­den wird.

Die Tat­sa­che, dass der Staat über­lebt, beweist, dass die­se gesell­schaft­li­chen Kon­flik­te wei­ter­hin exis­tie­ren. Er belegt, dass die­ser rela­ti­ve Man­gel an Gütern nicht über­wun­den ist, der eine sehr lan­ge Peri­ode der Mensch­heits­ge­schich­te kenn­zeich­net. Sie hat mit dem Sta­di­um abso­lu­ter Armut (im Klan- oder Stam­mes­kom­mu­nis­mus) begon­nen und kann erst mit einer Situa­ti­on des Über­flus­ses enden, näm­lich dem Sozia­lis­mus. Solan­ge wir in die­ser Über­gangs­pha­se sind, die etwa zehn­tau­send Jah­re der Mensch­heits­ge­schich­te umfasst und auch die Pha­se des Über­gangs vom Kapi­ta­lis­mus zum Sozia­lis­mus ein­schließt, wird der Staat wei­ter exis­tie­ren, wird es wei­ter gesell­schaft­li­che Kon­flik­te geben, und es wird Leu­te brau­chen, die in die­sen Kon­flik­ten im Inter­es­se der herr­schen­den Klas­se die Schieds­rich­ter­rol­le übernehmen.

Wenn der bür­ger­li­che Staat im Wesent­li­chen ein Instru­ment im Dienst der herr­schen­den Klas­se ist, heißt das, dass es der arbei­ten­den Klas­se egal sein soll­te, wel­che spe­zi­fi­sche Form die­ser Staat annimmt – par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie, Mili­tär­dik­ta­tur, faschis­ti­sche Dik­ta­tur? Natür­lich nicht! Je mehr Frei­hei­ten die Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter für ihre Orga­ni­sie­rung und die Ver­brei­tung ihrer Vor­stel­lun­gen nut­zen kön­nen, umso mehr kön­nen im Schoß der bür­ger­li­chen Gesell­schaft Kei­me der künf­ti­gen sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft ent­ste­hen und umso mehr wird die Durch­set­zung des Sozia­lis­mus his­to­risch erleich­tert. Des­halb müs­sen die Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter ihre demo­kra­ti­schen Rech­te gegen alle Bestre­bun­gen ver­tei­di­gen, die sie zu beschnei­den (Anti-Streik­ge­set­ze, Star­ker Staat …) oder gar aus­zu­lö­schen (Faschis­mus) versuchen.


*[Ernest Man­dels Text ist ein Aus­zug aus Reden, die er beim Stu­di­en­kreis der Brüs­se­ler Orts­grup­pe des bel­gi­schen Natio­na­len Ver­ban­des Sozia­lis­ti­scher Stu­den­ten (Fédé­ra­ti­on Natio­na­le des Etu­di­ants Socia­lis­tes, FNES) gehal­ten hat­te. Die FNES ver­öf­fent­lich­te Man­dels Reden 1965 als Son­der­num­mer ihrer Docu­ments Socia­lis­tes. 1969 erschien in den USA eine eng­li­sche Über­set­zung bei Merit Publishers und 1971 bei Path­fin­der Press. 2013 hat der RSB / IV. Inter­na­tio­na­le eine deut­sche, von Jakob Schä­fer aus dem fran­zö­si­schen Ori­gi­nal über­setz­te Fas­sung unter dem Titel Die mar­xis­ti­sche Staats­theo­rie her­aus­ge­ge­ben. Die Redak­ti­on von Avan­ti² hat den in der vor­lie­gen­den Okto­ber-Bei­la­ge ver­öf­fent­lich­ten Teil II – „Der bür­ger­li­che Staat: Aspek­te einer täg­li­chen Rea­li­tät“ – redak­tio­nell bearbeitet.]
¹ Die Ana­ly­tique war der detail­lier­te Rechen­schafts­be­richt des bel­gi­schen Par­la­ments, in dem auch die Zie­le für die kom­men­de Peri­ode (vor allem für das kom­men­de Jahr) for­mu­lier­te wur­den. (Anm. d. Übers.)
² Die Socié­té Géné­ra­le war bis in die 1990er Jah­re die größ­te bel­gi­sche Bank. Inzwi­schen gehört sie zur fran­zö­si­schen Suez S.A.. Bru­fi­na ist eine Finanz­hol­ding, die frü­her sehr stark mit dem Berg­werks­ka­pi­tal in Hainaut ver­bun­den war. Heu­te ist auch Bru­fi­na nicht mehr bel­gisch. (Anm. d. Übers.)
³ Inzwi­schen abge­schafft. (Anm. des Übers.)

Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Okto­ber 2021
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