H. S.
Auch ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine ist ein Ende des Krieges nicht absehbar. Alle „realpolitischen“ Lösungen sind katastrophal.
Wenn Russland die Ukraine militärisch unterwirft, ist das eine Einladung an alle imperialistischen Projekte, die Nachbarländer zu überfallen. Wenn die NATO hingegen hochmoderne Waffen liefert, um den militärischen Kollaps der Ukraine zu verhindern, hält das einen Abnutzungskrieg in Gang. An dessen Ende sind mindestens Hunderttausende, im schlimmsten Fall sehr viele Mil- lionen Menschen ermordet.
Deshalb besteht die erste Aufgabe darin, sich zu vergegenwärtigen, wem unsere Empathie gelten muss. Nicht National- staaten, sondern denjenigen, die unter dem russischen Überfall leiden. Das ist die Bevölkerung in zerschossenen ukrainischen Ortschaften. Das sind geflohene Kinder und zwangsrekrutierte Soldaten auf beiden Seiten der Frontlinie.
Daher gilt es, Geflüchtete aufzunehmen, Lebensmittel und Medikamente zu schicken, Deserteure zu verstecken, Oppositionelle in Russland und der Ukraine nach ihrer Meinung zu befragen und zu unterstützen (siehe auch den Artikel zur Ukraine-Solidarität auf Seite 7). Und nicht zuletzt ist es höchste Zeit, der Kriegstreiberei eine Strategie der sozialen Verteidigung entgegenzustellen. Nur diejenigen, die sich dafür einsetzen, können den Waffenlieferungen der NATO glaubwürdig widersprechen.
„Zeitenwende“ zum Militarismus
Rüstungskonzerne gelten seit kurzem als ganz normale Wirtschaftsunternehmen. NATO-Strukturen, die in den letzten 70 Jahren noch für die Unterstützung von Diktaturen in aller Welt im eigenen ökonomischen Interesse aktiviert wurden, werden jetzt zur „Friedensmacht“ erhöht. Auf diese Weise werden die reaktionärsten, aggressivsten und kriegerischsten Strömungen der bürgerlich-kapitalistischen Gesell- schaft gestärkt. In Anbetracht dessen ist ein Nein zu Aufrüstung und militaristischer Mobilmachung unabdingbar.
Die Osterweiterung der NATO ist ein nicht unwesentlicher Aspekt, der den Krieg des Putin-Regimes in der Ukraine gegenüber der russischen Bevölkerung rechtfertigen soll. Aber Putin & Co. geht es nicht in erster Linie um die NATO, sondern da- rum, sich durch den Krieg jenes geopolitische Gewicht zu verschaffen, das sie wirtschaftlich nicht mehr besitzen. So soll ver- hindert werden, dass sich ein bürgerlich-parlamentarisches System etabliert, das auch in Russland als Alternative zur „lupen- reinen Demokratie“ Putins betrachtet werden könnte.
Wahr ist aber auch, dass die Verteidigung der Ukraine ein anderer Krieg überlagert. Der „Westen“ finanziert einen anhaltenden Stellvertreterkrieg, in dem sich Russland verbrauchen und als Verbündeter Chinas massiv geschwächt werden soll. Ein Krieg im Pazifik ist für die US-Führung eine reale Option. Anders ausgedrückt: Die Ukrainer verteidigen ihr Leben, die imperialistischen Staatenlenker verfolgen ihre eigenen geostrategischen Projekte.
Zwei Optionen
Entweder der Ukraine-Krieg eskaliert oder er wird durch Verhandlungen eingefroren. Dass die Interessen Russlands mit dem Völkerrecht unvereinbar sind, und es dementsprechend wenig Grundlage für Verhandlungen gibt, ist ein berechtigter Einwand. Nur stimmt das für fast alle bewaffneten Konflikte. Das Einfrieren von Kriegen sorgt immerhin dafür, das Sterben zu begrenzen und eine Eskalation zu verhindern. Auch in Vietnam wurde mit dem Aggressor verhandelt, um ihn am Ende durch den Widerstand der Bevölkerung politisch zu besiegen.
Es darf nicht zugelassen werden, dass die politische Rechte sich in der Öffentlichkeit als der eigentliche Kriegsgegner inszenieren kann. Es gilt, deren Demagogie und Menschenfeindlichkeit zu entlarven und zu bekämpfen.
Wenn es nicht gelingt, diesen Krieg zu stoppen, wächst die Gefahr eines Dritten Weltkriegs. Aufgabe der Linken ist zuallererst die praktische Solidarität mit den durch den Krieg direkt betroffenen Menschen. Aber es ist auch ihre Aufgabe, gegen die erneute ideologische, wirtschaftliche und militärische Kriegstreiberei der Herrschenden hierzulande Widerstand zu leisten. Und nicht zuletzt gilt es, eine internationale Antikriegsbewegung aufzubauen.