100 Jahre Ernest Mandel
R. G.
Ernest Mandel war Marxist, revolutionärer Sozialist und einer der bedeutendsten Analytiker und Kritiker des Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er wurde am 5. April 1923 geboren und starb am 20. Juli 1995. Anlässlich seines hundertsten Geburtstages erinnerte die ISO Rhein-Neckar an ihn im Rahmen ihres April-Infoabends.
In seinem Einleitungsreferat gelang es unserem Referenten eindrucksvoll, das politische Leben und Wirken Ernest Mandels nachzuzeichnen.
Ein politisches Leben
Ernest Mandel kam schon während seiner Kindheit in einer deutschen, jüdisch-stämmigen Familie mit sozialistischen Ideen in Berührung. Mit 17 Jahren organisierte er sich politisch und kämpfte seitdem sein gesamtes Leben gegen jegliche Form von Ausbeutung und Unterdrückung.
Mandel war im Widerstand gegen den faschistischen Terror aktiv, wurde von den Nazis als „Politischer“ inhaftiert und konnte nur mit Glück und Überzeugungskraft seiner Ermordung entgehen. Unermüdlich kämpfte er gegen die stalinistischen Diktaturen, organisierte Solidarität mit den antikolonialen Befreiungs- bewegungen und unterstützte in den imperialistischen Ländern Gewerkschaften und antikapitalistische Bewegungen.
Mit seiner unversöhnlichen Haltung gegen Kapitalismus und Stalinismus zog er die politische Feindschaft der Regierenden dieser Systeme auf sich. Auch nach der Niederlage des Faschismus 1945 blieb er nicht von Verfolgung und Repression verschont. Er erhielt Berufs- und Einreiseverbote; nicht nur im „unfreien“ Osten, sondern auch im „freien“ Westen, nicht zuletzt in Deutschland.
Theoretiker, Lehrer, Organisator
Neben seiner politischen und organisatorischen Arbeit war Mandel auch theoretisch ungemein schöpferisch. Er schrieb zahllose Artikel in unterschiedlichen Sprachen für die Presse der IV. Internationale, aber auch für bürgerliche oder gewerkschaftliche Zeitungen.
In seinen Büchern setzte er sich mit aktuellen und historischen Fragen auseinander. In seinem Buch Der Spätkapitalismus analysierte er die Entwicklung des Kapitalismus nach dem II. Weltkrieg. In seinem Buch Macht und Geld behandelte er unter anderem die Frage der Bürokratie und die notwendigen politischen Antworten auf dieses Phänomen.
In zahllosen Schulungen und Vorträgen begeisterte er zehntausende Menschen für die Idee einer sozialistischen Demokratie jenseits von stalinistischer Diktatur und kapitalistischer Ausbeutung. Dabei betonte er immer wieder die Notwendigkeit der Selbstorganisation und der Eigenaktivität der „Massen“.
Weltweite Solidarität war für ihn kein Sonntagsthema, sondern wesentlicher Teil seiner politischen Tagespraxis. Nicht zuletzt war er über viele Jahrzehnte ein führendes Mitglied der IV. Internationale, für deren Aufbau und Entwicklung er sich unermüdlich in vielen Ländern einsetzte.
Diskussion mit persönlichen Erinnerungen
Die anschließende Diskussion wurde geprägt von persönlichen Erinnerungen der Teilnehmenden an Ernest Mandel. Nicht zuletzt ging es dabei um seinen unerschütterlichen Optimismus, den er sich trotz persönlicher Erfahrungen mit Faschismus, Stalinismus und der Integration der Arbeiterorganisationen in den Kapitalismus bewahrt habe. Mandel sei zutiefst davon überzeugt gewesen, dass die arbeitende Klasse den Kapitalismus überwinden und eine menschliche, solidarische Gesellschaft aufbauen könne.
Sein Optimismus habe zwar auch zu tagespolitischen Fehleinschätzungen geführt, ihn aber nicht politisch blind werden lassen. Er hätte sehr wohl die Gefahren der Integrationskräfte des Kapitalismus, eines neuen Faschismus, eines Atomkriegs und schon 1972 auch der Umweltzerstörung gesehen.
Nicht zuletzt sei er sich völlig über die lähmende und verräterische Rolle der Bürokratie in der organisierten Arbeiterbewegung im Klaren gewesen. Seine Antwort darauf hätte gelautet, die Selbstorganisation und Eigenaktivität der Arbeitenden zu fördern. Dies sei für ihn der einzige und realistische Ausweg aus der politischen Erstarrung der Arbeiterbewegung gewesen.
Die Diskutierenden waren sich einig, dass es wichtige Gründe gibt, sich wieder mit dem politischen und theoretischen Erbe Ernest Mandels auseinanderzusetzen.