Hans-Jür­gen Schulz (1933-1998)*

 

Hein­rich Neuhaus


Redak­tio­nel­le Vorbemerkung
Vor 25 Jah­ren ist unser Genos­se Hans-Jür­gen Schulz viel zu früh - im Alter von nur 65 Jah­ren - an einer schwe­ren Krebs­er­kran­kung gestor­ben. Für uns ist das Anlass, an ihn zu erinnern. 
Der fol­gen­de Nach­ruf beruht auf der Rede, die Hein­rich Neu­haus im Namen des Poli­ti­schen Sekre­ta­ri­ats des RSB (Revo­lu­tio­när Sozia­lis­ti­scher Bund / IV. Inter­na­tio­na­le) bei der Abschieds­fei­er für Hans-Jür­gen Schulz am 25. Juli 1998 in Ham­burg gehal­ten hat­te. Er wur­de erst­mals in Inpre­korr Nr. 323 von Sep­tem­ber 1998 ver­öf­fent­licht. Wir geben den Text in der dama­li­gen Schreib­wei­se wie­der. Ledig­lich offen­sicht­li­che Feh­ler haben wir korrigiert. 
W. A., 15. Juli 2023.


Hans-Jür­gens Tod am 15. Juli 1998 ist ein schmerz­haf­ter Ver­lust für uns und unse­re Orga­ni­sa­ti­on, den RSB, die IV. Inter­na­tio­na­le und für die gesam­te revo­lu­tio­nä­re Linke.

Hans-Jürgen Schulz. (Foto: Privat.)

Hans-Jür­gen Schulz. (Foto: Privat.)

Hans-Jür­gen hat den poli­tisch bewuß­ten Teil sei­nes Lebens uner­müd­lich und unbe­irrt dem Ein­satz für eine huma­ne, das heißt sozia­lis­ti­sche Gesell­schaft gewid­met: Als Basis­ak­ti­vist und als Lei­tungs­mit­glied der IV. Inter­na­tio­na­le und ihrer deut­schen Sek­ti­on, als Redak­teur und als Autor, als Red­ner und als Zuhö­rer, als revo­lu­tio­nä­rer Orga­ni­sa­tor und als Mensch.

Vie­les von dem, was Hans-Jür­gens Per­sön­lich­keit kenn­zeich­net, ist in sei­ner Kind­heit und Jugend ange­legt. Am 7. Juni 1933 wird er in Pom­mern als ers­tes von vier Kin­dern des Ehe­paars Schulz gebo­ren. Sei­ne Eltern leben in dem klei­nen Dorf Schla­we. Sein Vater Johan­nes ist dort als Guts­ver­wal­ter tätig. Sei­ne Mut­ter Mar­ga­re­te ist die domi­nie­ren­de Per­son der Fami­lie. Sie sorgt vor dem Hin­ter­grund eher kar­ger Lebens­ver­hält­nis­se für eine stren­ge Erzie­hung der Kin­der und legt gro­ßen Wert auf deren Schulbildung.

Flucht
Nach dem Besuch der Dorf­schu­le muß Hans-Jür­gen die soge­nann­te Napo­la, die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche poli­ti­sche Lehr­an­stalt, besu­chen. Der Ver­lauf des Zwei­ten Welt­kriegs been- det sei­ne trau­ma­ti­schen Erfah­run­gen mit den Erzie­hungs­me­tho­den der Nazis vor­zei­tig. Das Vor­rü­cken der sowje­ti­schen Armee auf Hit­ler­deutsch­land läßt auch Hans-Jür­gen zum Flücht­ling wer­den. Er lernt kon­kret ver­ste­hen, was Krieg ist. Er sieht das bren­nen­de Wis­mar. Er sieht die schreck­li­chen Fol­gen des von den Nazis ent­fach­ten Gemet­zels ins­be­son­de­re für die Zivil­be­völ­ke­rung mit eige­nen Augen. Hier lie­gen die Wur­zeln von Hans-Jür­gens spä­te­rer anti­mi­li­ta­ris­ti­scher und anti­fa­schis­ti­scher Überzeugung.

Nach der mili­tä­ri­schen Nie­der­la­ge der NS-Dik­ta­tur lebt die Fami­lie Schulz zunächst in der Nähe von Kiel, dann zieht sie nach Alten­au in den Harz. Hans-Jür­gen hilft, den Lebens­un­ter­halt sei­ner Eltern und sei­ner Geschwis­ter als Zei­tungs­aus­trä­ger zu sichern. Der frü­he Zugang zu Pres­se­er­zeug­nis­sen regt ihn an, sich mit dem poli­ti­schen Zeit­ge­sche­hen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Der Besuch des Gym­na­si­ums in Claus­thal-Zel­ler­feld wird mehr­fach von einer schwe­ren Tuber­ku­lo­se-Erkran­kung unter­bro­chen. Im Sana­to­ri­um liest er viel, vor allem his­to­ri­sche Romane.

Ein Schlüs­sel­er­leb­nis ist für ihn die Lek­tü­re des „Kom­mu­nis­ti­schen Mani­fests“ etwa ein Jahr vor dem Abitur. Die Glie­de­rung des Mani­fests ist ein­fach und sug­ges­tiv. Die Spra­che beein­dru­ckend: „Die Geschich­te aller bis­he­ri­gen Gesell­schaft ist die Geschich­te von Klas­sen­kämp­fen.“ Und: „Die Pro­le­ta­ri­er haben nichts zu ver­lie­ren als ihre Ket­ten. Sie haben eine Welt zu gewin­nen. Pro­le­ta­ri­er aller Län­der ver­ei­nigt Euch!“

Kapi­ta­lis­mus
Die Ana­ly­se des Kapi­ta­lis­mus durch Karl Marx und Fried­rich Engels, ist der­art visio­när, daß sie erst 150 Jah­re nach ihrer Nie­der­schrift voll­stän­dig bestä­tigt wird: „Die Bour­geoi­sie,“ heißt es im Mani­fest, „wo sie zur Herr­schaft gekom­men, hat alle … idyl­li­schen Ver­hält­nis­se zer­stört. Sie hat … kein ande­res Band zwi­schen Mensch und Mensch übrig­ge­las­sen als das nack­te Inter­es­se, als die gefüh­lo­se ‚bare‘ Zah­lung … Sie hat die per­sön­li­che Wür­de in den Tausch­wert auf­ge­löst und an die Stel­le der zahl­lo­sen ver­brief­ten und wohl­erwor­be­nen Frei­hei­ten die eine gewis­sen­lo­se Han­dels­frei­heit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stel­le der mit reli­giö­sen und poli­ti­schen Illu­sio­nen ver­hüll­ten Aus­beu­tung die offe­ne, unver­schäm­te, direk­te, dür­re Aus­beu­tung gesetzt … Das Bedürf­nis nach einem stets aus­ge­dehn­te­ren Absatz für ihre Pro­duk­te jagt die Bour­geoi­sie über die gan­ze Erd­ku­gel. Über­all muß sie sich ein­nis­ten, über­all anbau­en, über­all Ver­bin­dun­gen herstellen.“

Wie soll­ten der­ar­ti­ge Pas­sa­gen nicht einen Acht­zehn­jäh­ri­gen beein­dru­cken, der nach Erklä­run­gen der gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit sucht, der nach Ant­wor­ten auf die vie­len Fra­gen sucht, die sich ihm stellen?

Nach dem Abitur 1952 zieht es Hans-Jür­gen aus der Enge des Eltern­hau­ses und der nie­der­säch­si­schen Pro­vinz weg in die nord­deut­sche Metro­po­le Ham­burg. Er ent­schließt sich, Volks­wirt­schaft zu stu­die­ren. Sei­ne Berüh­rung mit dem Mar­xis­mus hat ihm zu der Über­zeu­gung ver­hol­fen, daß er damit die Welt bes­ser ver­ste­hen kann.

Sozia­list
1954, als der poli­ti­sche Nie­der­gang der west­deut­schen Lin­ken bereits unbe­streit­bar ist, tritt er der dama­li­gen Hoch­schul­or­ga­ni­sa­ti­on der SPD bei – dem Sozia­lis­ti­schen Deut­schen Stu­den­ten­bund (SDS) – und wenig spä­ter den Jung­so­zia­lis­ten, der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on. Auf­grund sei­ner Fähig­kei­ten und sei­nes Enga­ge­ments wird Hans-Jür­gen sehr schnell die Funk­ti­on des zwei­ten und dann des ers­ten Vor­sit­zen­den des Ham­bur­ger SDS ange­tra­gen. Die XI. Bun­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz des SDS Ende Okto­ber 1956 wählt Hans-Jür­gen für 12 Mona­te in den Bei­rat, die bun­des­wei­te Lei­tung des SDS.

Er beginnt sich auf dem lin­ken Flü­gel der Par­tei und des SDS ein­zu­mi­schen: in den zen­tra­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen der 50er Jah­re um die Remi­li­ta­ri­sie­rung der Bun­des­re­pu­blik, in den Debat­ten um eine Atom­be­waff­nung der neu­ge­grün­de­ten Bun­des­wehr und im Streit um die poli­ti­sche und pro­gram­ma­ti­sche Anpas­sung der SPD an den restau­rier­ten Kapi­ta­lis­mus der Ade­nau­er-Ära, die im Godes­ber­ger Pro­gramm von 1959 gipfelt.

Hans-Jür­gen lernt, was es heißt, poli­tisch gegen den Strom zu schwim­men – nicht nur im anti­kom­mu­nis­ti­schen Treib­haus­kli­ma der dama­li­gen Bun­des­re­pu­blik, son­dern auch in der eige­nen Par­tei. Eine Epi­so­de mag das bele­gen. Hans-Jür­gen betei­ligt sich mit dem spä­te­ren Vor­sit­zen­den der Gewerk­schaft Erzie­hung und Wis­sen­schaft, Die­ter Wun­der, und eini­gen weni­gen ande­ren Par­tei­lin­ken an dem Ver­such, in Ham­burg eine Unab­hän­gi­ge Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei (USP) zu grün­den. In einer Nacht- und Nebel-Akti­on ver­schaf­fen sie sich Zugang zur Mit­glie­der­kar­tei, sor­tie­ren die Anschrif­ten von etwa 700 als links ein­ge­stuf­ten Par­tei-Genos­sin­nen und -Genos­sen aus und rufen die­se per Brief auf, ihr USP-Pro­jekt zu unter­stüt­zen. Die Reso­nanz ist mehr als ernüch­ternd. Ledig­lich sie­ben Sozi­al­de­mo­kra­ten reagie­ren posi­tiv. Doch damit nicht genug. Bevor die Post die Brie­fe an die Emp­fän­ger aus­ge­lie­fert hat, weiß der Ham­bur­ger SPD-Vor­stand schon von die­ser kon­spi­ra­tiv orga­ni­sier­ten Rebel­li­on und lädt das Häuf­lein der Initia­to­ren zu einer hoch­not­pein­li­chen Befra­gung ein.

Im Novem­ber 1961 faßt der Par­tei­vor­stand der SPD sei­nen berühmt-berüch­tig­ten Unver­ein­bar­keits­be­schluß: SPD-Mit­glie­der dür­fen nicht mehr gleich­zei­tig im SDS orga­ni­siert sein. Für die sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Füh­rung ist der Stu­den­ten­bund wegen sei­ner lin­ken Posi­tio­nen nicht mehr trag­bar. Es kommt, wie es kom­men muß. Hans-Jür­gen, der inzwi­schen Mit­glied eines Ham­bur­ger SPD-Krei­vor­stan­des ist, läßt sich lie­ber aus der Par­tei aus­schlie­ßen, als aus dem SDS aus­zu­tre­ten. Als Mit­glied der „Sozia­lis­ti­schen För­de­rer-Gesell­schaft“, des spä­te­ren „Sozia­lis­ti­schen Bun­des“ um Wolf­gang Abend­roth, Fritz Lamm und ande­ren Anhän­gern einer „Neu­en Lin­ken“, hält er in der Fol­ge­zeit Kon­takt zu links­so­zia­lis­ti­schen Kreisen.

Der Mensch lebt nicht von der Poli­tik allein. Auch Hans-Jür­gen nicht. Und des­halb sei an die­ser Stel­le eine kur­ze Rück­blen­de gestat­tet. 1956 zieht es eine jun­ge Göt­tin­ger Stu­den­tin der Ger­ma­nis­tik und der Geschich­te für ein Semes­ter an die Uni­ver­si­tät Ham­burg. Sie heißt Bar­ba­ra Meu­sel, sym­pa­thi­siert mit dem SDS und enga­giert sich für des­sen Zie­le. Auf einer poli­ti­schen Ver­an­stal­tung trifft sie zufäl­lig Hans-Jür­gen. Aber dies bleibt kei­ne Zufalls­be­kannt­schaft. Gemein­sam betei­li­gen sie sich an einem Aus­tausch von Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten der Uni­ver­si­tä­ten Ham­burg und Leip­zig. Nach­dem Hans-Jür­gen sein Stu­di­um mit dem Diplom abge­schlos­sen hat, hei­ra­ten sie am 21. Dezem­ber 1959. Die Part­ner­schaft mit Bar­ba­ra ist für Hans-Jür­gen Zeit sei­nes Lebens eine Quel­le der Kraft, der kri­ti­schen Ermu­ti­gung und der Soli­da­ri­tät. Sohn Jörn, dem er alle Frei­hei­ten für eine eigen­stän­di­ge Ent­wick­lung läßt, ist ihm ins­be­son­de­re in den letz­ten Jah­ren eine unver­zicht­ba­re Stütze.

Revo­lu­tio­när
1961 ist nicht nur wegen des Aus­schlus­ses aus der SPD für Hans-Jür­gens wei­te­re poli­ti­sche Ent­wick­lung ein Wen­de­punkt. Ihm fällt eine Schrift aus dem Jahr 1936 in die Hän­de, deren theo­re­ti­sche Bedeu­tung auch heu­te noch weit­ge­hend igno­riert wird – Leo Trotz­kis Ana­ly­se der sta­li­nis­ti­schen Kon­ter­re­vo­lu­ti­on in der UdSSR. In der „Ver­ra­te­nen Revo­lu­ti­on“ zieht Trotz­ki aus sei­ner Unter­su­chung der büro­kra­ti­schen Dik­ta­tur den Schluß, daß eine neue, eine poli­ti­sche Revo­lu­ti­on der sozia­lis­ti­schen Demo­kra­tie in der Sowjet­uni­on zum Durch­bruch ver­hel­fen muß – oder, daß die sowje­ti­sche Über­gangs­ge­sell­schaft in den Kapi­ta­lis­mus zurück­fällt und damit einen gewal­ti­gen geschicht­li­chen Rück­schritt einleitet.

Hans-Jür­gen ist von Trotz­kis Argu­men­ta­ti­on beein­druckt. Er beginnt, sich am revo­lu­tio­nä­ren Mar­xis­mus zu ori­en­tie­ren. Wenig zu beein­dru­cken ver­mag ihn aller­dings die seit Anfang der 50er Jah­re betrie­be­ne Frak­ti­ons­ar­beit der IV. Inter­na­tio­na­le, die soge­nann­te Ent­ris­mus-Poli­tik, in den sta­li­nis­ti­schen und sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Mas­sen­par­tei­en. Auf­grund sei­ner nega­ti­ven Erfah­run­gen mit der SPD will er sich nicht der deut­schen Sek­ti­on der IV. Inter­na­tio­na­le anschlie­ßen, die noch bis Ende der 60er Jah­re inner­halb des orga­ni­sa­to­ri­schen Rah­mens der Sozi­al­de­mo­kra­tie in revo­lu­tio­nä­rem Sin­ne aktiv ist.

Sei­ne beruf­li­che Tätig­keit als Ange­stell­ter führt Hans-Jür­gen 1965 in das gewerk­schafts­ei­ge­ne Unter­neh­men „Neue Hei­mat“. Ein wei­te­rer kenn­zeich­nen­der Strang in Hans-Jür­gens Leben wird sicht­bar. Fünf­zehn Jah­re lang setzt er sich als Betriebs­rat und akti­ves Mit­glied der Gewerk­schaft Han­del, Ban­ken und Ver­si­che­run­gen für die Inter­es­sen sei­ner Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen ein – sehr zum Miß­fal­len der Gewerk­schafts­ma­na­ger, denen es trotz der Zuar­beit des soge­nann­ten Ver­fas­sungs­schut­zes nicht gelingt, ihn aus dem Unter­neh­men zu drän­gen. Fünf Jah­re ver­sucht Hans-Jür­gen zudem als Beleg­schafts­ver­tre­ter im Kon­zern­auf­sichts­rat, dem Vor­stand der „Neu­en Hei­mat“ auf die Fin­ger zu schau­en. Dabei lernt er das Geba­ren von Spit­zen­funk­tio­nä­ren des Gewerk­schafts­ap­pa­rats aus eige­ner Anschau­ung kennen.

Der „kal­te Krieg“ beför­dert seit den frü­hen 50er Jah­ren welt­weit das ato­ma­re Wett­rüs­ten. In der Bun­des­re­pu­blik fin­det 1960 das Vor­bild der bri­ti­schen Kam­pa­gne für ato­ma­re Abrüs­tung Nach­ah­mung. Die Oster­marsch­be­we­gung ent­steht. Neben der ver­bo­te­nen KPD wird sie von Pazi­fis­ten, lin­ken Sozi­al­de­mo­kra­ten, Gewerk­schaf­tern und unab­hän­gi­gen Sozia­lis­ten getra­gen. Einer von ihnen ist Hans-Jür­gen. In der Oster­marsch­be­we­gung Ham­burgs und Schles­wig-Hol­steins spielt er mit sei­nen Genos­sin­nen und Genos­sen aus dem „Sozia­lis­ti­schen Bund“ eine füh­ren­de Rol­le. Trotz mas­si­ver poli­zei­li­cher Schi­ka­nen und der Anfein­dun­gen durch die bür­ger­li­che Poli­tik wer­den die Oster­mär­sche zum Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt der außer­par­la­men­ta­ri­schen Bewegung.

Ab Mit­te der 60er Jah­re ver­tie­fen sich die Ris­se in der Fas­sa­de des poli­tisch befrie­de­ten Wirt­schafts­wun­der­lan­des. Die Pro­tes­te gegen den US-Krieg in Viet­nam, gegen die Not­stands­ge­set­ze und die Medi­en­het­ze des Sprin­ger­kon­zerns errei­chen nach der Ermor­dung des Stu­den­ten Ben­no Ohnes­org am 2. Juni 1967 durch einen Ber­li­ner Poli­zis­ten eine neue Qua­li­tät. Der Fun­ke der Rebel­li­on springt nach West­deutsch­land über. Unter Mit­wir­kung Hans-Jür­gens gelingt es, trotz Ver­bots auch in Ham­burg eine Pro­test­de­mons­tra­ti­on zu organisieren.

Der 2. Juni ebnet den Weg zur 68er Jugend­re­vol­te. Nach dem Mord­an­schlag auf Rudi Dutsch­ke erlebt die Repu­blik an Ostern 1968 das bis­her mas­sivs­te Auf­be­geh­ren gegen das „Estab­lish­ment“. Hans-Jür­gen ist vier Tage fast ohne Pau­se unter- wegs, um den Wider­stand in Ham­burg und Umge­bung zu koor­di­nie­ren. Die APO erreicht ihren Höhe­punkt mit den Anti-Sprin­ger-Blo­cka­den und dem Stern­marsch gegen die Not­stands­ge­set­ze. Beflü­gelt vom revo­lu­tio­nä­ren Auf­ruhr des fran­zö­si- schen Mai 68 und dem erfolg­rei­chen Wider­stand gegen den US-Impe­ria­lis­mus in Viet­nam radi­ka­li­sie­ren sich welt­weit Mil­lio­nen meist jun­ger Men­schen. Che Gue­va­ras Wor­te „Sei­en wir rea­lis­tisch, ver­su­chen wir das Unmög­li­che!“ wer­den zum Mot­to einer gan­zen Gene­ra­ti­on auf allen fünf Kontinenten.

Für den zu die­ser Zeit fast 35-jäh­ri­gen Hans-Jür­gen ist die „68er Bewe­gung“ die ent­schei­den­de und prä­gen­de poli­ti­sche Erfah­rung sei­nes Lebens. Nie zuvor und nie danach ver­knüp­fen sich für ihn radi­ka­le Theo­rie und Pra­xis der­art inten­siv. Er ver­steht sich seit­dem bewußt als Revo­lu­tio­när. Er weiß nun auf­grund des eige­nen Erle­bens, was es heißt, per­sön­li­che Risi­ken im Kampf gegen die herr­schen­de Ord­nung einzugehen.

IV. Inter­na­tio­na­le
Hans-Jür­gen zieht sei­ne Schluß­fol­ge­run­gen. Er will sich in Zukunft in den Rei­hen der IV. Inter­na­tio­na­le, die mitt­ler­wei­le den Ent­ris­mus auf­ge­ge­ben hat, für eine sozia­lis­ti­sche Gesell­schaft ein­set­zen. Es ist eine klei­ne Iro­nie unse­rer Geschich­te, daß ihn 1969 die Mehr­heit der Ham­bur­ger Grup­pe zunächst nicht auf­neh­men will. Erst auf Beschluß der Lei­tung der deut­schen Sek­ti­on wird er zugelassen.

Auf­grund sei­ner poli­ti­schen Erfah­run­gen und sei­ner per­sön­li­chen Qua­li­fi­ka­tio­nen spielt Hans-Jür­gen bald eine füh­ren­de Rol­le in der GIM – der Grup­pe Inter­na­tio­na­le Mar­xis­ten, wie die Sek­ti­on damals heißt. Er trägt von Ham­burg aus maß­geb­lich zur Ent­wick­lung der prak­ti­schen Poli­tik des revo­lu­tio­nä­ren Sozia­lis­mus und ihrer ana­ly­ti­schen und theo­re­ti­schen Begrün­dung bei. Ob in den 70er Jah­ren in der anti­mi­li­ta­ris­ti­schen Arbeit oder im „Akti­ons­kreis Leben – Gewerk­schaf­ter gegen Atom“, ob in der Anti­kriegs­be­we­gung der 80er oder in der Anti­ras­sis­mus- und Anti­fa­schis­mus­be­we­gung der 90er Jahre.

Hans-Jür­gen unter­stützt die Ver­ei­ni­gung von GIM und KPD 1986 zur VSP, der Ver­ei­nig­ten Sozia­lis­ti­schen Par­tei. Aber als er sieht, daß die­ses Expe­ri­ment kei­nen Bei­trag zur Stär­kung einer revo­lu­tio­nä­ren sozia­lis­ti­schen Lin­ken leis­ten kann, wen­det er sich Ende der 80er/Anfang der 90er Jah­re mit eini­gen Genos­sin­nen und Genos­sen von der VSP ab. Aus die­ser Zeit des erneu­ten Nie­der­gangs der west­deut­schen Lin­ken und der schar­fen inner­or­ga­ni­sa­to­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen rüh­ren sicher­lich die schmerz­haf­tes­ten poli­ti­schen und per­sön­li­chen Ver­let­zun­gen her. Hans-Jür­gen gibt nicht auf, obwohl er seit Herbst 1988 gegen eine schwe­re Krebs­er­kran­kung ankämp­fen muß.

Trotz aller Wider­stän­de läßt sich Hans-Jür­gen nicht abhal­ten, auch in der DDR den Auf­bau eines revo­lu­tio­när-sozia­lis­ti­schen Kerns zu orga­ni­sie­ren. Über die Grup­pe Avan­ti leis­tet er einen maß­geb­li­chen Bei­trag zur Neu­for­mie­rung der deut­schen Sek­ti­on, die schließ­lich im Okto­ber 1994 zur Grün­dung des RSB führt und damit die Kon­ti­nui­tät der IV. Inter­na­tio­na­le in der BRD sichert.

Inter­na­tio­na­le Solidarität
Die Grün­de für Hans-Jür­gens geleb­ten Inter­na­tio­na­lis­mus lie­gen weit zurück. In den 50er Jah­ren lernt er meh­re­re Mona­te lang als Werks­stu­dent das neue Jugo­sla­wi­en ken­nen. Hans-Jür­gen arbei­tet in der Bus- und Last­wa­gen-Fabrik von Mari­bor. Die Arbei­ter las­sen den Deut­schen kei­nen Haß, son­dern Herz­lich­keit und Offen­heit spü­ren. Sie ver­su­chen ihm, ihr Land nahe­zu­brin­gen, obwohl die Ver­bre­chen der Nazis nicht ver­ges­sen sind. Das beein­druckt ihn tief.

Hans-Jür­gen enga­giert sich in der Viet­nam­so­li­da­ri­tät, er unter­stützt die anti­sta­li­nis­ti­sche Oppo­si­ti­on in der CSSR um Petr Uhl, er orga­ni­siert mate­ri­el­le und poli­ti­sche Hil­fe für den Ver­such, in Polen eine vom Staat unab­hän­gi­ge Arbei­ter­be­we­gung auf­zu­bau­en, er setzt sich ein für die Befrei­ung Kur­di­stans und ins­be­son­de­re für den Kampf unse­rer Genos­sin­nen und Genos­sen der NSSP Sri Lan­kas, er betei­ligt sich aktiv am Auf­bau der „Euro­päi­schen Mär­sche gegen Erwerbs­lo­sig­keit, unge­schütz­te Beschäf­ti­gung und Aus­gren­zung“ – es wären noch mehr Bei­spie­le für Hans-Jür­gens selbst­lo­sen inter­na­tio­na­lis­ti­schen Ein­satz zu nennen.

Hans-Jür­gen (und natür­lich Bar­ba­ra) brin­gen für eine Soli­da­ri­tät ohne Gren­zen nicht nur mate­ri­el­le Opfer – im Novem­ber 1982 wer­den sie in der DDR wegen der Mit­nah­me von Un- ter­grund­ma­te­ria­li­en der IV. Inter­na­tio­na­le nach Polen ver­haf- tet und für 18 Tage gefan­gen gehal­ten. Sta­si-Chef Miel­ke läßt sich per­sön­lich über den aktu­el­len Stand der Ver­hö­re infor­mie­ren. Erst eine inter­na­tio­na­le Kam­pa­gne führt zur Frei­las­sung von Bar­ba­ra und Hans-Jürgen.

Karl Karew, Fred Som­mer oder kurz HJS hin­ter­läßt uns zahl­lo­se Arti­kel und Auf­sät­ze in unse­rer deut­schen und inter­na­tio­na­len Pres­se. Die Span­ne der The­men reicht von der kri­ti- schen Aus­ein­an­der­set­zung mit dem his­to­ri­schen Anar­chis­mus bis hin zur Bewer­tung der aktu­el­len bür­ger­li­chen Poli­tik. In meh­re­ren Büchern und Bro­schü­ren ana­ly­siert er den Mili­ta­ris­mus in Deutsch­land, der UdSSR und den USA, er unter­sucht das Wir­ken von Geheim­diens­ten und faschis­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen, er seziert den Unter­gang des Sta­li­nis­mus in der DDR eben­so wie die Ent­wick­lung des neo­li­be­ra­len Kapi­ta­lis­mus in der BRD und auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne. Mar­ken­zei­chen all sei­ner fun­dier­ten und akri­bisch recher­chier­ten Ver­öf­fent­li­chun­gen ist eine knap­pe, schnör­kel­lo­se Spra­che. Es ist eine unse­re Ver­pflich­tun­gen gegen­über Hans-Jür­gen, die­sen Nach­laß eines revo­lu­tio­nä­ren Intel­lek­tu­el­len zu sich­ten und ins­be­son­de­re der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on zugäng­lich zu machen.

Es ist unse­re Auf­ga­be, Hans-Jür­gens uner­müd­li­ches Enga­ge­ment für eine Welt ohne Hun­ger, ohne Krieg und Umwelt­zer­stö­rung als Ansporn für uns selbst zu ver­ste­hen. Es liegt an uns, den orga­ni­sier­ten Kampf gegen die kapi­ta­lis­ti­sche Bar­ba­rei und für den revo­lu­tio­nä­ren Sozia­lis­mus, für eine welt­wei­te Gesell­schaft ohne Aus­beu­tung, Unter­drü­ckung und Aus­gren­zung fort­zu­füh­ren. Mit all dem, was Hans-Jür­gen uns ver­mit­telt: Radi­ka­li­tät, Beharr­lich­keit, Auf­rich­tig­keit, Beschei­den- heit, Ernst­haf­tig­keit und Mensch­lich­keit – trotz alledem!


Lite­ra­tur­hin­wei­se
Hans-Jür­gen Schulz, Eigen­tum ver­pflich­tet – zu nichts, Stutt­gart (Schmet­ter­ling Ver­lag) 1997.
Ders., Die UdSSR unter Gor­bat­schow, Auf dem Weg zum Kom­mu­nis­mus?, Frankfurt/M. (ISP-Ver­lag) 1988.
Ders., Die Aus­plün­de­rung der Neu­en Hei­mat, Frankfurt/M. (ISP-Ver­lag) 1987.
Ders., Auf dem Weg zum Atom­krieg, US-ame­ri­ka­ni­sche Mili­tär­stra­te­gie, Frankfurt/M. (ISP-Ver­lag) 1987.
Ders., Die sowje­ti­sche Mili­tär­macht, Frankfurt/M. (ISP-Ver­lag) 1985.
Ders., Frie­den schaf­fen – aber wie?, Leh­ren aus der Geschich­te der Frie­dens­be­we­gun­gen, Frankfurt/M. (ISP-Ver­lag) 1983.
Ders., Die gehei­me Inter­na­tio­na­le, Spit­zel, Ter­ror und Com­pu­ter, Zur Geschich­te und Funk­ti­on der Geheim­diens­te in der bür­ger­li­chen Gesell­schaft, Frankfurt/M. (ISP-Ver­lag) 1982.
Ders. (mit Jakob Mone­ta), Wer den Frie­den bedroht, Frankfurt/M. (ISP-Ver­lag) 1981.
Ders., Mili­ta­ris­mus und Kapi­ta­lis­mus in der Bun­des­re­pu­blik, Frankfurt/M. (ISP-Ver­lag) 1977.

Zahl­rei­che in Inpre­korr ver­öf­fent­lich­te Arti­kel von Hans-Jür­gen Schulz sind hier zu fin­den.


Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Sep­tem­ber 2023
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