„Solang die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht.“
(Horkheimer, 1940/42.)*
Helmut Dahmer
Vor fünfzig Jahren, am 7. Juli 1973, starb Max Horkheimer. 1931 bis 1957 hatte er das – 1924 von seinem Freund, Felix Weil, ins Leben gerufene und langfristig finanzierte – Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ geleitet.
1933 aus Deutschland vertrieben, begründete er vier Jahre später (gemeinsam mit Herbert Marcuse) in New York die „Kritische Theorie“. In den letzten drei Kriegsjahren schrieb er (in Kalifornien), gemeinsam mit Adorno, die Dialektik der Aufklärung, die theoretische Grundlage für die von ihm (mit Samuel Flowerman) herausgegebenen fünf Bände Studies in Prejudice (1949/50), deren bekannteste die von Adorno u. a. erarbeitete empirisch-theoretische Untersuchung des faschistoiden Charakters (1950) ist. 1949 kehrten Horkheimer und Adorno nach Westdeutschland zurück, um den aufgeschlossenen Teil der Nachkriegsjugend gegen die (befürchtete) Wiederkehr des Faschismus zu immunisieren.
In den Jahren 1958/59 hatte ich in der Göttinger Universitätsbibliothek und in der Bibliothek des Soziologischen Seminars Helmuth Plessners Gelegenheit, mich in Horkheimers (1932-1941 erschienene) Zeitschrift für Sozialforschung und in die Dialektik der Aufklärung einzulesen (deren Originalausgabe von 1947 es – wie auch einzelne Hefte der Zeitschrift – damals noch im Buchhandel gab).
Hörte ich ihn später in Vorlesungen, Vorträgen, Seminaren und Diskussionen, war er für mich stets der Repräsentant jener Version von historischem „Materialismus“, die er in den Jahren 1932-1938 gemeinsam mit Herbert Marcuse entwickelt hatte, und seiner, in den Kriegsjahren in Zusammenarbeit mit Adorno entstandenen Texte. Horkheimers spezifischer, von Schopenhauerschen Motiven durchwirkter und die metaphysische Tradition (im Hegelschen Sinne) aufhebender Materialismus liegt auch seinem aphoristischen Spätwerk1 zugrunde – allen Legenden von „Anpassung“ und „Rückfall auf religiöse Illusionen“2 zuwider.
Zu Beginn des Sommersemesters 1961 begann Horkheimer, der sich seit 1957 nach Montagnola im Tessin zurückgezogen hatte, aber noch zu Lehrveranstaltungen und Vorträgen nach Frankfurt kam, seine Vorlesung „Zur Idee der Freiheit“3 im vollbesetzten Hörsaal 6 der Goethe-Universität folgendermaßen: „Ich komme gerade aus Indien. Dort besteht die Freiheit für viele Menschen darin, zu wissen, ob sie morgen und übermorgen etwas zu essen haben werden. Freiheit ist – wie andere große Ideen – ein negativer Begriff. Freiheit ist, was wir (noch) nicht haben.“4 Allein dieser Satz machte die Nichtswürdigkeit der Ideologie des Kalten Krieges und des über den bräunlichen westdeutschen Universitäten aufgespannten „Werte“-Himmels kenntlich.
1961 hatten die UdSSR, die USA und Frankreich ihre Atomwaffenversuche wieder aufgenommen; im Juli flüchteten 30.000 Menschen aus der DDR; in Moskau tagte der 22., der „Entstalinisierungs“-Parteitag. Gagarin umkreiste in einem Raumschiff die Erde; in der kubanischen „Schweinebucht“ schei- terte ein Versuch bewaffneter Emigranten, die „fidelistische“ Regierung zu stürzen; im Kongo wurde Lumumba ermordet, und Kennedy und Chruschtschow trafen sich in Wien. Der algerische Generalstreik (im Juli 1961) signalisierte das nahende Ende des grausamen siebenjährigen Unabhängigkeitskriegs. In Frankfurt empfahl uns Horkheimer – der gelegentlich sagte, ein „guter Soziologe“ müsse eine Konzern-Bilanz ebenso lesen können wie ein Mallarmé-Gedicht deuten – den Besuch des (damals aktuellen, in Franco-Spanien gedrehten) häretischen Buñuel-Films „Viridiana“…
Als Erbe des väterlichen Textilunternehmens genoss Horkheimer die in unserer Gesellschaft größtmögliche Sicherheit und ahnte zugleich, dass es mit dieser Sicherheit von heute auf morgen aus sein könne, sei es infolge einer Fehlspekulation, sei es infolge eines politischen Umsturzes. Diese Angst begleitete die Angehörigen der (schrumpfenden) Schicht von „Kapital-Rentnern“, aus der sich eine Schar von „Dissidenten“ herauslöste, die von ihren Privilegien nonkonformen Gebrauch machte. Das waren groß- und weltbürgerliche Intellektuelle wie Horkheimers Freunde Friedrich Pollock und Felix Weil, die im Weltkrieg zu internationalistischen Kriegsgegnern geworden waren5 und sich unter dem Eindruck der Ermordung der „Spartakus“-Führer – Karl Liebknechts, Leo Jogiches’ und der von Horkheimer hoch geschätzten Rosa Luxemburg – und als Zeugen der Münchner Blutwoche vom Mai 19196 dazu entschlossen, als „Gelehrte der Bewegung“ (Antonio Labriola)7 ihr geistiges Potential für den Fortschritt der internationalen Arbeiterbewegung einzusetzen, wie Marx es ihnen mit seiner „Kritik des Gothaer Programms“ (der deutschen Sozialdemokratie)8 vorgemacht hatte.
Nach der früheren Erfahrung mit dem „weißen Schrecken“ (in München im März 1919) entgingen die Horkheimers nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler (am 30.01.1933) den faschistischen Greiftrupps, die das südhessische „wilde KZ“ zur „Abrechnung“ mit „Regime-Gegnern“ in der Frankfurter „Perlenfabrik“ (Ginnheimer Landstraße 40) einrichteten. Ihr Kronberger Haus wurde „von der SA besetzt und zum Wachlokal umfunktioniert; die beiden waren gewarnt worden“ und hatten in einem „Hotel in der Nähe des Hauptbahnhofs“ Zuflucht gesucht.9 Das „Institut für Sozialforschung“ wurde Mitte März von Polizei durchsucht und geschlossen…
Die um Horkheimer gruppierten marxistischen Intellektuellen verstanden sich als Nachfolger der gesellschaftskritischen europäischen Aufklärer, die im 17. und 18. Jahrhundert ideologiekritisch den Übergang von der bodenvermittelten „feudalen“ Herrschaftsform zur geldvermittelten bürgerlichen vorbereiteten und von denen einige bereits versucht hatten, auch die Grenzen der neuen, indirekten Vergesellschaftung über Tauschakte zu markieren (und zu überschreiten).10 Sie waren Verfolgungen ausgesetzt, ihre Bücher wurden gebannt oder verbrannt, erschienen pseudonym (wie Spinozas Theologisch-politischer Traktat) oder überhaupt erst posthum (wie seine Ethik). Horkheimer, der im Jahrhundert des Hitlerschen und Stalinschen Massenterrors lebte, nahm sich die listigen Wahrheitssucher des 17. und 18. Jahrhunderts zum Vorbild. Schon seine zweite Buchveröffentlichung – Dämmerung, Notizen in Deutschland – ließ er 1934 in Zürich unter einem Pseudonym erscheinen, für das er den Namen eines vergessenen Materialisten – Heinrich Regius – wählte. Um sein Institut – die Möglichkeit, zu forschen und zu publizieren – und die Handvoll marxistischer Sozialwissenschaftler, die mit ihm eines Sinnes waren, vor Verfolgung zu schützen, orientierte er sich zur Zeit des Krieges in den USA und später im Nachkriegs-Westdeutschland am „radikalsten aller Aufklärer“, dem Landpfarrer Jean Meslier (1664-1729), der, nach Vermahnungen durch seine Oberen, seine (Ludwig Feuerbach vorwegnehmende) Kritik der religiösen Illusionen einem geheimen, für seine Gemeinde bestimmten Testament11 anvertraute. Meslier führte ein Doppelleben: Als Prediger vertrat er tags die Dogmen seiner Kirche und nahm die obligaten rituellen Handlungen vor, bei Nacht aber widerrief er das alles und entlarvte als atheistischer Schriftsteller die christlichen Mysterien als kruden Aberglauben.
Der marxistische Sozialphilosoph Horkheimer hatte es in Frankfurt – wie Helmuth Plessner in Göttingen und andere aus der kleinen Schar jüdischer Gelehrter, die nach Deutschland zurückkehrten – mit einem Professoren-Kollegium und einer Bevölkerung zu tun, die der mörderischen Volksgemeinschaft des „Dritten Reichs“ angehört und sich 1945 in das Nicht-wahrhaben-Wollen ihrer biographisch-politischen Vergangenheit geflüchtet hatten. Er wusste, mit wem er es zu tun hatte, und wahrte in der Öffentlichkeit die Nachkriegs-Etikette, falls nötig (1951) auch in der Amtstracht eines Hochschul-Rektors in Begleitung des Kanzlers der Republik … Privatim aber setzte er seine Suche nach der Wahrheit über seine Epoche fort – in der ihm gemäßen Form der Notizen und der Gespräche mit seinem Freund Pollock (Späne), die uns im Band 14 seiner Gesammelten Schriften überliefert sind …
Was aber hat es nun mit Horkheimers „Kritischer Theorie“ auf sich? Dieser Titel diente zunächst der Abgrenzung vom „Marxismus“ sozialdemokratischer (Kautsky et al.) und sowjetmarxistischer (Bucharin et al.) Observanz. Eine historisch-kritische Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) wurde (in den Jahren 1924 - 1929) vom Moskauer „Marx-Engels-Institut“ David Rjasanows und vom Horkheimer-Institut (Felix Weil und Friedrich Pollock) vorbereitet. Bis zum Abbruch des Projekts (1939/41) wurden erstmals die Marxschen Frühschriften und seine Grundrisse der politischen Ökonomie veröffentlicht, was ein neuartiges, an Hegel (und Freud) orientiertes Verständnis des historischen Materialismus ermöglichte12, wie es sich in der von Horkheimer und Marcuse 1937 in der Zeitschrift für Sozialforschung publizierten „Kritischen Theorie“ – sowie in der von Karl Korsch (1938) vorgelegten Marx-Interpretation – manifestierte.13
Horkheimer unterschied „zwei Erkenntnisweisen […]; die eine wurde“ in Descartes’ Discours de la Méthode (1637) „begründet, die andere in der [Marxschen] Kritik der politischen Ökonomie.“14 Korsch arbeitete drei Formen von Kritik heraus, wie sie Marx (u. a. in den Theorien über den Mehrwert) praktiziert hatte: die „transzendente“ (von außen kommende oder politische, die die jeweilige Theorie einer Klassen-Position oder Interessenlage zuordnet), die „immanente“ (die Widersprüchen im jeweiligen Text nachgeht), und die „transzendentale“, die die Widersprüche und „Mängel“ ökonomischer und philosophischer Traktate auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückführt, die den Autoren und ihren Texten Grenzen setzten und setzen.15
Kritik diente vor drei Jahrhunderten den Aufklärern und dient uns heute zur Entzauberung von „Fetischen“. Fetische sind Ausgeburten unserer Wünsche und Ängste, als solche unkenntlich gewordene Erzeugnisse menschlicher Einbildungskraft, die als „Natur“ imponieren, ohne „Natur“ zu sein. Im Un- terschied zur Hypothesen-Kritik der Naturwissenschaften – die dem Interesse an technischer Beherrschung der äußeren und der Menschen-Natur dienen – und zur Auseinandersetzung mit „Kultur-Objektivationen“ (im Dienst der Aneignung und Fortbildung der Tradition) gilt die Marxsche Kritik der Matrix dieser Natur- und Geisteswissenschaften, nämlich der Gesellschaftsformation, in der sie sich herausgebildet haben. Diese Kritik hat es nicht mit „Natur“, sondern mit Pseudonatur zu tun, mit der Entzauberung von Institutionen der Lebens- und Sozialgeschichte, die notgedrungen – und darum bewusstlos – geschaffen und tradiert werden und aus den vergesellschafteten Individuen Wiederholer machen. Um ihres „Gegenstands“ Herr zu werden, setzt die Kritik „erklärend“ an und mündet, wenn es gut geht, in ein neuartiges „Verstehen“, dann nämlich, wenn die von ihr Betroffenen sich die Kritik (eine Rekonstruktion der Genese obsolet gewordener Institutionen) zu eigen machen können, „Diagnosen“ also adoptieren und in Selbsterkenntnis ummünzen. Das eben ist das Spezifikum der Marxschen und … der Freudschen Kritik, der Kritik der politischen wie der psychischen Ökonomie unserer Gesellschaft. Beide Kritiken gelten zu Hindernissen weiterer Entwicklung gewordenen „Institutionen“, solchen der Sozialgeschichte und solchen der Lebens- geschichten, die in die Sozialgeschichte eingehängt sind.16 Dass Marx wie Freud „Schüler“ des materialistischen Religionskritikers Ludwig Feuerbachs waren, ist bekannt, dass Marx Hegel-Schüler und -Kritiker war, ebenfalls, dass aber die Schlüssel- Kategorien der Freudschen Therapeutik – Amnesie und Anamnesis (Vergessen und Wieder-Erinnern) – von Hegels vormaligem Verbündeten und späteren Kritiker Schelling stammen, wird noch kaum gesehen.17 In seiner „positiven“ Philosophie (dem System der Weltalter) hat Schelling die von Fichte und Hegel entwickelte Dialektik zu Ende gedacht (und damit die Hegelkritik Feuerbachs und Marx’ vorbereitet). Das dialektische oder „anamnestische“ Verfahren charakterisierte Schelling als ein dialogisches, in dem die bewusstlose Produktion – also die Entstehungsgeschichte des falschen Bewusstseins, dem die Misere der Gegenwart als ein unentrinnbares Schicksal erscheint –, von einem fragenden und einem befragten „Ich“ schrittweise rekonstruiert wird, was allererst eine Revision (oder „Sabotage“) dieses vermeintlichen Schicksals18 ermöglicht.
Horkheimer, Adorno und Marcuse gehörten zu den wenigen Sozialkritikern und Revolutionstheoretikern, die von der Freudschen Therapeutik Kenntnis nahmen und, vor allem, damit etwas anzufangen wussten.19 Wie ihr Zeitgenosse, der Berufsrevolutionär und Historiker Trotzki20, verstanden sie, dass es sich bei Freuds radikaler Kritik der Gegenwartskultur – der Matrix seiner Psychotherapie – um eine andere „Kritische Theorie“ handelt, gleichen Ursprungs, gleicher Struktur und gleicher Zielsetzung wie die Marxsche. Sie adoptierten diese Psy- chologie des Unbewussten als eine „Hilfswissenschaft“ der Historiographie und der Gegenwarts-Orientierung (Horkheimer21), blieben aber der therapeutischen Praxis gegenüber skeptisch, die sie als eine „positivistisch“ orientierte Kontroll- und Anpassungs-Technik auffassten und Freuds „Selbst-Missverständnis“ der Psychoanalyse als einer „Naturwissenschaft“22 zuordneten. Horkheimer und Adorno erwogen zunächst, ihre Kritik des Positivismus23 am Beispiel der Psychoanalyse zu demonstrieren, also die Auflösung des Rätsels des „wissenschaftlichen Status“ der Psychoanalyse24 ins Zentrum ihrer (in den Jahren 1941-44 formulierten) „Philosophischen Fragmente“ zu stellen.25 Zwei andere „Freudianer“ der „Frankfurter Schule“ haben später unser Verständnis der Psychoanalyse bedeutend erweitert: Herbert Marcuse dechiffrierte Freuds Psychoanalyse als eine Gestalt der Philosophie und zeigte, dass es sich auch bei des- sen vermeintlichem „Biologismus“ (Horkheimer) um Gesellschaftstheorie handelt.26 Jürgen Habermas erkannte, dass das von Freud – im Zuge seiner Aufklärung des Rätsels der Hysterie – entwickelte dialogisch-anamnestische Verfahren, das der selbstreflexiven Auflösung von Wiederholungszwängen dient, praktische Kulturkritik ist.27
„Aufklärer sind nicht etwa Philosophen im Sinne von Universitätsangestellten [gewesen], sondern eine politische Avantgarde, die die Gesellschaft ändern wollte“, sagte Horkheimer (1957) in seiner „Materialismus“-Vorlesung.28 Wie verhielt es sich aber mit der „Politik“ der modernen Aufklärer Horkheimer und Adorno? Wie schon gesagt, verstanden sie sich als „Gelehrte der [Arbeiter-]Bewegung“, deren Aufgabe es sei, der Lohn- arbeiterschaft (der „Ware“ Arbeitskraft) ihre Situation zu Bewusstsein zu bringen, die Geschichte ihrer Kämpfe um Selbstbestimmung vor dem Vergessen zu bewahren und den gesell- schaftlichen „Zwischenschichten “ zu demonstrieren, dass es sich beim Kampf um die Überwindung der kapitalistischen (Welt-) Wirtschaft nicht um ein partikulares, sondern um ein gesamtgesellschaftliches Interesse handelt.
Der sowjetische „Thermidor“ der zwanziger Jahre (das Rückläufig-Werden der Revolution) führte nach wenigen Jahren zum Ende der Zusammenarbeit mit dem Moskauer Rjasanow-Institut. Korsch, der spiritus rector der Thüringer „Marxistischen Arbeitswoche“ im Mai 192329, in deren Folge Weil das Frankfurter Institut (als eines „zur Erforschung des Marxismus“) gründete, wurde schon drei Jahre später (mit anderen „linken“ Kom- munisten) aus der KPD ausgeschlossen. Horkheimer, Pollock und Fromm hielten (wie Marcuse, Adorno und Benjamin) während ihrer Emigrationsjahre Distanz zu linkssozialistischen Gruppen und Parteien.30 Sie vermieden es lange, sich öffentlich zur stalinistischen Sowjetunion, über die sie gut informiert waren, zu äußern.31 Nach den Moskauer Schauprozessen der Jahre 1936-38, dem weithin sichtbaren Fanal des konterrevolutionären Massenterrors, und dem Hitler-Stalin-Pakt im darauf folgenden Jahr trennten sich Mitarbeiter und Kollegen (wie Wittfogel und Bloch), die in der Sowjetunion ein „Gelobtes Land“ sahen und sich auch weiterhin an der Moskauer „Generallinie“ orientierten, vom Institut. Pollock charakterisierte (1941) die Sowjetunion als „staatskapitalistisch“, und Horkheimer klassifizierte (1940/42) Hitlers und Stalins Regime als „Autoritäre Staaten“.32 Die vielleicht bedeutendste Analyse des wirtschaftlichen und politischen Systems des Hitler-Staats – F. L. Neumanns Behemoth (1942, 1944) – entstand ebenfalls im New Yorker Institut. Trotzkis Bücher und Zeitschriften der dreißiger Jahre waren im Horkheimer-Kreis bekannt, man hütete sich aber, den Verfemten zu erwähnen oder ihn zu zitieren.
Horkheimer, Marcuse, Benjamin und Adorno waren libertäre Hegel-Marxisten; ihre politische Orientierung kann man am ehesten eine „anarcho-syndikalistische“ oder, dem Sprachgebrauch der dreißiger Jahre entsprechend, eine „trotzkistische“ nennen. Deutlicher als Andere erkannten sie, dass die drei „Ungeheuer“ der dreißiger Jahre – Stalin, Franco und Hitler, die Kommandeure „massenfeindlicher Massenbewegungen“ – der revolutionären europäischen Arbeiterbewegung das Genick gebrochen hatten, sodass „die Gelehrten der Bewegung“ nunmehr auf verlorenem Posten standen: „Was wir sind? – Arrièregardisten, die Nachhut eines Heeres, das es schon nicht mehr gibt. Wo das Heer stehen sollte, ist schon der Feind, der uns verfolgt.“33 Zweifellos hätten sie sich aber Trotzki (dessen Text sie nicht kannten) angeschlossen, der zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in seiner Auseinandersetzung mit Rizzis Bürokratisierungs-These zu folgendem Schluss kam: „Zu Ende gedacht, heißt die historische Alternative: entweder ist das Stalinsche Regime ein häßlicher Rückfall beim Umwandlungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft in eine sozialistische, oder es ist die erste Etappe einer neuen ausbeuterischen Gesellschaft.“ Und was wäre zu tun, falls sich die stalinistische Sowjetunion (was Trotzki für unwahrscheinlich hielt) als Prototyp einer neuen, barbarischen Variante von Klassengesellschaft erwiese? „Dann wäre offenbar ein neues ‚minimales‘ Programm notwendig – zum Schutz der Interessen der Sklaven einer totalitären bürokratischen Gesellschaft.“34
(Wien, 1.11.2023)