„Partnerschaftlich“ in die Ohnmacht?
U. D.
Am 27. Juni 2024 verständigten sich die Industriegewerkschaft IGBCE und der Bundesarbeitgeberverband Chemie BAVC auf ein Tarifergebnis. Damit endete die Chemie-Tarif- runde 2024 für die rund 585.000 Beschäftigten der Chemie- und Pharmaindustrie.
Wie branchenüblich und IGBCE-typisch gab es keine Warnstreiks, sondern Demonstrationen und Kundgebungen. An den über 200 Tarif-Aktionen beteiligten sich gerade mal 50.000 Kolleg:innen; beim traditionell gut organisierten BASF- Stammwerk in Ludwigshafen waren es immerhin 5.000.
Tarifergebnis 2024
Die IGBCE forderte 7% höhere Löhne, die „Modernisierung“ des Entgelttarifvertrages und eine Bonus-Regelung für Gewerkschaftsmitglieder. In allen Punkten wurden Ergebnisse erzielt:
• Die Tarif-Laufzeit beträgt 20 Monate. Nach zwei Leermonaten werden die Entgelte zum 1. September 2024 um 2 % und in einer zweiten Stufe am 1. April 2024 um 4,85 % erhöht.
• Der Bundesentgelttarif wird in einzelnen Punkten verändert (z. B. bessere Vertretungsregelung).
• Tarifbeschäftigte IGBCE-Mitglieder erhalten als Gewerkschafts-Bonus unter bestimmten Voraussetzungen einen zusätzlichen freien Tag.
• Die von der IGBCE gekündigte Schlichtungsregelung wurde wieder in Kraft gesetzt.
• Im Rahmen einer „gemeinsamen“ Tarifstrategie 2030 sollen die Tarifverträge „modernisiert“ werden.
Teurer Abschluss für Beschäftigte
Die BILD-Zeitung nannte den Mitgliederbonus eine Tarifrevolution. Aber Revolutionen finden nur nach harten Kämpfen statt. Warum also haben die Chemie-Bosse diesem Tarifabschluss ohne Arbeitskampf zugestimmt? Weil er ihnen nutzt, und weil er den Chemie-Beschäftigten mehrfach teuer zu stehen kommt:
1. Der Tarifabschluss 2022 brachte einen massiven Reallohnverlust. Der Abschluss 2024 gleicht diesen nicht aus. Nach IGBCE-Berechnungen werden die Chemie-Reallöhne Ende 2025 trotz Tariferhöhungen noch unter denen des Jahres 2015 (!) liegen.
2. Die IGBCE stellt die „Transformation“ nicht grundsätzlich in Frage, sondern will sie tarifpolitisch „begleiten“. So können die Unternehmen Restrukturierungen, Digitalisierung, Arbeitsplatzvernichtung und sonstige Angriffe ohne nennenswerten gewerkschaftlichen Widerstand fortsetzen.
3. Die Schlichtungsregelung wurde mit dem Bonus-Tag gekoppelt. Wird sie gekündigt, entfällt automatisch der Bonus-Tag. Damit hat die IGBCE bezüglich der Schlichtungsregelung eine zusätzliche Kündigungs-Hürde akzeptiert und sich selbst ohne Not engere Schlichtungsfesseln angelegt. Für die Unternehmen bedeutet dies Tarifruhe und quasi Streikfreiheit. Denn die Schlichtungsregelung lässt Streiks erst nach Abschluss eines strikt regulierten und verzögernden Verfahrens zu.
4. Jede weitere kampflose und „partnerschaftliche“ Tarifrunde vertieft die „Sozialpartnerschaft“ der IGBCE und schwächt ihre geringe Kampffähigkeit weiter. Für die Chemie-Bosse ist das ein Geschenk. Denn so wird bei den Beschäftigten kein Klassenbewusstsein, kein gewerkschaftliches Selbstvertrauen und keine Kampfkraft entwickelt.
Gegenmacht statt „Sozialpartnerschaft“
In der IGBCE fand die letzte große Auseinandersetzung um ihre politische Ausrichtung in ihrer Vorläuferorganisation IG Chemie Papier Keramik statt. Sie endete auf dem Mannheimer Gewerkschaftstag 1980 mit der Ausschaltung des linksorientierten Flügels um Hermann Plumeyer. Damals gelang es Hermann Rappe, „sozialpartnerschaftliche“ Positionen durchzusetzen, die bis heute den hauptamtlichen Apparat, die Funktionär:innen sowie die Politik und die Analysen der IGBCE bestimmen.
Die „Sozialpartnerschaft“ ist ein politisches Gift. Sie vernebelt den Interessensgegensatz von Kapital und Arbeit. Sie zerstört Klassenbewusstsein und Solidarität. Sie fördert egoistisches und nationalistisches Standortdenken und macht die arbeitende Klasse empfänglicher für rechte Parolen.
Umso wichtiger ist es, in den Betrieben und Gewerkschaften für eine andere, eine klassenkämpferische Politik einzutreten. Dies kann auf mehreren Ebenen geschehen:
• Eine aktive und kämpferische Politik im Betrieb verankern. Nur so entsteht auch die Kraft, um erfolgreich in die Gewerkschaft hineinwirken zu können.
• Die betriebs- und branchenübergreifende Vernetzung von kämpferischen Kolleg:innen konsequent angehen.
• Aktive Betriebsräte, die von „ihren“ Unternehmen angegriffen und gemobbt werden, solidarisch unterstützen.
• In den Gewerkschaften für uneingeschränkte Demokratie und für den Aufbau einer wirksamen Gegenmacht zum Kapital eintreten.