Aufgrund der Veröffentlichung von Helmut Dahmers Artikel „Trotzki und Freud“ in der Theoriebeilage zu Avanti², Nr. 119 / 120 von Juli / August 2024 erreichte uns am 4. Juli 2024 mit elektronischer Post der im Folgenden wiedergegebene Leserbrief.
Liebe Genoss:innen,
ich freue mich immer wieder über die neue Avanti und besonders den Theorie-Teil, wo ja oft der Genosse Helmut zu Wort kommt.
Die Avanti ist m. E. sehr gut auf Praxis und knappe wichtige Informationen orientiert, der Theorie-Teil oft zu weit davon entfernt.
Natürlich ist es sehr interessant zu lesen, welche Gemeinsam- keiten im Denken zwischen Marx und Freud bestehen, dass sie beide jeweils die gesellschaftlichen bzw. psychischen Hintergrün-de erkunden usw.
Der Artikel bleibt mir aber zu allgemein. Vielleicht war das auch seine Absicht.
Mich würden aber die für heute wichtigen psychischen – die wirtschaftlichen sind mir bekannt – Hintergründe der Entstehung des Faschismus interessieren, die m. E. für die Auseinandersetzung mit Rechts-Denkenden noch wichtiger sind als politische Argumente.
Wenn Helmut D. – oder andere – da genauere Hinweise, Anstöße, Texte … (nicht nur Stichworte wie autoritärer Charakter, noch oben buckeln, nach unten treten …) geben könnten, wäre ich sehr dankbar.
Mit herzlichen solidarischen Grüßen
Werner
Helmut Dahmer antwortete darauf wenige Stunden später.
Lieber Werner,
vielen Dank für die Übermittlung Deines Briefes, der ein paar Fragen aufwirft, die in jedem Fall beantwortet werden sollten, was ich hier kurz versuche:
1. Zwischen Praxis (oder auch „Empirie“) und „Theorie“ be-steht eine Kluft, die nicht zu leugnen und auch nicht einfach „irgendwie“ zu überbrücken ist.
2. Das Verhältnis zwischen Marx und Freud ist 100 Jahre lang als eines des Gegensatzes und der Konkurrenz fehlverstanden worden. Dass sie gemeinsame „philosophische“ Wurzeln (Hegel bzw. dessen Kritiker, Schelling und Feuerbach) hatten, auf der Suche nach einem Ausweg aus der „Kultur“ der Gegenwart waren und darum ein neuartiges Verfahren der Kritik (der Ökonomie bzw. der Psychologie) erfanden, wird noch kaum gesehen. Darüber habe ich ein Buch geschrieben (Die unnatürliche Wissenschaft), und das ist natürlich ein „theoretisches“, also „allgemeines“.
3. Unter den Marx-Schülern sind Trotzki und Horkheimer fast die einzigen, die sich für Freuds Theorie interessierten und etwas damit anzufangen wussten. Aber was? Sie wollten den Triumph der Gegenrevolution(en) verstehen, und dazu schien ihnen die Freud‘sche Theorie der „Abwehrmechanismen“ und der „Projektion“ hilfreich. In einem anderen Buch – wiederum einem „theoretischen“ (Trotzki, die Psychoanalyse und die kannibalischen Regime) – habe ich herausgearbeitet, wie die beiden (Horkheimer und Trotzki) verfahren sind, um sich gegenüber ihren (und unseren) Gegnern zu behaupten. Der Artikel in Avanti ist nur eine Skizze dazu …
4. Versuche, die Sozialpsychologie der (aktiven und potentiellen) Faschisten zu verstehen, gibt es seit 100 Jahren. In einem umfangreicheren Artikel mit dem Titel „Die faschistische Gefahr“, der für ein anderes Publikum geschrieben wurde, bin ich stärker als in Avanti [Nr. 119 /120] auch darauf eingegangen.
Herzlichen Gruß!
Helmut