Ein Interview zum aktuellen Geschehen in Syrien und in Deutschland*
Nach dem Sturz des Assad-Regimes entstand umgehend im deutschen Wahl-„Kampf“ ein schäbiger Wettbewerb. Die Spitzen der „demokratischen Mitte“ überboten sich darin, wer am schnellsten – und nach Möglichkeit noch schriller als die „AfD“! – die „Remigration“ von Menschen mit syrischen Wurzeln forderte. Um dieser menschenverachtenden Hetze ein wenig entgegentreten zu können, hat Avanti² mit dem 2015 aus Syrien geflüchteten Genossen Nidal gesprochen.
Lieber Genosse Nidal, was haben bei Dir der Sturz des Assad-Regimes und die daraus resultierenden Veränderungen in Syrien ausgelöst?
Als ich damals nach Europa flüchten musste, war das Leben in Syrien geprägt von ständiger Angst und Unterdrückung. Mein Bruder wurde getötet, mein Schwager und 214 weitere junge Männer wurden ohne jeden Grund verschleppt und inhaftiert. Diese Erfahrungen haben mich tief geprägt.
Die Nachricht vom Sturz des Assad-Regimes löste bei mir zunächst gemischte Gefühle aus: Einerseits verspürte ich Erleichterung und Hoffnung, andererseits sind da große Sorgen und Ängste, ob Syrien wirklich den lang ersehnten Wandel hin zu Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit erleben wird. Unter der autoritären Herrschaft Assads litten wir alle unter Repression, Korruption und einer extremen sozialen Ungleichheit.
Externe Mächte nutzten den Konflikt zudem, um ihre eigenen geopolitischen Interessen durchzusetzen. Mit dem Ende dieses Regimes öffnet sich jetzt zwar ein Fenster für Veränderung, doch zahlreiche Akteure von lokalen Milizen bis hin zu internationalen Kräften ringen um Macht und Einfluss.
Die größte Herausforderung sehe ich darin, dass Syrien sich nicht erneut den Interessen großer imperialistischer Mächte beugt und dass lokale „Eliten“ nicht einfach ein neues, ebenso autoritäres System errichten. Vielmehr brauchen wir eine demokratische, basisorientierte Gesellschaftsstruktur, in der die Menschen selbst etwa in Räten, Versammlungen oder Kommunen über ihre Angelegenheiten entscheiden. Soziale Gerechtigkeit darf dabei nicht nur ein Schlagwort sein, sondern muss konkret verwirklicht werden.
Ein zentrales Anliegen ist für mich der Wiederaufbau. Nach dem Sturz von Assad brauchen wir ein solidarisches Wirtschaftsmodell, das allen Syrerinnen und Syrern zugutekommt, statt nur ausländische Investitionen oder die Interessen einiger Weniger zu bedienen.
Hier halte ich sozialistische Prinzipien für unverzichtbar: Kollektive Kontrolle über grundlegende Ressourcen, menschenwürdige Arbeitsplätze, die ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen, sowie eine öffentliche Infrastruktur für Gesundheit, Bildung und soziale Absicherung.
Natürlich sind die Herausforderungen enorm. Das Land ist stark vom Krieg gezeichnet, und viele Menschen sind tief traumatisiert. Ich hoffe, dass sich unsere Trauer und unsere Wut in positive Energie verwandeln lassen, um gemeinsam ein neues Syrien aufzubauen, das auf Menschenwürde, Mitbestimmung und Solidarität gründet.
Welche Rolle spielen die Türkei und die von ihr unterstützten Dschihadisten, und wie schätzt Du das Vorgehen Israels ein?
Die Rolle der Türkei ist in der Tat sehr komplex. Ankara unterstützt seit Jahren verschiedene syrische Milizen, die vormals als dschihadistisch galten oder mit ihnen verbündet waren. Diese Gruppen haben sich teils umbenannt oder versuchen nun, sich moderater zu präsentieren, was ihnen auch Unterstützung aus Teilen der syrischen Bevölkerung einbringt. Dennoch bleibt die Sorge groß, dass sie religiöse Spaltungen und sektiererische Konflikte weiter anheizen könnten.
Israel wiederum nutzt die Schwäche Syriens, um militärische Schläge gegen verschiedene Ziele durchzuführen – offiziell, um sich gegen iranischen Einfluss zu wehren. Gleichzeitig hat Israel die völkerrechtswidrige Annexion der Golanhöhen weiter zementiert und rückt zum Teil militärisch tiefer in syrisches Gebiet vor. Das belegt, dass nicht nur regionale, sondern auch globale Akteure ihre Interessen in Syrien durchsetzen wollen.
Aus meiner Sicht ist entscheidend, solche Interventionen und Abkommen kritisch zu hinterfragen. Das syrische Volk darf nicht wieder in den Machtpoker zwischen Türkei, Russland, Iran, Israel, USA und anderen Staaten geraten. Stattdessen braucht es eine umfassende Lösung, die sich an den Bedürfnissen der Menschen vor Ort orientiert und nicht an machtpolitischen oder ökonomischen Interessen externer Akteure.
Um langfristig Frieden und soziale Gerechtigkeit zu schaffen, müssen alle syrischen Gemeinschaften – unabhängig von ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – demokratisch mitbestimmen können. Nur so lässt sich vermeiden, dass neue autoritäre oder sektiererische Strukturen entstehen.
Was ist für das demokratische Projekt Rojava im kurdischen Nordosten Syriens zu erwarten?
Das Projekt Rojava im kurdischen Norden Syriens hat in den vergangenen Jahren gezeigt, dass eine basisdemokratische, säkulare und fortschrittliche Gesellschaftsordnung möglich ist – selbst unter den schwierigen Bedingungen eines andauernden Krieges. Die von Abdullah Öcalans Ideen des Demokratischen Konföderalismus inspirierte Praxis setzt auf lokale Selbstverwaltung, Geschlechtergerechtigkeit und die Einbindung verschiedener Ethnien und Religionsgemeinschaften.
Allerdings sind die Herausforderungen enorm: Zum einen besteht die Angst, dass Syrien durch weitere Autonomiebestrebungen in verschiedene Einflusssphären zerfällt. Dies kann zu Spannungen mit jenen führen, die sich weiterhin ein zentralistisch organisiertes, „einheitliches“ Syrien wünschen. Zum anderen fürchten viele, dass Rojava, gerade wenn internationale Mächte ihre eigenen Interessen verfolgen, isoliert wird oder sogar unter militärischen Druck gerät.
Aus einer linken, sozialistischen Perspektive sollte das Ziel jedoch nicht die Fragmentierung des Landes sein, sondern eine Föderation oder Konföderation, in der die verschiedenen Gemeinschaften, Sprachen und Konfessionen gleichberechtigt koexis- tieren und ihre Rechte verteidigen können. Das Rojava-Modell kann dafür ein Vorbild sein, sofern es gelingt, alle Gruppen einzubeziehen und so gemeinschaftliche Strukturen zu schaffen, statt nur kurdische Interessen in den Mittelpunkt zu stellen.
Zugleich braucht es eine starke internationale Solidarität. Linke Kräfte weltweit sollten sich mit dem basisdemokratischen Projekt Rojavas und anderen emanzipatorischen Bestrebungen in Syrien solidarisieren, um der Gefahr von außenpolitischer Einmischung und Spaltung entgegenzutreten.
Wie empfindest Du die Diskussion in Deutschland, aber auch in Europa, wo die syrischen Flüchtlinge aufgefordert werden, sofort nach Syrien zurückzukehren?
Ich halte es für äußerst problematisch, wenn in Deutschland und anderen europäischen Staaten gefordert wird, dass syrische Geflüchtete umgehend zurückkehren sollten. Solche Forderungen ignorieren, wie instabil die Lage in Syrien noch immer ist. Das Land ist durch Krieg und jahrelange Diktatur gezeichnet, und viele Menschen fürchten weiterhin Verfolgung, Inhaftierung oder Repression. Zumal das Assad-Regime zwar formal gestürzt wurde, die Machtverhältnisse aber keineswegs klar sind und neue Konflikte aufbrechen können.
Aus meiner Sicht liegt es in der Verantwortung Europas, geflüchteten Menschen Schutz und Perspektiven anzubieten, gerade weil europäische Mächte und ihre Verbündeten selbst am Konflikt in Syrien beteiligt waren oder ihn indirekt befeuert haben.
Die Forderung nach einer schnellen Rückkehr blendet zudem aus, dass die allermeisten Syrerinnen und Syrer, die geflohen sind, ihre Heimat nicht aus freien Stücken verlassen haben. Sie haben Familie und Freunde verloren, sind oft traumatisiert, und ihre Häuser oder Dörfer liegen in Trümmern. Solange keine echte Sicherheit und ein inklusiver Friedensprozess gewährleistet sind, könnte derzeit eine Rückkehr ihr Leben erneut in Gefahr bringen.
Statt die Geflüchteten zurückzuschicken, müssen wir in Europa solidarische Lösungen finden, die den Menschen ein sicheres Leben und eine aktive Teilhabe ermöglichen. Dazu gehören ein umfassender Schutzstatus, Unterstützung beim Spracherwerb und beim Zugang zum Arbeitsmarkt sowie echte Integrationsangebote.
Auch im Hinblick auf den Wiederaufbau Syriens ist es sinnvoll, dass diejenigen, die in Europa Schutz gefunden haben, ihre Kenntnisse und Erfahrungen frei einsetzen können – möglicherweise zu gegebener Zeit auch beim Neuaufbau ihrer Heimat, wenn die Umstände es wirklich erlauben und sie sich dazu bereit fühlen.
Letztlich sollte unsere Haltung von der Überzeugung getragen sein, dass niemand gegen seinen Willen in ein Krisengebiet zurückgeschickt werden darf – schon gar nicht, solange Folter, Repression oder politische Verfolgung an der Tagesordnung sind.
Eine linke, humanistische Position verweist darauf, dass solidarische Aufnahme und umfassende Unterstützung Geflüchteter Grundpfeiler einer Gesellschaft sein müssen, die sich soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde auf die Fahnen geschrieben hat.
* [Die Fragen stellte H. S.]