Nach dem Sturz des Assad-Regimes – Het­ze oder Solidarität?

Ein Inter­view zum aktu­el­len Gesche­hen in Syri­en und in Deutschland*

 

Nach dem Sturz des Assad-Regimes ent­stand umge­hend im deut­schen Wahl-„Kampf“ ein schä­bi­ger Wett­be­werb. Die Spit­zen der „demo­kra­ti­schen Mit­te“ über­bo­ten sich dar­in, wer am schnells­ten – und nach Mög­lich­keit noch schril­ler als die „AfD“! – die „Remi­gra­ti­on“ von Men­schen mit syri­schen Wur­zeln for­der­te. Um die­ser men­schen­ver­ach­ten­den Het­ze ein wenig ent­ge­gen­tre­ten zu kön­nen, hat Avan­ti² mit dem 2015 aus Syri­en geflüch­te­ten Genos­sen Nidal gesprochen.

Demo in Paris gegen das syrische Folterregime in Syrien, 16. März 2013. (Foto: Photothèque Rouge/JMB.)

Demo in Paris gegen das syri­sche Fol­ter­re­gime in Syri­en, 16. März 2013. (Foto: Pho­to­t­hè­que Rouge/JMB.)

Lie­ber Genos­se Nidal, was haben bei Dir der Sturz des Assad-Regimes und die dar­aus resul­tie­ren­den Ver­än­de­run­gen in Syri­en ausgelöst?
Als ich damals nach Euro­pa flüch­ten muss­te, war das Leben in Syri­en geprägt von stän­di­ger Angst und Unter­drü­ckung. Mein Bru­der wur­de getö­tet, mein Schwa­ger und 214 wei­te­re jun­ge Män­ner wur­den ohne jeden Grund ver­schleppt und inhaf­tiert. Die­se Erfah­run­gen haben mich tief geprägt.

Die Nach­richt vom Sturz des Assad-Regimes lös­te bei mir zunächst gemisch­te Gefüh­le aus: Einer­seits ver­spür­te ich Erleich­te­rung und Hoff­nung, ande­rer­seits sind da gro­ße Sor­gen und Ängs­te, ob Syri­en wirk­lich den lang ersehn­ten Wan­del hin zu Frie­den, Gerech­tig­keit und Frei­heit erle­ben wird. Unter der auto­ri­tä­ren Herr­schaft Assads lit­ten wir alle unter Repres­si­on, Kor­rup­ti­on und einer extre­men sozia­len Ungleichheit.

Exter­ne Mäch­te nutz­ten den Kon­flikt zudem, um ihre eige­nen geo­po­li­ti­schen Inter­es­sen durch­zu­set­zen. Mit dem Ende die­ses Regimes öff­net sich jetzt zwar ein Fens­ter für Ver­än­de­rung, doch zahl­rei­che Akteu­re von loka­len Mili­zen bis hin zu inter­na­tio­na­len Kräf­ten rin­gen um Macht und Einfluss.

Die größ­te Her­aus­for­de­rung sehe ich dar­in, dass Syri­en sich nicht erneut den Inter­es­sen gro­ßer impe­ria­lis­ti­scher Mäch­te beugt und dass loka­le „Eli­ten“ nicht ein­fach ein neu­es, eben­so auto­ri­tä­res Sys­tem errich­ten. Viel­mehr brau­chen wir eine demo­kra­ti­sche, basis­ori­en­tier­te Gesell­schafts­struk­tur, in der die Men­schen selbst etwa in Räten, Ver­samm­lun­gen oder Kom­mu­nen über ihre Ange­le­gen­hei­ten ent­schei­den. Sozia­le Gerech­tig­keit darf dabei nicht nur ein Schlag­wort sein, son­dern muss kon­kret ver­wirk­licht werden.

Ein zen­tra­les Anlie­gen ist für mich der Wie­der­auf­bau. Nach dem Sturz von Assad brau­chen wir ein soli­da­ri­sches Wirt­schafts­mo­dell, das allen Syre­rin­nen und Syrern zugu­te­kommt, statt nur aus­län­di­sche Inves­ti­tio­nen oder die Inter­es­sen eini­ger Weni­ger zu bedienen.

Hier hal­te ich sozia­lis­ti­sche Prin­zi­pi­en für unver­zicht­bar: Kol­lek­ti­ve Kon­trol­le über grund­le­gen­de Res­sour­cen, men­schen­wür­di­ge Arbeits­plät­ze, die ein selbst­be­stimm­tes Leben ermög­li­chen, sowie eine öffent­li­che Infra­struk­tur für Gesund­heit, Bil­dung und sozia­le Absicherung.

Natür­lich sind die Her­aus­for­de­run­gen enorm. Das Land ist stark vom Krieg gezeich­net, und vie­le Men­schen sind tief trau­ma­ti­siert. Ich hof­fe, dass sich unse­re Trau­er und unse­re Wut in posi­ti­ve Ener­gie ver­wan­deln las­sen, um gemein­sam ein neu­es Syri­en auf­zu­bau­en, das auf Men­schen­wür­de, Mit­be­stim­mung und Soli­da­ri­tät gründet.

Demo in Paris gegen das syrische Folterregime in Syrien, 16. März 2013. (Foto: Photothèque Rouge/JMB.)

Demo in Paris gegen das syri­sche Fol­ter­re­gime in Syri­en, 16. März 2013. (Foto: Pho­to­t­hè­que Rouge/JMB.)

Wel­che Rol­le spie­len die Tür­kei und die von ihr unter­stütz­ten Dschi­ha­dis­ten, und wie schätzt Du das Vor­ge­hen Isra­els ein?
Die Rol­le der Tür­kei ist in der Tat sehr kom­plex. Anka­ra unter­stützt seit Jah­ren ver­schie­de­ne syri­sche Mili­zen, die vor­mals als dschi­ha­dis­tisch gal­ten oder mit ihnen ver­bün­det waren. Die­se Grup­pen haben sich teils umbe­nannt oder ver­su­chen nun, sich mode­ra­ter zu prä­sen­tie­ren, was ihnen auch Unter­stüt­zung aus Tei­len der syri­schen Bevöl­ke­rung ein­bringt. Den­noch bleibt die Sor­ge groß, dass sie reli­giö­se Spal­tun­gen und sek­tie­re­ri­sche Kon­flik­te wei­ter anhei­zen könnten.

Isra­el wie­der­um nutzt die Schwä­che Syri­ens, um mili­tä­ri­sche Schlä­ge gegen ver­schie­de­ne Zie­le durch­zu­füh­ren – offi­zi­ell, um sich gegen ira­ni­schen Ein­fluss zu weh­ren. Gleich­zei­tig hat Isra­el die völ­ker­rechts­wid­ri­ge Anne­xi­on der Golan­hö­hen wei­ter zemen­tiert und rückt zum Teil mili­tä­risch tie­fer in syri­sches Gebiet vor. Das belegt, dass nicht nur regio­na­le, son­dern auch glo­ba­le Akteu­re ihre Inter­es­sen in Syri­en durch­set­zen wollen.

Aus mei­ner Sicht ist ent­schei­dend, sol­che Inter­ven­tio­nen und Abkom­men kri­tisch zu hin­ter­fra­gen. Das syri­sche Volk darf nicht wie­der in den Macht­po­ker zwi­schen Tür­kei, Russ­land, Iran, Isra­el, USA und ande­ren Staa­ten gera­ten. Statt­des­sen braucht es eine umfas­sen­de Lösung, die sich an den Bedürf­nis­sen der Men­schen vor Ort ori­en­tiert und nicht an macht­po­li­ti­schen oder öko­no­mi­schen Inter­es­sen exter­ner Akteure.

Um lang­fris­tig Frie­den und sozia­le Gerech­tig­keit zu schaf­fen, müs­sen alle syri­schen Gemein­schaf­ten – unab­hän­gig von ihrer reli­giö­sen oder eth­ni­schen Zuge­hö­rig­keit – demo­kra­tisch mit­be­stim­men kön­nen. Nur so lässt sich ver­mei­den, dass neue auto­ri­tä­re oder sek­tie­re­ri­sche Struk­tu­ren entstehen.

Was ist für das demo­kra­ti­sche Pro­jekt Roja­va im kur­di­schen Nord­os­ten Syri­ens zu erwarten?
Das Pro­jekt Roja­va im kur­di­schen Nor­den Syri­ens hat in den ver­gan­ge­nen Jah­ren gezeigt, dass eine basis­de­mo­kra­ti­sche, säku­la­re und fort­schritt­li­che Gesell­schafts­ord­nung mög­lich ist – selbst unter den schwie­ri­gen Bedin­gun­gen eines andau­ern­den Krie­ges. Die von Abdul­lah Öcal­ans Ideen des Demo­kra­ti­schen Kon­fö­de­ra­lis­mus inspi­rier­te Pra­xis setzt auf loka­le Selbst­ver­wal­tung, Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit und die Ein­bin­dung ver­schie­de­ner Eth­ni­en und Religionsgemeinschaften.

Aller­dings sind die Her­aus­for­de­run­gen enorm: Zum einen besteht die Angst, dass Syri­en durch wei­te­re Auto­no­mie­be­stre­bun­gen in ver­schie­de­ne Ein­fluss­sphä­ren zer­fällt. Dies kann zu Span­nun­gen mit jenen füh­ren, die sich wei­ter­hin ein zen­tra­lis­tisch orga­ni­sier­tes, „ein­heit­li­ches“ Syri­en wün­schen. Zum ande­ren fürch­ten vie­le, dass Roja­va, gera­de wenn inter­na­tio­na­le Mäch­te ihre eige­nen Inter­es­sen ver­fol­gen, iso­liert wird oder sogar unter mili­tä­ri­schen Druck gerät.

Aus einer lin­ken, sozia­lis­ti­schen Per­spek­ti­ve soll­te das Ziel jedoch nicht die Frag­men­tie­rung des Lan­des sein, son­dern eine Föde­ra­ti­on oder Kon­fö­de­ra­ti­on, in der die ver­schie­de­nen Gemein­schaf­ten, Spra­chen und Kon­fes­sio­nen gleich­be­rech­tigt koexis- tie­ren und ihre Rech­te ver­tei­di­gen kön­nen. Das Roja­va-Modell kann dafür ein Vor­bild sein, sofern es gelingt, alle Grup­pen ein­zu­be­zie­hen und so gemein­schaft­li­che Struk­tu­ren zu schaf­fen, statt nur kur­di­sche Inter­es­sen in den Mit­tel­punkt zu stellen.

Zugleich braucht es eine star­ke inter­na­tio­na­le Soli­da­ri­tät. Lin­ke Kräf­te welt­weit soll­ten sich mit dem basis­de­mo­kra­ti­schen Pro­jekt Roja­vas und ande­ren eman­zi­pa­to­ri­schen Bestre­bun­gen in Syri­en soli­da­ri­sie­ren, um der Gefahr von außen­po­li­ti­scher Ein­mi­schung und Spal­tung entgegenzutreten.

Demo in Paris gegen das syrische Folterregime in Syrien, 16. März 2013. (Foto: Photothèque Rouge/JMB.)

Demo in Paris gegen das syri­sche Fol­ter­re­gime in Syri­en, 16. März 2013. (Foto: Pho­to­t­hè­que Rouge/JMB.)

Wie emp­fin­dest Du die Dis­kus­si­on in Deutsch­land, aber auch in Euro­pa, wo die syri­schen Flücht­lin­ge auf­ge­for­dert wer­den, sofort nach Syri­en zurückzukehren?
Ich hal­te es für äußerst pro­ble­ma­tisch, wenn in Deutsch­land und ande­ren euro­päi­schen Staa­ten gefor­dert wird, dass syri­sche Geflüch­te­te umge­hend zurück­keh­ren soll­ten. Sol­che For­de­run­gen igno­rie­ren, wie insta­bil die Lage in Syri­en noch immer ist. Das Land ist durch Krieg und jah­re­lan­ge Dik­ta­tur gezeich­net, und vie­le Men­schen fürch­ten wei­ter­hin Ver­fol­gung, Inhaf­tie­rung oder Repres­si­on. Zumal das Assad-Regime zwar for­mal gestürzt wur­de, die Macht­ver­hält­nis­se aber kei­nes­wegs klar sind und neue Kon­flik­te auf­bre­chen können.

Aus mei­ner Sicht liegt es in der Ver­ant­wor­tung Euro­pas, geflüch­te­ten Men­schen Schutz und Per­spek­ti­ven anzu­bie­ten, gera­de weil euro­päi­sche Mäch­te und ihre Ver­bün­de­ten selbst am Kon­flikt in Syri­en betei­ligt waren oder ihn indi­rekt befeu­ert haben.

Die For­de­rung nach einer schnel­len Rück­kehr blen­det zudem aus, dass die aller­meis­ten Syre­rin­nen und Syrer, die geflo­hen sind, ihre Hei­mat nicht aus frei­en Stü­cken ver­las­sen haben. Sie haben Fami­lie und Freun­de ver­lo­ren, sind oft trau­ma­ti­siert, und ihre Häu­ser oder Dör­fer lie­gen in Trüm­mern. Solan­ge kei­ne ech­te Sicher­heit und ein inklu­si­ver Frie­dens­pro­zess gewähr­leis­tet sind, könn­te der­zeit eine Rück­kehr ihr Leben erneut in Gefahr bringen.

Statt die Geflüch­te­ten zurück­zu­schi­cken, müs­sen wir in Euro­pa soli­da­ri­sche Lösun­gen fin­den, die den Men­schen ein siche­res Leben und eine akti­ve Teil­ha­be ermög­li­chen. Dazu gehö­ren ein umfas­sen­der Schutz­sta­tus, Unter­stüt­zung beim Sprach­er­werb und beim Zugang zum Arbeits­markt sowie ech­te Integrationsangebote.

Auch im Hin­blick auf den Wie­der­auf­bau Syri­ens ist es sinn­voll, dass die­je­ni­gen, die in Euro­pa Schutz gefun­den haben, ihre Kennt­nis­se und Erfah­run­gen frei ein­set­zen kön­nen – mög­li­cher­wei­se zu gege­be­ner Zeit auch beim Neu­auf­bau ihrer Hei­mat, wenn die Umstän­de es wirk­lich erlau­ben und sie sich dazu bereit fühlen.

Letzt­lich soll­te unse­re Hal­tung von der Über­zeu­gung getra­gen sein, dass nie­mand gegen sei­nen Wil­len in ein Kri­sen­ge­biet zurück­ge­schickt wer­den darf – schon gar nicht, solan­ge Fol­ter, Repres­si­on oder poli­ti­sche Ver­fol­gung an der Tages­ord­nung sind.

Eine lin­ke, huma­nis­ti­sche Posi­ti­on ver­weist dar­auf, dass soli­da­ri­sche Auf­nah­me und umfas­sen­de Unter­stüt­zung Geflüch­te­ter Grund­pfei­ler einer Gesell­schaft sein müs­sen, die sich sozia­le Gerech­tig­keit und Men­schen­wür­de auf die Fah­nen geschrie­ben hat.

* [Die Fra­gen stell­te H. S.]

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Febru­ar 2025
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