Tat­ort Betrieb statt Gesundheitsschutz?

Der Durch­bruch bei Als­tom vor 25 Jahren

 

H. N.

Nach der letzt­jäh­ri­gen Kam­pa­gne der Kapi­tal­sei­te gegen zu „hohe Kran­ken­stän­de“ in der Arbeits­welt schrei­tet die Regie­rung Merz/Klingbeil jetzt mit „Büro­kra­tie­ab­bau“ beim Gesund­heits­schutz zur Tat.

Titelseite der Broschüre "Gesundheitsschutz muss erkämpft werden!"

Titel­sei­te der Bro­schü­re “Gesund­heits­schutz muss erkämpft werden!”

Statt sich an gel­ten­de Geset­ze zu hal­ten, wol­len Poli­tik und Kapi­tal „Pro­fit­brem­sen“ besei­ti­gen. Das Mot­to die­ser gesund­heits­po­li­ti­schen Geis­ter­fah­rer scheint zu sein: „Wir spa­ren, kos­te es, was es wolle!“

Ver­bind­li­ches Arbeitsschutzgesetz
Eigent­lich ist alles klar gere­gelt. Die seit 1989 von der Richt­li­nie 89/391/EWG gefor­der­te gesund­heit­li­che Prä­ven­ti­on in der Arbeits­welt ist ver­bind­lich. Das dadurch erzwun­ge­ne Arbeits­schutz­ge­setz (ArbSchG) von 1996 ver­pflich­tet Unter­neh­men, die Gesund­heit der Beschäf­tig­ten sys­te­ma­tisch zu schützen.

Als der Betriebs­rat der dama­li­gen ABB Kraft­wer­ke AG in Mann­heim noch im sel­ben Jahr die Umset­zung des ArbSchG vom Vor­stand der Fir­ma ein­for­der­te, lief er gegen eine Wand. Zwar wur­den Ver­hand­lun­gen über den Abschluss einer Betriebs- ver­ein­ba­rung (BV) begon­nen, aber 1997 brach das Manage­ment die Gesprä­che ab. Die „Begrün­dung“: Der Betriebs­rat habe kei­ne Mitbestimmung.

Die­ser gab jedoch nicht auf, son­dern rief mit akti­ver Unter­stüt­zung der IG Metall im Okto­ber 1997 die Eini­gungs­stel­le nach Betriebs­ver­fas­sungs­ge­setz an. Mit allen erdenk­li­chen Tricks ver­such­te die Fir­men­lei­tung, die den Bei­stand des Kapi­ta­lis­ten- ver­bands Süd­west­me­tall hat­te, den Eini­gungs­pro­zess zu verzögern.

Des­halb folg­te ein drei­jäh­ri­ger Mara­thon­lauf mit zahl­rei­chen Arbeits­ge­richts-, Lan­des­ar­beits­ge­richts- und Eini­gungs­stel­len- ter­mi­nen. Erst am 10. Okto­ber 2000 kam es bei dem mitt­ler­wei­le an Als­tom ver­kauf­ten Unter­neh­men gegen die Stim­men der Kapi­tal­sei­te zu einem Spruch der Eini­gungs­stel­le. Des­sen Grund­la­ge war der sehr gut durch­dach­te und detail­lier­te BV-Ent­wurf des BR (https://soliserv.de/wp-content/up loads/2023/09/Einiungsstelle Bildschirmarbeitsplaetze.pdf).

Sieg für Alstom-Betriebsräte“
Der BR fei­er­te am 19.10.2000 sei­nen Erfolg in einem Info mit der Über­schrift „Unse­re Gesund­heit doch kein blo­ßer Kos­ten­fak­tor!“. Als­tom Power Mann­heim wur­de als ers­tes Unter­neh­men in der BRD zu einer ganz­heit­li­chen Gefähr­dungs­ana­ly­se/-beur­tei­lung (GFA/GFB) aller Arbeits­plät­ze ver­pflich­tet. Medi­en berich­te­ten bun­des­weit über die­ses Ereig­nis: „Sieg für Als­tom Betriebs­rä­te – Betei­li­gung bei Gefähr­dungs­ana­ly­se erstrit­ten“ (MM vom 19.10.2000). Der IGM-Vor­stand schick­te an alle ört­li­chen Ver­wal­tungs­stel­len der Gewerk­schaft den Eini­gungs­stel­len­spruch mit der Auf­for­de­rung, die­sem Bei­spiel nachzufolgen.

Ende 2000/Anfang 2001 begann mit dem Start des 1. drei­jäh­ri­gen Durch­gangs der GFA/GFB die Umset­zung des Spruchs der Eini­gungs­stel­le. Die­se war alles ande­re als ein­fach. Die Kapi­tal­sei­te ver­such­te auch jetzt noch, ihre Blo­cka­de­po­li­tik fort­zu­set­zen. In dem pari­tä­tisch besetz­ten Steue­rungs­gre­mi­um des GFA/GFB-Kreis­lauf­pro­zes­ses – der Gemein­sa­men Kom­mis­si­on GFA – kam es zu hef­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Schließ­lich setz­ten sich die kon­flikt­be­rei­ten und hart­nä­cki­gen Als­tom-BR durch.

Danach konn­te end­lich ein vor­bild­li­ches Sys­tem des vor­beu­gen­den Gesund­heits­schut­zes im Betrieb ent­wi­ckelt werden.

Gesund­heit als höchs­tes Gut
Der Betriebs­rat ver­folg­te drei Ziele:
1. Alle bestehen­den Gesund­heits­ge­fähr­dun­gen zu erken­nen und durch Anwen­dung des STOP-Prin­zips* zu besei­ti­gen oder zumin­dest zu minimieren. 
2. Alle Beschäf­tig­ten für Gesund­heits­ge­fähr­dun­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und für die Betei­li­gung an einem akti­ven Gesund­heits­schutz zu gewinnen.
3. Allen Kolleg:innen eine fort­lau­fen­de Doku­men­ta­ti­on sämt­li­cher Gefähr­dun­gen in ihrem Arbeits­le­ben zur Ver­fü­gung zu stel­len, um die Aner­ken­nung von Berufs­krank­hei­ten erfolg­reich durch­set­zen zu können.

Die Erfol­ge spre­chen für sich. Bis 2014 gelang die Umset­zung von über 5.000 Ein­zel­maß­nah­men im Bereich der phy­si­schen Gefähr­dun­gen. Zum Bei­spiel die Kap­se­lung von Maschi­nen zum Schutz vor Lärm.

Auch im kom­ple­xe­ren Bereich der psy­chi­schen Gefähr­dun­gen gelang es, mit der Umset­zung von über 900 Ein­zel­maß­nah­men spür­ba­re Ver­bes­se­run­gen zu errei­chen. Man­gel­haf­tem Füh­rungs­ver­hal­ten wur­de etwa mit Ände­rung von Auf­ga­ben­ge­bie­ten entgegengewirkt.

Nach dem dubio­sen Ver­kauf von Als­tom Power an den Kon­kur­ren­ten Gene­ral Elec­tric im Novem­ber 2015 begann die­ser, schritt­wei­se das Tra­di­ti­ons­werk platt zu machen. Das war zwar auch das Ende der ein­ma­li­gen GFA/GFB bei Als­tom, aber sie hat bis heu­te Spu­ren in vie­len ande­ren Betrie­ben hinterlassen.

Anmer­kung

* Das STOP-Prin­zip legt die Rang­fol­ge von Schutz­maß­nah­men fest: Sub­sti­tu­ti­on, Tech­ni­sche, Orga­ni­sa­to­ri­sche und Per­sön­li­che Schutzmaßnahmen.


Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Novem­ber 2025
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