Oder: Von Clausewitz lernen, heißt …
Einleitungsreferat unseres Seminar zu „Strategie und Taktik“, das am 23. und 24. April 2016 stattgefunden hat.
H.N.
Drei große Strategen sind bekannt: Sunzi, Thukides und Clausewitz.
Zu Sunzi
Sunzi (geboren um 500 v. u. Z. in Wu) war ein chinesischer General, Militärstratege und Philosoph. Seine Schrift Über die Kriegskunst gilt als frühestes Buch über Strategie. Es ist bis heute eines der bedeutendsten Werke zu diesem Thema.
Sunzi mahnte, dass der Krieg und der Kampf möglichst vermieden werden sollte, da er den Staat und das Volk ruiniere. Aber von ihm ist auch der Satz überliefert: „Wenn Du den Feind und dich selbst kennst, brauchst Du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten.“
Sunzi nennt sechs Faktoren des militärischen Erfolgs:
1. Die Gute Sache. Jeder Anführer müsse für eine gute Sache in den Krieg ziehen, sonst seien die Truppen nicht optimal motiviert.
2. Die Führung. Sie müsse weise, mutig, streng und wohlwollend sein.
3. Die Umweltbedingungen. Sie müsse man kennen.
4. Das Terrain. Dies müsse man studieren.
5. Die Organisation und die Disziplin. Sie müssten unter allen Umständen gewahrt werden.
6. Die Spionage. Sie müsse in unterschiedlicher Form betrieben werden.
Zu Thukydides
Von allen „großen Büchern” der „westlichen” Kultur behandeln nur zwei die grundlegenden Probleme des Krieges und der Kriegsführung (der Strategie). Das eine stammt von dem Athener Schriftsteller Thukydides. Es heißt Der Peloponnesische Krieg und ist ca. 400 v.u.Z. verfasst worden.
Carl von Clausewitz
Das andere Werk trägt den Titel Vom Kriege (1832 - 1834). Es stammt von Carl von Clausewitz (1780 - 1831). Er wollte damit nicht bloß „aktuell“ sein, sondern die zu allen Zeiten gleichbleibenden Elemente des Krieges aufzeigen.
Clausewitz gilt als der Schöpfer der modernen Theorie des Krieges - der Lehre von Strategie und Taktik. Clausewitz war aber kein Kriegsverherrlicher, wie erst kürzlich in der Frankfurter Rundschau zu lesen war.
Der Krieg ist für Clausewitz kein isolierter Akt, sondern geht stets aus der Politik hervor. Er ist „eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel“. Oder moderner ausgedrückt: „Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“.
Das Werk Vom Kriege entstand aus der engen Verbindung von praktischer Erfahrung und geistiger Arbeit und zudem durch die kritische Auswertung historischer Beispiele sowie die zweckvolle Anwendung der philosophischen Dialektik.
Clausewitz beleuchtet sowohl das Allgemeine wie das Besondere des Krieges. Er berücksichtigt dabei die jeweilige („historisch“ bedingte) Individualität und die Unwägbarkeiten des wirklichen Lebens.
Die Wirkung seiner Theorien
Clausewitz’ Theorien waren und sind von Interesse für Militärstrategen, „WirtschaftsführerInnen“ und für WissenschaftlerInnen (insbesondere HistorikerInnen) – obwohl Clausewitz sich über den Begriff einer „Wissenschaft vom Kriege“ amüsierte.
Vor allem aber sind sie es für alle, die die Welt verändern wollen.
Zum Beispiel für Karl Marx und Friedrich Engels, die sich 1857/58 mit seinen Schriften beschäftigten. Oder für Wladimir I. Lenin, Leo D. Trotzki oder Mao Tse-tung, die sich alle mit seinem Werk Vom Kriege auseinandersetzten.
Lenins auch heute noch aufschlußreiche Notizen (samt Randbemerkungen) aus dem Werk Vom Kriege sind in einem besonderen Heft („Tetradka“) erhalten. Es ist das revolutionäre Clausewitz-Brevier der damaligen Zeit.
Lenin stellte als erster die so bedeutsame politische Seite des Werkes von Clausewitz heraus. Er war damit der damaligen Clausewitz-Interpretation um Jahrzehnte voraus.
1917 meinte er, dass die „grundlegenden Gedanken“ von Clausewitz „in unserer gegenwärtigen Zeit zum unbedingten Besitz jedes denkenden Menschen“ werden sollten.
Lenin empfahl deshalb auch den Kommandanten der Roten Armee das Studium des Buches Vom Kriege.
Hingegen äußerte sich ein gewisser Josef W. Stalin 1946 abfällig über Clausewitz. Er sah ihn nicht nur in einer Linie mit „Moltke, Schlieffen, Ludendorff, Keitel und … [den] anderen Träger[n] der militärischen Ideologie in Deutschland.“ Er verstieg sich sogar zu der Behauptung: „Was insbesondere Clausewitz betrifft, so ist er als Autorität auf dem Gebiete der Kriegstheorie natürlich veraltet. … Es wäre lächerlich heute bei Clausewitz in die Schule zu gehen.“
Der Aufbau seines Hauptwerkes
Der Aufbau und die Gliederung des Werkes Vom Kriege scheinen auf den ersten Blick klar und logisch zu sein. LeserInnen dieser Schrift merken aber bald, dass dies nicht der Fall ist.
Vom Kriege besteht aus 128 Kapiteln und Abschnitten, die in acht Büchern zusammengefasst sind.
Das Erste Buch
Das Erste Buch, „Über die Natur des Krieges“, beschreibt dessen Charakteristika in der sozialen und politischen Welt.
Es arbeitet die Elemente heraus, die den Krieg immer kennzeichnen:
Gefahr, Ungewissheit sowie körperliche und geistige Anstrengungen der an ihm Beteiligten.
Ferner analysiert es die Behinderungen, die von den Kriegführenden überwunden werden müssen, um dem Gegner ihren Willen und ihre Absichten aufzwingen zu können. Clausewitz hat diese Elemente unter dem Begriff der „Friktionen“ zusammengefasst.
Als Clausewitz vor seiner Versetzung nach Schlesien das Manuskript von Vom Kriege versiegelte und seiner Frau Marie übergab, hielt er nur dieses Buch für vollständig abgeschlossen.
In einer Notiz bemerkte er, dass das Manuskript nichts anderes sei als eine Materialsammlung für eine Kriegstheorie. Nur das erste Kapitel des Ersten Buches mit seiner Darstellung der Kriegstheorie sei als der wahre Leitfaden zu seinen endgültigen Gedanken aufzufassen.
Das Zweite Buch
Das Zweite Buch „Über die Theorie des Krieges“ stellt die Möglichkeiten und Grenzen der Theorien von „Kriegskunst“ und „Kriegswissenschaften“ dar.
In ihm hat Clausewitz einen wichtigen Grundstein der preußisch-deutschen Militärstrategie gelegt, die übrigens bis heute in der Bundeswehr weiterwirkt.
Für Clausewitz war Truppenführung im Krieg eine freie Tätigkeit, für die keine Reglementierung oder Rezepte vorgegeben und in Dienstvorschriften festgelegt werden können.
Das Dritte Buch
Das Dritte Buch „Von der Strategie überhaupt“ untersucht die Elemente der Strategie, die Bedeutung des Zusammenhangs von Kräften, Zeit und Raum.
Es analysiert zudem die psychologischen Faktoren und Eigenschaften, die auf Truppenführer einwirken und sie prägen.
Dazu gehören Emotionen, intellektuelle sowie praktische Fähigkeiten im Einsatz wie Kühnheit und List sowie die Ökonomie der Kräfte. Clausewitz nennt diese „die moralischen Größen“.
Das Vierte Buch
Das Vierte Buch „Das Gefecht“ untersucht die wesentlichen Merkmale der militärischen Tätigkeit in Schlacht und Gefecht sowie die Faktoren, die zu Erfolg und Misserfolg beitragen können.
Weitere Bücher
Das Fünfte Buch „Die Streitkräfte“, das Sechste Buch „Verteidigung“ und das Siebte Buch „Angriff“ enthalten die früheren Darlegungen verbindende sowie vertiefende Darstellungen.
Von Bedeutung ist, dass Clausewitz „die verteidigende Form des Krieges“ auf der strategischen Ebene, also die strategische Defensive, für stärker hielt als „die angreifende“, d.h. den strategischen Angriff.
Die strategische Defensive – sie wird heute als militärstrategische Gegenkonzentration bezeichnet – gilt als offizielle Militärstrategie der heutigen NATO.
Das Achte Buch
Das Achte Buch „Kriegsplan“ greift die wichtigsten Aussagen des Ersten Buches auf.
Es unterscheidet zunächst den „absoluten“ oder „abstrakten“ Krieg vom „wirklichen Krieg“.
Es untersucht danach anhand zahlreicher historischer Beispiele den Charakter und den Rang von Kriegen als Instrument der Politik.
Es analysiert ferner die nicht voneinander trennbare Verflechtung der Strategie eines Landes und seiner Streitkräfte sowie deren Unterordnung unter die Politik.
Clausewitz arbeitet heraus, welche Aufgaben Politiker und Soldaten im Krieg haben. Er integriert diese in das Geflecht der jeweiligen sozialen und politischen Gegebenheiten sowie der Wirkungskräfte eines kriegführenden Staates.
Seine Gedanken zu diesem Verhältnis scheinen heute besonders aktuell zu sein.
Neben dem Ersten Buch kann auch das Achte Buch als weitgehend abgeschlossen betrachtet werden.
Die Methodik seines Vorgehens
Clausewitz stellt einen Gedanken in der Regel zunächst aus einem Blickwinkel dar. Kapitel später variiert er diese erste Darstellung in vertiefter Form, erweitert sie und gibt ihr häufig durch Verbindung mit anderen Beobachtungen und Erkenntnissen eine neue Dimension.
Einer These folgt die Antithese. Schließlich werden die Kennzeichen der von ihm dargestellten Phänomene des Krieges und seiner Führung in eine Endfassung gebracht, indem er sie dialektisch zusammenführt.
LeserInnen finden oft verwirrend, dass die Unterteilung von Vom Kriege in acht Bücher und viele Kapitel scheinbar keinen roten Faden zum schrittweisen Verstehen seines Inhalts anbieten.
Vom Kriege ist in Wirklichkeit eine Ansammlung von Themen und Betrachtungen, die das ganze Werk in komplexen Argumentationsketten mit dem Ziel verbinden, das Wesen des Krieges und der Kriegsführung herauszuarbeiten.
Die „Wunderliche Dreifaltigkeit“
Das „Chamäleon“ des abstrakten Krieges, wie es Clausewitz genannt hat, ist für ihn in Beziehung auf die im Krieg herrschenden Wirkungskräfte eine „wunderliche Dreifaltigkeit“.
Clausewitz hat der Bevölkerung eines Landes, seinem Militär und seinen Politikern jeweils ein hauptsächliches Wirkungsfeld zugeordnet.
Diese wunderliche Dreifaltigkeit besteht also:
Erstens aus der „ursprünglichen Gewaltsamkeit seines Elements“ wie Hass und Feindschaft des Volkes.
Zweitens „aus dem Spiel der Wahrscheinlichkeit und des Zufalls“, die den Krieg zu einer „freien Seelentätigkeit“ machen und der Sphäre des ihn führenden Soldaten zuweist.
Und drittens aus „der untergeordneten Natur des politischen Werkzeugs des Militärs “, d.h. dem Primat der Politik, wodurch dieses zur politischen Ebene gehört.
Die „wunderliche Dreifaltigkeit“ jedes Krieges charakterisiert jeden seiner Akte und Phasen, von seiner Vorbereitung über seine Führung bis zum Friedensschluss.
Drei Abhängigkeiten
Clausewitz zufolge steht das strategische Ziel eines Krieges in drei Abhängigkeitsverhältnissen:
1. vom politischen Zweck
2. von der Sicherheitspolitik des wirklichen oder potenziellen Gegners und
3. von den eigenen und den gegnerischen strategischen Ressourcen.
Mittel und Zweck
In Clausewitz‘ Werk spielt das miteinander verflochtene Begriffspaar von Mittel und Zweck eine zentrale Rolle.
Es durchzieht alle Handlungsebenen - sowohl die politischen, wirtschaftlichen, geistigen und militärischen eines Landes als auch die seiner Gegner.
Im „wirklichen Krieg“ sind diese Elemente auf unterschiedliche Weise ausgeprägt. Sie kommen unterschiedlich zur Wirkung. Sie beeinflussen sich gegenseitig und gehören immer zusammen.
Das verändert aber nicht die Grundsätze und wesentlichen Zuordnungen des „Chamäleons Krieg“, die Clausewitz vorgenommen hat.
Clausewitz schreibt im Zweiten Buch zu „Zwecke und Mittel der Strategie“: „Die Strategie hat ursprünglich nur den Sieg, d.h. den taktischen Erfolg, als Mittel und, in letzter Instanz, die Gegenstände, welche unmittelbar zum Frieden führen sollen, als Zweck. Die Anwendung ihres Mittels zu diesen Zwecken ist gleichfalls von Umständen begleitet, die mehr oder weniger Einfluss darauf haben.“
Auch an anderen Stellen beschreibt er den Frieden als Zweck von Kriegen.
Ein Fazit
Mehr als 180 Jahre nach seinem Enstehen bleibt Clauswitz’ Werk wohl der umfassendste und scharfsinnigste Beitrag zu strategischem Denken überhaupt.
Es ist seit dem verloreren Vietnam-Krieg als Ganzes oder in Teilen Pflichtlektüre in den US-Militärschulen für das mittlere und obere Offizierskorps.
Clausewitz’ Schrift wird außerdem für zahlreiche zivile strategische Studienprogramme benutzt und in wachsendem Maße an Management-Schulen gelesen.
Vom Kriege ist als ehrgeizige neue Kurzfassung für Konzernstrategen ursprünglich in den USA veröffentlicht worden und mittlerweile in Deutsch, Italienisch, Koreanisch, Japanisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch und Türkisch übersetzt worden.
Jack Welch, der berühmt-berüchtigte frühere Vorstandsvorsitzende von General Electric, war von Clausewitz fasziniert.
Eine grundlegende Bedeutung von Clausewitz’ Herangehensweise an die Theorie der Strategie besteht in seinem „Realismus”.
Realistisch heißt in diesem Zusammenhang die Wahrnehmung der Komplexität und Ungewißheit von Entwicklungen in der Wirklichkeit. Dabei werden sowohl die Schwächen menschlichen Verhaltens als auch die Vielschichtigkeit von physischen und psychischen Faktoren berücksichtigt.
Eine besonders große Anziehungskraft von Clausewitz für modernes strategisches Denken besteht darin, dass er kein Programm vorgab oder konkrete Lösungen vorschrieb.
Er verstand vielmehr, dass seine LeserInnen mit einer Welt konfrontiert werden würden, die auf unvorhersehbare Weise anders ist, als seine eigene. Er wollte ihnen helfen, ihr eigenes strategisches Urteilsvermögen zu entwickeln, um besser mit den sich verändernden Bedingungen umgehen zu können.
Um allerdings Clausewitz’ Denken verstehen zu können, ist es erforderlich, sein Buch Vom Kriege - und nicht nur Zusammenfassungen - zu lesen. Das hängt nicht zuletzt mit Clausewitz’ dialektischer Methode zusammen. Sie ist mindestens ebenso bedeutend wie die Vielzahl seiner konkreten Einsichten zu Strategie und Taktik.
Ein entscheidender Wert seines Werkes liegt zudem in dem analytischen Ringen mit dem grundlegenden Problem des Krieges. Denn es gilt auch heute noch, was Trotzki einmal so elegant fomuliert hat: „Du magst Dich vielleicht nicht für den Krieg interessieren, aber der Krieg interessiert sich für Dich.”
Quellen
http://clausewitz.com/
http://www.deutsche-biographie.de/pnd11852111X.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Kunst_des Krieges
Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Frankfurt am Main 1993.
Christian E. O. Milotat, Generalmajor Carl von Clausewitz – Erben und Einfluss heute, Annäherung an Clausewitz; in: Clausewitz-Gesellschaft e.V., Jahrbuch 2010.
J. Stalin, Antwortschreiben an Professor Dr. Rasin auf einen Brief vom 30. Januar [1946]; in: J. W. Stalin, Werke, Bd. 15, Dortmund 1979, S. 54 ff.