Am Ran­de des Abgrunds

Das Sze­na­rio, das der Welt­kli­ma­rat nicht model­liert hat*

Dani­el Tanuro

Der Welt­kli­ma­rat (Inter­go­vern­men­tal Panel on Cli­ma­te Chan­ge, IPCC) hat sei­nen Bericht über die phy­si­ka­li­schen Grund­la­gen als Bei­trag zum sechs­ten Sach­stands­be­richt über den Kli­ma­wan­del vor­ge­legt, der Anfang 2022 erschei­nen soll. Der Bericht und sei­ne Zusam­men­fas­sung sind in dem prä­zi­sen Stil und dem Wort­schatz wis­sen­schaft­li­cher Ver­öf­fent­li­chun­gen gehal­ten, die „objek­ti­ve“ Aus­sa­gen machen. Aber noch nie hat ein Bericht von Expert*innen für die glo­ba­le Erwär­mung einen sol­chen Ein­druck von den Ängs­ten ver­mit­telt, die durch die Abwä­gung der Fak­ten im Lich­te der unum­stöß­li­chen Geset­ze der Phy­sik entstehen.

FFF-Demo in Aachen, 21. Juni 2019. (Foto: Avanti²)

FFF-Demo in Aachen, 21. Juni 2019. (Foto: Avanti²)

Beängs­ti­gen­de Aussichten …
Die Angst rührt zuerst ein­mal aus dem Kon­text: Die schreck­li­chen Über­schwem­mun­gen und Brän­de, die Ver­wüs­tung, Tod und Schre­cken an sämt­li­chen Ecken und Enden des Pla­ne­ten ver­brei­ten, sind genau das, wovor der IPCC seit über drei­ßig Jah­ren warnt und woge­gen die Regie­run­gen nichts oder so gut wie nichts unter­nom­men haben. Es liegt auch an der enor­men Fest­stel­lung in dem Bericht: Die Mensch­heit wäre selbst dann noch mit schreck­li­chen Aus­sich­ten kon­fron­tiert, wenn die COP26 im Novem­ber in Glas­gow das radi­kals­te der von den Klimawissenschaftler*innen unter­such­ten Sze­na­ri­en zur Sta­bi­li­sie­rung des Kli­mas beschlie­ßen soll­te, d. h. das Sze­na­rio, das die schnells­te Redu­zie­rung der CO₂-Emis­sio­nen gewähr­leis­tet und die glo­ba­len Net­to­emis­sio­nen bis spä­tes­tens 2060 auf­hebt (und gleich­zei­tig die Emis­sio­nen ande­rer Treib­haus­ga­se reduziert).

Zusam­men­ge­fasst:
• Das in Paris fest­ge­leg­te Ziel wird über­schrit­ten wer­den. Die glo­ba­le durch­schnitt­li­che Ober­flä­chen­tem­pe­ra­tur steigt zwi- schen 2041 und 2060 wahr­schein­lich um 1,6 °C (+/- 0,4) (im Ver­gleich zum vor­in­dus­tri­el­len Zeit­al­ter) und sinkt dann zwi- schen 2081 und 2100 auf 1,4 °C (+/- 0,4).

• Ach­tung – es han­delt sich nur um Durch­schnitts­wer­te: Es ist prak­tisch sicher, dass die Tem­pe­ra­tur an Land schnel­ler anstei­gen wird als auf der Mee­res­ober­flä­che (wahr­schein lich 1,4 bis 1,7 mal schnel­ler). Es ist eben­falls so gut wie si cher, dass sich die Ark­tis wei­ter­hin schnel­ler erwär­men wird als der glo­ba­le Durch­schnitt (höchst­wahr­schein­lich mehr als dop­pelt so schnell).

• In eini­gen Regio­nen der mitt­le­ren Brei­ten und in semia­ri den [über­wie­gend tro­cke­nen] Gebie­ten sowie in der Mon sun­re­gi­on in Süd­ame­ri­ka wird der Tem­pe­ra­tur­an­stieg an den hei­ßes­ten Tagen am aus­ge­präg­tes­ten sein (andert­halb bis dop­pelt so hoch wie der glo­ba­le Durch­schnitt), wäh­rend die Ark­tis an den käl­tes­ten Tagen den höchs­ten Tem­pe­ra­tur anstieg ver­zeich­nen wird (drei­mal so hoch wie der glo­ba­le Durchschnitt).

• An Land wer­den Hit­ze­wel­len, die bis­her alle zehn Jah­re ein­mal auf­tra­ten, künf­tig vier­mal in zehn Jah­ren auf­tre­ten, und sol­che, die bis­her nur ein­mal in fünf­zig Jah­ren auf­tra ten, wer­den im glei­chen Zeit­raum fast neun­mal auftreten.

FFF-Demo am 20. September 2020 in Mannheim. (Foto: Avanti²)

FFF-Demo am 20. Sep­tem­ber 2020 in Mann­heim. (Foto: Avanti²)

• Es ist sehr wahr­schein­lich, dass eine zusätz­li­che Erwär­mung (im Ver­gleich zu den der­zei­ti­gen 1,1 °C) extre­me Nie­der schlags­er­eig­nis­se ver­stär­ken und ihre Häu­fig­keit zuneh­men wird (welt­weit 7 % mehr Nie­der­schlag bei 1 °C Erwär­mung). Die Häu­fig­keit und Stär­ke inten­si­ver tro­pi­scher Wir­bel­stür­me (Kate­go­rien 4 bis 5) wird eben­falls anstei­gen. In den meis­ten Tei­len Afri­kas und Asi­ens, Nord­ame­ri­kas und Euro­pas wird mit einer Inten­si­vie­rung und Häu­fung von Stark­nie­der­schlä­gen und damit ver­bun­de­nen Über­schwem­mun­gen gerech­net. Auch land­wirt­schaft­li­che und öko­lo­gi­sche Dür­ren wer­den in eini­gen Gebie­ten auf allen Kon­ti­nen­ten außer Asi­en im Ver­gleich zum Zeit­raum 1850 bis 1900 schwe­rer und häu­fi­ger auftreten.

• Es ver­steht sich von selbst, dass die­se zusätz­li­che glo­ba­le Erwär- mung (von 0,5 °C +/- 0,4 im Ver­gleich zu heu­te) das Schmel zen des Per­ma­frosts und damit die Frei­set­zung von Methan wei­ter ver­stär­ken wird. Die­se zusätz­li­che Rück­kopp­lung durch die glo­ba­le Erwär­mung ist in den Model­len nicht voll­stän­dig berück­sich­tigt (die trotz ihrer zuneh­men­den Kom­ple­xi­tät die Rea­li­tät wei­ter­hin unterschätzen).

• Die Erwär­mung der Ozea­ne im ver­blei­ben­den Teil des 21. Jahr­hun­derts wird wahr­schein­lich zwei– bis vier­mal stär­ker sein als zwi­schen 1971 und 2018. Die Tem­pe­ra­tur­schich­tung, die Ver­saue­rung und der Sau­er­stoff­man­gel der Ozea­ne wer­den wei­ter zuneh­men. Alle drei Phä­no­me­ne haben nega­ti­ve Fol­gen für das Mee­res­le­ben. Es wird Jahr­tau­sen­de dau­ern, sie wie­der rück­gän­gig zu machen.

• Es ist nahe­zu sicher, dass die Glet­scher in den Gebir­gen und in Grön­land noch jahr­zehn­te­lang wei­ter abschmel­zen wer­den, und es ist wahr­schein­lich, dass auch die Ant­ark­tis wei­ter ab schmel­zen wird.

• Es ist auch so gut wie sicher, dass der Mee­res­spie­gel im 21. Jahr hun­dert im Ver­gleich zu dem Zeit­raum 1995 bis 2014 um 0,28 bis 0,55 Meter anstei­gen wird. In den nächs­ten 2000 Jah­ren wird er wahr­schein­lich um zwei bis drei Meter wei­ter anstei­gen, und danach wird die Ent­wick­lung wei­ter­ge­hen. Infol­ge­des­sen wer­den an der Hälf­te der Orte, an denen es Ebbe und Flut gibt, außer­ge­wöhn­li­che Gezei­ten­er­eig­nis­se, die in der jüngs­ten Ver gan­gen­heit ein­mal pro Jahr­hun­dert beob­ach­tet wur­den, min des­tens ein­mal pro Jahr auf­tre­ten, dadurch nimmt die Häu­fig- keit von Über­schwem­mun­gen in nied­rig gele­ge­nen Gebie­ten zu.

• Selbst wenn die Erwär­mung inner­halb des zu erwar­ten­den Be reichs des radi­ka­len Sze­na­ri­os bleibt (+ 1,6 °C +/- 0,4), könn­ten bestimm­te Ereig­nis­se glo­bal und lokal mit gerin­ger Wahr- schein­lich­keit, aber sehr star­ken Aus­wir­kun­gen auf­tre­ten. Selbst bei die­sem 1,5 °C-Sze­na­rio sind abrup­te Reak­tio­nen und Kipp punk­te – wie eine ver­stärk­te Schmel­ze in der Ant­ark­tis und das Abster­ben von Wäl­dern – nicht auszuschließen.

• Ein sol­ches wenig wahr­schein­li­ches, aber mög­li­ches Ereig­nis ist der Zusam­men­bruch der Nord­at­lan­tik­drift, die auch als AMOC bezeich­net wird (Atlan­tic Meri­dio­nal Over­tur­ning Cir­cu­la­ti­on, Nord­at­lan­ti­sche Umwälz­be­we­gung). Eine Abschwä­chung im 21. Jahr­hun­dert ist sehr wahr­schein­lich, aber das Aus­maß des Phä- nomens ist ein Rät­sel. Ein Zusam­men­bruch wür­de höchst­wahr- schein­lich zu abrup­ten Ver­schie­bun­gen in den regio­na­len Wet ter­mus­tern und im Was­ser­kreis­lauf füh­ren, z. B. zu einer Ver­la gerung des tro­pi­schen Regen­gür­tels nach Süden, einer Ab- schwä­chung der Mon­sune in Afri­ka und Asi­en, einer Ver­stär kung der Mon­sune auf der Süd­halb­ku­gel und einer Aust­rock nung Europas.

… im bes­ten Fall?
Die­ser Bericht zwingt uns, der Rea­li­tät ins Auge zu sehen: Wir ste­hen buch­stäb­lich am Ran­de des Abgrunds. Dies gilt umso mehr, als – wir wie­der­ho­len und beto­nen es – 1. die Pro­gno­sen für den Anstieg des Mee­res­spie­gels die Phä­no­me­ne des Zer­falls der Eis­kap­pen nicht berück­sich­ti­gen, die nicht line­ar ver­lau­fen und daher nicht model­liert wer­den kön­nen und die das Poten­zi­al haben, die Kata­stro­phe sehr schnell in einen ver­hee­ren­den Domi­no­ef­fekt zu ver­wan­deln; 2. all dies nach Ansicht des IPCC ein­tre­ten wird, selbst wenn die Regie­run­gen der Welt beschlie­ßen, das radi­kals­te Sze­na­rio der von den Wissenschaftler*innen unter­such­ten Sze­na­ri­en zur Emis­si­ons­re­du­zie­rung umzu­set­zen, näm­lich das­je­ni­ge, das dar­auf abzielt, die 1,5 °C nicht (zu weit) zu überschreiten.

Die Aus­wir­kun­gen der ande­ren Sze­na­ri­en im Ein­zel­nen dar­zu­stel­len, wür­de die­sen Text unnö­tig in die Län­ge zie­hen. Nur ein Hin­weis zum Mee­res­spie­gel: Beim Sze­na­rio des „Busi­ness as usu­al“ ist ein Anstieg von zwei Metern im Jahr 2100 und fünf Metern im Jahr 2150 „nicht aus­ge­schlos­sen“. Und lang­fris­tig, über zwei­tau­send Jah­re, wür­den die Mee­re bei einer Erwär­mung von 5 °C unwei­ger­lich und (auf der mensch­li­chen Zeit­ska­la) unum­kehr­bar um … 19 bis 22 Meter steigen!

Es sei wie­der­holt: Die Umset­zung des radi­kals­ten Sze­na­ri­os, das ihnen vor­ge­schla­gen wird, ist nicht das, was die Regie­run­gen betrei­ben. Ihre Kli­ma­plä­ne (die „Natio­nal­ly Deter­mi­ned Con­tri­bu­ti­ons“, NDCs, die „natio­nal fest­ge­leg­ten Bei­trä­ge“) füh­ren uns der­zeit in Rich­tung einer Erwär­mung von 3,5 °C. Weni­ger als hun­dert Tage vor der COP26 haben nur weni­ge Län­der ihre Ziel­vor­ga­ben erhöht, aber nicht annä­hernd auf das erfor­der­li­che Niveau der Emis­si­ons­re­du­zie­rung. Die EU zum Bei­spiel, der „Kli­ma-Cham­pi­on“, hat sich das Ziel gesetzt, die Emis­sio­nen bis 2030 um 55 % zu redu­zie­ren, obwohl 65 % erfor­der­lich sind.

Mathe­ma­tik und poli­ti­sche Schlussfolgerungen
Gre­ta Thun­berg hat ein­mal gesagt: „Die Kli­ma- und Umwelt­kri­se kann mit dem der­zei­ti­gen poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Sys­tem ein­fach nicht gelöst wer­den. Das ist kei­ne Mei­nung, son­dern ein­fach eine Fra­ge der Mathe­ma­tik.“ Damit hat sie abso­lut Recht.

FFF-Demo in Mannheim, 15. März 2019. (Foto: Avanti²)

FFF-Demo in Mann­heim, 15. März 2019. (Foto: Avanti²)

Man muss nur die Zah­len anein­an­der­rei­hen, um das zu erkennen:
• Die Welt stößt jähr­lich etwa 40 Giga­ton­nen (Gt) CO₂ aus.

• Das „Car­bon Bud­get“ (Koh­len­stoff­bud­get oder Emis­si­ons bud­get – die Gesamt­men­ge an CO₂, die welt­weit noch emit tiert wer­den kann, ohne dass 1,5 °C über­schrit­ten wer­den) beträgt nur 500 Gt (bei einer Erfolgs­wahr­schein­lich­keit von 50 % – bei 83 % sind es 300 Gt).

• Laut dem 1,5 °C-Son­der­be­richt des IPCC erfor­dert das Errei chen von Net­to-Null-Emis­sio­nen von CO₂ im Jahr 2050 eine Ver­rin­ge­rung der welt­wei­ten Emis­sio­nen um 59 % vor 2030 (ange­sichts ihrer his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung in den ent­wi­ckel ten kapi­ta­lis­ti­schen Län­dern um 65 %).

• 80 % die­ser Emis­sio­nen sind auf die Ver­bren­nung fos­si­ler Brenn­stof­fe zurück­zu­füh­ren, die trotz des poli­ti­schen und media­len Hypes um den Durch­bruch der erneu­er­ba­ren Ener­gien im Jahr 2019 immer noch … 84 % (!) des Ener­gie bedarfs der Mensch­heit decken.

• Bei den fos­si­len Infra­struk­tu­ren (Berg­wer­ke, Pipe­lines, Raf­fi­ne rien, Gas­ter­mi­nals, Kraft­wer­ke usw.), deren Bau sich nicht oder kaum ver­lang­samt, han­delt es sich um Groß­an­la­gen, in die et wa 40 Jah­re lang Kapi­tal inves­tiert wird; ihr ultra­zen­tra­li­sier­tes Netz kann nicht an die erneu­er­ba­ren Ener­gien ange­passt wer den (die­se erfor­dern ein ande­res, dezen­tra­les Ener­gie­sys­tem): Es muss zer­stört wer­den, bevor die Kapi­ta­lis­ten ihre Inves­ti­tio nen zurück­ge­win­nen kön­nen, und die Koh­le-, Erd­öl- und Erd gas­re­ser­ven müs­sen in der Erde bleiben.

Wenn man also weiß, dass drei Mil­li­ar­den Men­schen das Nötigs­te fehlt und dass die reichs­ten 10 % der Bevöl­ke­rung mehr als 50 % des welt­wei­ten CO₂-Aus­sto­ßes ver­ur­sa­chen, ist die Schluss­fol­ge­rung unaus­weich­lich: Die Ände­rung des Ener­gie­sys­tems, um unter 1,5 °C zu blei­ben und gleich­zei­tig mehr Ener­gie für die Befrie­di­gung der legi­ti­men Rech­te der Armen auf­zu­wen­den, ist mit der Fort­set­zung der kapi­ta­lis­ti­schen Akku­mu­la­ti­on, die öko­lo­gi­sche Zer­stö­rung und wach­sen­de sozia­le Ungleich­hei­ten her­vor­bringt, abso­lut unvereinbar.

Die Kata­stro­phe kann nur durch eine dop­pel­te Bewe­gung auf­ge­hal­ten wer­den, die dar­in besteht, die glo­ba­le Pro­duk­ti­on zu redu­zie­ren und sie radi­kal neu aus­zu­rich­ten, um die wirk­li­chen mensch­li­chen Bedürf­nis­se zu befrie­di­gen, näm­lich die der Mehr­heit, die demo­kra­tisch bestimmt wer­den. Die­se dop­pel­te Bewe­gung beinhal­tet not­wen­di­ger­wei­se die Abschaf­fung der nutz­lo­sen oder schäd­li­chen Pro­duk­ti­on und die Ent­eig­nung der kapi­ta­lis­ti­schen Mono­po­le – vor allem im Ener­gie-, Finanz- und Agrar­sek­tor. Sie erfor­dert auch eine dras­ti­sche Ein­schrän­kung des ver­schwen­de­ri­schen Kon­sums der Rei­chen. Mit ande­ren Wor­ten, die Alter­na­ti­ve ist dra­ma­tisch ein­fach: Ent­we­der wird die Mensch­heit den Kapi­ta­lis­mus liqui­die­ren, oder der Kapi­ta­lis­mus wird Mil­lio­nen unschul­di­ger Men­schen liqui­die­ren, um sei­nen bar­ba­ri­schen Kurs auf einem geschun­de­nen und viel­leicht unbe­wohn­ba­ren Pla­ne­ten fortzusetzen.

Trü­gen­de „Nega­ti­ve-Emis­sio­nen-Tech­no­lo­gien”
Es ver­steht sich von selbst, dass die Her­ren der Welt kei­ne Lust haben, den Kapi­ta­lis­mus zu liqui­die­ren … Was wer­den sie also tun? Las­sen wir die Kli­ma­leug­ner wie Trump bei­sei­te, die­se Adep­ten von Mal­thus, die auf einen fos­si­len Neo­fa­schis­mus, einen Absturz in die pla­ne­ta­ri­sche Bar­ba­rei auf dem Rücken der Armen set­zen. Las­sen wir auch die Musks und Bezos bei­sei­te, jene obs­zö­nen Mil­li­ar­dä­re, die davon träu­men, das Raum­schiff Erde zu ver­las­sen, das von ihrer para­si­tä­ren kapi­ta­lis­ti­schen Gier unbe­wohn­bar gemacht wur­de. Kon­zen­trie­ren wir uns auf die ande­ren, auf die geris­se­ne­ren, auf die Macron, Biden, von der Ley­en, John­son, Xi Jiping … – die sich wie Räu­ber dar­um strei­ten wer­den, dass das Glas­gow-Abkom­men ihnen Vor­tei­le gegen­über ihren Kon­kur­ren­ten bie­ten wird, die aber vor den Medi­en zusam­men­hal­ten wer­den, um uns ein­zu­re­den, es sei „alles unter Kontrolle“.

Was schla­gen die­se Her­ren und Damen vor, um der oben genann­ten Alter­na­ti­ve zu ent­rin­nen? In ers­ter Linie wol­len sie natür­lich, den Verbraucher*innen ein schlech­tes Gewis­sen ein- reden, sie wer­den unter Andro­hung von Sank­tio­nen auf­ge­for­dert, „ihr Ver­hal­ten zu ändern“. Dann kommt eine Rei­he von Tricks, von denen eini­ge gera­de­zu plump sind (z. B. die Nicht­be­rück­sich­ti­gung der Emis­sio­nen des inter­na­tio­na­len Luft- und See­ver­kehrs) und ande­re, die sub­ti­ler, aber nicht effek­ti­ver sind (z. B. die Behaup­tung, das Pflan­zen von Bäu­men – im glo­ba­len Süden – wer­de es mög­lich machen, genug Koh­len­stoff zu absor­bie­ren, um die fos­si­len CO₂-Emis­sio­nen des Nor­dens nach­hal­tig zu kom­pen­sie­ren). Aber über die­se Tricks hin­aus glau­ben all die­se poli­ti­schen Mana­ger des Kapi­tals nun fel­sen­fest (oder sie tun so als ob) an einen Wun­der­weg: die Erhö­hung des Anteils der „koh­len­stoff­ar­men Tech­no­lo­gien“ (Code­na­me für Atom­kraft, ins­be­son­de­re „Mikro­kraft­wer­ke“) und vor allem den Ein­satz der so genann­ten NETs („nega­ti­ve-emis­si­on tech­no­lo­gies“, „Nega­ti­ve-Emis­sio­nen-Tech­no­lo­gien“) oder CDRs (Car­bon Dioxi­de Rem­oval, Koh­len­di­oxid­ent­nah­me), die das Kli­ma abküh­len sol­len, indem sie der Atmo­sphä­re gro­ße Men­gen CO₂ ent­zie­hen, um es im Unter­grund zu spei­chern. Dies ist die „vor­über­ge­hen­de Über­schrei­tung der Gefah­ren­schwel­le“ („tem­po­ra­ry over­shoot of the dan­ger thres­hold“) von 1,5 °C.

Nach Fuku­shi­ma braucht man sich nicht mehr mit der Kern­kraft zu befas­sen. Die „Nega­ti­ve-Emis­sio­nen-Tech­no­lo­gien“ befin­den sich zumeist erst im Pro­to­typ- oder Demons­tra­ti­ons­sta­di- um, und ihre sozia­len und öko­lo­gi­schen Aus­wir­kun­gen ver­spre­chen erschre­ckend zu sein (mehr dazu spä­ter). Den­noch wird uns vor­ge­gau­kelt, dass sie das produktivistische/konsumistische Sys­tem ret­ten wer­den und dass der „freie Markt“ für ihren Ein­satz sor­gen wird. In Wahr­heit geht es bei die­sem Sci­ence-Fic­tion-Sze­na­rio nicht in ers­ter Linie dar­um, den Pla­ne­ten zu ret­ten: Es geht in ers­ter Linie dar­um, die hei­li­ge Kuh des kapi­ta­lis­ti­schen Wachs­tums zu ret­ten und die Pro­fi­te der­je­ni­gen zu schüt­zen, die am meis­ten für den Schla­mas­sel ver­ant­wort­lich sind: die mul­ti­na­tio­na­len Öl-, Koh­le-, Gas- und Agrarkonzerne.

Der IPCC zwi­schen Wis­sen­schaft und Ideologie
Und was hält der IPCC von die­sem Wahn­sinn? Anpas­sungs- und Min­de­rungs­stra­te­gien gehö­ren nicht zum Kom­pe­tenz­be­reich der „Arbeits­grup­pe I“ [Die phy­si­ka­li­sche Basis]. Sie stellt jedoch wis­sen­schaft­li­che Über­le­gun­gen an, die von den ande­ren Arbeits­grup­pen zu berück­sich­ti­gen sind. In Bezug auf die NETs hütet sie sich, wider den Sta­chel zu löcken.

In der Zusam­men­fas­sung für poli­ti­sche Entscheidungsträger*-innen heißt es:
„Die anthro­po­ge­ne CO₂-Bin­dung (CDR) hat das Poten­zi­al, CO₂ aus der Atmo­sphä­re zu ent­fer­nen und dau­er­haft in Reser­voirs zu spei­chern (hohes Ver­trau­en).“ Wei­ter heißt es: „CDR zielt dar­auf ab, die ver­blei­ben­den Emis­sio­nen zu kom­pen­sie­ren, um Net­to-Null-CO₂-Emis­sio­nen oder Net­to-Null-THG-Emis­sio­nen zu errei­chen oder, wenn es in einem Aus­maß umge­setzt wird, in dem die anthro­po­ge­ne Ent­fer­nung die anthro­po­ge­nen Emis­sio­nen über­steigt, die Ober­flä­chen­tem­pe­ra­tur zu sen­ken.“ (D1.5, S. 39.)

In die­ser Zusam­men­fas­sung wird ein­deu­tig die Vor­stel­lung bekräf­tigt, dass Nega­ti­ve Emis­si­ons-Tech­no­lo­gien nicht nur ein­ge­setzt wer­den könn­ten, um „Rest­emis­sio­nen“ aus Sek­to­ren auf­zu- fan­gen, in denen eine Dekar­bo­ni­sie­rung tech­nisch schwie­rig ist (z. B. im Luft­ver­kehr), son­dern dass sie auch in gro­ßem Maß­stab ein­ge­setzt wer­den könn­ten, um den Umstand zu ver­tu­schen, dass sich der inter­na­tio­na­le Kapi­ta­lis­mus aus Grün­den, die nicht „tech­nisch“ sind, son­dern mit Pro­fit zu tun haben, wei­gert, auf fos­si­le Brenn­stof­fe zu verzichten.

In dem Text wer­den im Fol­gen­den die Vor­tei­le eines sol­chen mas­si­ven Ein­sat­zes als Mit­tel zur Errei­chung nega­ti­ver Net­to­emis­sio­nen in der zwei­ten Hälf­te des Jahr­hun­derts ange­prie­sen: „Die anthro­po­ge­ne CO₂-Ent­fer­nung (CDR), die zu glo­ba­len nega­ti­ven Net­to­emis­sio­nen führt, wür­de die atmo­sphä­ri­sche CO₂-Kon­zen­tra­ti­on sen­ken und die Ver­saue­rung der Ozea­ne umkeh­ren (hohes Ver­trau­en).“ (D1.5, S. 39.)

Die Zusam­men­fas­sung ent­hält einen Vor­be­halt, der jedoch kryp­tisch [ver­bor­gen] bleibt: „CDR-Tech­no­lo­gien kön­nen poten­zi­ell weit­rei­chen­de Aus­wir­kun­gen auf die bio­geo­che­mi­schen Kreis­läu­fe und das Kli­ma haben, die das Poten­zi­al die­ser Metho­den, CO₂ zu bin­den und die Erwär­mung zu redu­zie­ren, ent­we­der abschwä­chen oder ver­stär­ken und auch die Ver­füg­bar­keit und Qua­li­tät von Was­ser, die Nah­rungs­mit­tel­pro­duk­ti­on und die bio­lo­gi­sche Viel­falt beein­flus­sen kön­nen (hohes Vertrauen).“

Im Klar­text: offen­kun­dig sind die NETs doch nicht so effek­tiv, da eini­ge „Aus­wir­kun­gen“ „das Poten­zi­al zur CO₂-Bin­dung abschwä­chen“ könn­ten. Der letz­te Teil des zitier­ten Sat­zes bezieht sich auf sozia­le und öko­lo­gi­sche Aus­wir­kun­gen: Bio­en­er­gie mit CO₂-Abschei­dung und -Spei­che­rung (Bio­en­er­gy with Car­bon Cap­tu­re and Sto­rage, BECCS), die der­zeit aus­ge­reif­tes­te NET, könn­ten die atmo­sphä­ri­sche CO₂-Kon­zen­tra­ti­on nur dann signi­fi­kant redu­zie­ren, wenn eine Flä­che, die mehr als einem Vier­tel der heu­ti­gen per­ma­nent bewirt­schaf­te­ten Flä­che ent­spricht, für die Pro­duk­ti­on von Bio­mas­se genutzt wür­de – auf Kos­ten der Was­ser­ver­sor­gung, der bio­lo­gi­schen Viel­falt und/oder der Ernäh­rung der Weltbevölkerung.

So stützt sich die IPCC-Arbeits­grup­pe I einer­seits auf die phy­si­ka­li­schen Geset­ze des Kli­ma­sys­tems, um uns zu ver­kün­den, dass wir am Ran­de des Abgrunds und kurz davor ste­hen, unum­kehr­bar in einen unvor­stell­ba­ren Katak­lys­mus [eine erd­ge­schicht­li­che Kata­stro­phe] zu kip­pen; ande­rer­seits ver­sach­licht und ver­harm­lost sie den poli­tisch-tech­no­lo­gi­schen Höhen­flug, mit dem der Kapi­ta­lis­mus ein­mal mehr ver­sucht, den unüber­brück­ba­ren Wider­spruch zwi­schen sei­ner Logik der unbe­grenz­ten Pro­fit­ak­ku­mu- lati­on und der End­lich­keit des Pla­ne­ten aufzuschieben.

Noch nie hat ein Bericht von Expert*innen für die glo­ba­le Erwär­mung einen sol­chen Ein­druck von den Ängs­ten ver­mit­telt, die durch die Abwä­gung der Fak­ten im Lich­te der unum­stöß­li­chen Geset­ze der Phy­sik ent­ste­hen“, schrie­ben wir zu Beginn die­ses Arti­kels. Noch nie hat ein sol­cher Bericht so deut­lich gezeigt, dass eine wis­sen­schaft­li­che Ana­ly­se, die die Natur als Mecha­nis­mus und die Geset­ze des Pro­fits als phy­si­ka­li­sche Geset­ze behan­delt, nicht wirk­lich wis­sen­schaft­lich, son­dern szi­en­tis­tisch [pseu­do-wis­sen­schaft­lich], d. h. zumin­dest teil­wei­se ideo­lo­gisch ist.

Der Bericht der Arbeits­grup­pe I des IPCC soll­te daher in dem Bewusst­sein gele­sen wer­den, dass er sowohl das Bes­te als auch das Schlech­tes­te ist, was uns vor­liegt. Das Bes­te, weil er eine rigo­ro­se Dia­gno­se lie­fert, aus der sich her­vor­ra­gen­de Argu­men­te für eine Ankla­ge gegen die Macht­ha­ben­den und ihre poli­ti­schen Repräsentant*innen gewin­nen las­sen. Das Schlech­tes­te, weil er sowohl Angst als auch Ohn­macht ver­brei­tet … wovon die Mäch­ti­gen pro­fi­tie­ren, obwohl die Dia­gno­se sie anklagt! Ihre szi­en­tis­ti­sche Ideo­lo­gie ertränkt den kri­ti­schen Geist in einer Flut von „Daten“.

So lenkt sie die Auf­merk­sam­keit von den sys­te­mi­schen Ursa­chen ab. Das hat zwei­er­lei Kon­se­quen­zen: 1. Die Auf­merk­sam­keit wird auf „Ver­hal­tens­än­de­run­gen“ und ande­re indi­vi­du­el­le Ges­ten gelenkt – viel guter Wil­len, aber pathe­tisch unzu­rei­chend; 2. anstatt dazu bei­zu­tra­gen, die Kluft zwi­schen öko­lo­gi­schem Bewusst­sein und sozia­lem Bewusst­sein zu über­brü­cken, hält der Szi­en­tis­mus sie aufrecht.

Die Öko­lo­gi­sie­rung des Sozia­len und die Sozia­li­sie­rung der Öko­lo­gie ist die ein­zi­ge Stra­te­gie, mit der die Kata­stro­phe auf­ge­hal­ten und die Hoff­nung auf ein bes­se­res Leben wie­der­be­lebt wer­den kann. Ein Leben, das sich um die Men­schen und um die Öko­sys­te­me küm­mert, jetzt und auf lan­ge Sicht. Ein ein­fa­ches, freu­di­ges und sinn­vol­les Leben. Ein Leben, das die IPCC-Sze­na­ri­en nie­mals model­lie­ren wer­den, ein Leben, in dem die Pro­duk­ti­on von Gebrauchs­wer­ten für die Befrie­di­gung ech­ter Bedürf­nis­se, die demo­kra­tisch im Respekt vor der Natur bestimmt wer­den, die Pro­duk­ti­on von Gütern für den Pro­fit einer Min­der­heit über­win­det. Die­ses öko­so­zia­lis­ti­sche Alter­na­tiv­sze­na­rio wird vom IPCC nicht model­liert wer­den. Es ist ratio­nal und mach­bar, es kann aber nur aus der Soli­da­ri­tät und den selbst­or­ga­ni­sier­ten Kämp­fen der Aus­ge­beu­te­ten und Unter­drück­ten erwachsen.

10. August 2021


* [Deut­sche Erst­ver­öf­fent­li­chung in die inter­na­tio­na­le, Nr. 5/2021 von September/Oktober 2021. Aus dem Eng­li­schen und Fran­zö­si­schen über­setzt von Micha­el Heldt und Fried­rich Dorn. Bear­bei­tung durch die Redak­ti­on von Avan­ti².
Dani­el Tanu­ro ist Agrar­in­ge­nieur und Mit­glied von Gau­che Anti­ca­pi­ta­lis­te / SAP Anti­ka­pi­ta­lis­ten, der bel­gi­schen Sek­ti­on der IV. Inter­na­tio­na­le. Auf Deutsch erschien sein Buch über den „unmög­li­chen grü­nen Kapi­ta­lis­mus“ (2010) unter dem Titel Kli­ma­kri­se und Kapi­ta­lis­mus (Köln, Neu­er ISP Ver­lag, 2015).]

Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Novem­ber 2021
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