Helmut Dahmer
„Marx hat gefordert, ‚die Welt zu verändern‘, Rimbaud, ‚das Leben zu ändern‘; für uns sind beide Losungen ein und dieselbe.“
(Breton, 1935, S. 95).1
Vor 100 Jahren, Ende Oktober 1924, veröffentlichte der 28jährige Dichter André Breton (1896-1966), der in Paris einen Kreis ähnlich denkender Künstler-Freunde um sich geschart hatte2, sein (Erstes) Manifest des Surrealismus.
Auf gut 30 Druckseiten umriss er das Projekt seiner Gruppe, das missachtete und vergessene Potential des Traums und der Imagination gegen die von kalkulatorischer Vernunft durchherrschte gesellschaftliche Wirklichkeit der Kriege, des Massenelends und der Naturverwüstung aufzubieten. Lyrische Dichtungen, Erzählungen und Romane, Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen sollten im Jahrhundert erhoffter Revolutionen – als Zeugnisse einer neuartigen, in der Geschichte der Kunst noch kaum erprobten Freiheit der Technik(en), Formen und Sujets – die schlummern- den Phantasien und kreativen Potentiale unterdrückter Massen wecken.
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Das „Manifest“ war weder eine „Deklaration“, noch ein „Programm“ im üblichen Sinn, vielmehr begann Breton mit einer lockeren Folge von Berufungen auf die Kindheit, auf „außerordentliche Situationen“, auf die Imagination und den Wahn, gefolgt von einer Kritik konventioneller (psychologischer) Roma- ne. Anschließend folgte ein Hinweis auf die Freud’sche Traum- theorie, eine Erörterung des Verhältnisses von Wachen und Träumen und ein Hinweis auf das „Wunderbare“ in der älteren und in der aktuellen Literatur.
Dann las man Überlegungen zu Bretons eigener Lyrik und einen Hinweis auf Pierre Reverdys Ästhetik (die an die Lautréamont’sche anknüpft, der zufolge der Funke der Poesie einer Konfrontation disparater Gegenstände entspringt). Im Anschluss an einen kurzen Bericht über einen seiner Einfälle (einen bildhaften, befremdlichen Satz) und über seine Beschäftigung mit Freud kam er dann auf den – gemeinsam mit Soupault unternommenen – Versuch, sich ihren unzensuriert fließenden (und sogleich mitgeschriebenen) Monologen zu überlassen. Sie hatten ihr frei-assoziatives „Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft“ in dem Band Les Champs magnétiques (1921) veröffentlicht, um die Möglichkeiten „automatischen Schreibens“ zu dokumentieren.
Als nächstes ging es (im Manifest) um die Herkunft des Terminus „Surréalismus“ (von Gérard de Nerval und Apollinaire), um etwa 20 Literaten, die sich zur „Allmacht des Traumes“ bekannten, und um weitere 20, deren Literatur partiell „surrealistisch“ sei. Es folgten Beispiele von Texten aus Bretons Gruppe und eine Anweisung für Leser, die surrealistisch schreiben oder reden lernen beziehungsweise „die Poesie praktizieren“ wollten. Dabei kam es darauf an, sich in einen Zustand zu versetzen, der „freien Einfällen“ günstig ist: originellen Wortkombinationen, nie zuvor gesprochenen oder gehörten Sätzen, traumhaften Visionen …
Im Weiteren wurden die Themen Sprache, Dialog und surrealistisches Bild unter Berufung auf Reverdy (und Lautréamont) wieder aufgenommen, und auch die Kindheit („die uns vielleicht am meisten dem wahren Leben nähert“) tauchte noch einmal auf. Im Anschluss an Papier-Collagen von Picasso und Braque folgte schließlich das (Breton’sche) Beispiel einer Collage aus Zeitungs-Überschriften. Den Schluss des Manifests bildeten die Sätze: „Der Surrealismus, wie ich ihn verstehe, manifestiert genügend unseren absoluten Non-Konformismus, um nicht im Prozess gegen die reale Welt als Entlastungszeuge zitiert werden zu können“, und: „Leben und nicht mehr leben, das sind imaginäre Lösungen. Die Existenz ist anderswo“ (S. 42).
Für die Leser Breton’scher Manifeste und Traktate war und ist es nicht einfach, seinen poetischen Assoziationen und Kombinationen zu folgen und seine „Gedankenverschlingungen“ (Lenk, 1971, S. 121) zu entwirren.3 Er selbst schrieb, seine Gedanken entwickelten sich wie „Serpentinen“ […]. Versuchen wir, einen Überblick über die Serpentinen im Manifest zu gewinnen: „Wir leben noch unter der Herrschaft der Logik […]. Die Ziele der Logik hingegen entgehen uns. […] Die unausrottbare Manie, das Unbekannte aufs Bekannte, aufs Klassifizierbare zurückzuführen, schläfert das Gehirn ein. […] Unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen […], jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebräuchlichen entspricht. […] Insofern sind wir den Entdeckungen Freuds zu Dank verpflichtet. […] Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten. […] Mit vollem Recht hat Freud seine Kritik auf das Gebiet des Traumes gerichtet.“ „Ich glaube an die künftige Auflösung [der] scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absolute[r] Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität“(Bre- ton, S. 14 ff. und S. 18).
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Die Generation der späteren Surrealistinnen und Surrealisten war 1914 knapp 20 Jahre alt. Der Weltkrieg beendete ihre Jugend. Ihre Antwort war eine Kriegserklärung an diese Wirklichkeit. Das Jahr 1916 brachte zum einen den Höhepunkt der Stellungskriege, Grabenkämpfe und „Materialschlachten“ an der Westfront – 700.000 Tote und Verletzte vor Verdun, etwa eine Million an der Somme; hinzu kostete im Osten die „Brussilow-Offensive“ eine weitere Million Opfer. Zum andern war die Kriegsbegeisterung des Jahres 1914 abgeflaut, gegen die Fortführung des ruinösen Gemetzels regte sich Widerstand.
In der neutralen Schweiz, damals einem Refugium für Kriegsflüchtlinge, Intellektuelle, Pazifisten und Revolutionäre, waren schon Anfang September 1915 siebenunddreißig sozialis- tische Kriegsgegner aus zwölf Ländern zusammengekommen und hatten das (von Trotzki verfasste) „Zimmerwalder Manifest“ verabschiedet. Im April 1916 fand eine Folge-Konferenz im Schweizerischen Kienthal statt.
In Deutschland hatten sich die revolutionären Kriegsgegnerinnen und -gegner unter den Sozialdemokraten als „Gruppe Internationale“ zusammengeschlossen, 1916 entstand daraus die Gruppe „Spartakus“, und die bereits inhaftierte Rosa Luxemburg begann mit Karl Liebknecht und Leo Jogiches mit der Publikation der (illegalen) Spartakusbriefe. Liebknecht forderte am 1. Mai 1916 auf dem Berliner Potsdamer Platz: „Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Regierung!“; er wurde ver- haftet und anschließend „wegen Hochverrats“ bis zur Novemberrevolution gefangen gehalten. Berliner Arbeiter begannen aus Protest gegen dies Urteil den ersten politischen Massenstreik (den „Liebknecht“- oder „Brot-Streik“).
Lenin, der die Umwandlung des Krieges in einen revolutionären Bürgerkrieg forderte, arbeitete in Zürich an seiner Studie über den Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Und in seiner Nachbarschaft, im Zürcher „Cabaret Voltaire“, begann eine Künstlergruppe (Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Hans Arp und andere), für ein paar Monate unter lebhaften Publikumsprotesten „Dadaismus“ – die große Verweigerung – zu inszenieren: eine rituelle Liquidierung der affirmativen Kunst in Gestalt einer Serie von Publikums-Enttäu- schungen und Publikums-Beschimpfungen, von Happenings und Skandalen. Tristan Tzara brachte den „Dadaismus“ dann 1919 nach Paris.
1922 trennte sich die Gruppe um Breton von diesen Spezia-listen des „épater le bourgeois“. Dem Dadaismus entwachsen, ging es den „surrealistischen“ Dichtern und Malern nunmehr darum, eine künstlerische Revolutionierung des Alltagslebens, der Wahrnehmungs- und Denkweise auszuprobieren und vorzuleben. Sie negierten das Universum der etablierten Lebensverhältnisse, die Basis-Institutionen der bürgerlichen Gesell- schaft (Privateigentum, Lohnarbeit, Markt, Familie, Staat, Kirche) und deren offizielle Moral: Verhältnisse, in deren Rahmen die periodische Wiederkehr barbarischer Zustände und Gräueltaten als „normal“ erachtet und noch der staatlich befohlene Aufbruch in Vernichtungskriege von Millionen Menschen als „Befreiung“ von der Dumpfheit ihres Alltagslebens in Fabriken, Büros und Laboren oder auf den Feldern erlebt wurde.
Jenseits der Grenzen der als „einzig real“ akzeptierten Lebenswelt, beim Ausgegrenzten, Verpönten, „Wilden“ und Fremden suchten die Surrealisten Zuflucht, um von dort aus ihre Attacke auf die bürgerliche Welt vorzutragen. „Surrealismus“, das war vor allem die Relativierung und Diskreditierung der herrschenden, als „normal“ etikettierten Lebensweise im erweiterten Horizont des Menschenmöglichen – die Rehabilitierung der tabuierten, indiskutablen, marginalisierten Lebensdimensionen: Traum, Sexualität, Psychose …
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Die ersten Jahre der dadaistisch-surrealistischen Bewegung waren Experimentier- und Provokationsjahre. Man erprobte hypnotische und Rauschzustände, veranstaltete Umfragen über die sexuelle Praxis der Gruppenmitglieder, kultivierte das „automatische Schreiben“ (als „Kunst von jedermann“) – stets auf der Suche nach dem Tabuierten, nach dem „Wunder“. Breton, Aragon, Éluard und Soupault standen in der Nachfolge jener poetischen Revolution, die mit dem Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs und dem Wachtraum der Pariser Kommune zusammenfiel; als Vorbilder galten ihnen vor allem Lautréamont und Rimbaud, und sie alle waren, als Poetologen, Anhänger von Novalis und Baudelaire.
Im Spannungsfeld einer neuen Erfahrung und einer ihr zufallenden, aktualisierten Tradition arbeiteten die Surrealisten an dem, was Breton den „neuen kollektiven Mythos“ nannte: Ausdruck der Gegenwart und Zukunftsahnung. Getrieben vom „Ekel am Wirklichen“, vom Durst nach dem Neuen (Baudelaire), vom Hunger nach dem Unendlichen (Lautréamont), suchten die poetischen Revolutionäre das Unbekannte vor allem im nie Gesehenen oder Gehörten, der Halluzination einer anderen Wirklichkeit.
Der Wortalchimist Rimbaud (1873, S. 229), der Dichter der „Pariser Commune“, war ihnen darin vorausgegangen: „Es ging nicht ohne allerlei poetischen Trödelkram ab bei meiner Schwarzkunst des Wortes. Ich gewöhnte mich an die einfache Halluzination: ich sah ganz deutlich eine Moschee an der Stelle einer Fabrik, ich sah, wie Engel Unterricht im Trommeln erteilten, sah Kutschen auf den Straßen des Himmels, einen Salon auf dem Grund eines Sees; die Ungeheuer, die Geheim- nisse“. Die Poesie ist das Wirklichste, sie wird erst in einer anderen Welt vollkommen wahr, schrieb Baudelaire 1855. „Das wahre Leben ist abwesend“, replizierte Rimbaud.
Im Surrealismus haben Malerei und Poesie einander zugearbeitet. Die surrealistischen Techniken, die „Collage“ und „Frottage“ (Max Ernst) wie das „automatische Schreiben“, sind Ver- anstaltungen, die das Auftauchen von Unbekanntem, Fremdartigem, Neuem begünstigen. In der surrealistischen Poetik bleibt – anders als bei Edgar A. Poe, der das Machen, den poetischen Kalkül betont hatte – das Formieren des Materials unterbetont, es wird marginalisiert.
Wie schon bei Ludwig Börne (1823, S. 137 ff.) ist die Lockerung der kulturellen Zensur über die Gedanken das Wichtigste. Folgt man dem Strom der befreiten Assoziationen mit der Feder, bringt man „neue, unerhörte Gedanken“ zu Papier, wird zum „Originalschriftsteller“. Wird das Kaleidoskop der (Wunsch-)Vorstellungen geschüttelt, purzeln Bilder und Worte aus dem Rahmen sanktionierter Feststellungen, machen Liebe, stellen zweckfreie Figuren, lassen unerwartete Facetten sehen.
„Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich produzierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene, und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt“, schrieb Max Ernst (1974, S. 40). Er bezog sich auf das Befremdlich-„Schöne“ der von Lautréamont (1868/69, S. 173) angeführten Zufalls-„Begegnung“ einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch. Jedes surrealistische Kunstwerk ist ein Fenster zu einer alternativen Wirklichkeit, jedes Bild oder Gedicht ein Fundstück, Strandgut aus dem Meer der Möglichkeiten, ans Ufer der Wirklichkeit gerettet. Die Wahrheit der Kunst liegt in der Durchbrechung der gesellschaftlich definierten Grenze zwischen „Wirklich“ und „Unmöglich“ (Marcuse, 1977, S. 214 f.).
Die Surrealisten haben uns eine Welt hinterlassen, in der Wunsch- und Angstträume der Gegenwart, unsere Engel und Monster Platz finden. Dank heutiger Reproduktionstechniken entsteigen sie wieder und wieder den Grüften der Museen, Bildbände, Filme und Auktionen und überfluten dann (man denke an Motive Magrittes) unsere Bildschirme, Litfaßsäulen und die Mauern unserer Städte. Der Surrealismus hat die Fenster zum immanenten Jenseits der etablierten Realität aufgestoßen. Sie öffnen sich dem immer Verleugneten, wogegen die Festungen der Kultur aufgeführt wurden, deren Bastionen in und außer uns wir fortwährend, wunschträumend, unterminieren. Und sie öffnen sich der Verheißung, dass einmal in der Geschichte Wunsch und Wirklichkeit sich nicht wie Gefangener und Gefängnis zu einander verhalten mögen, sondern das Leben so sein wird, wie Vers, Bild und Musik es imaginieren.
Das „Wunderbare“, das die surrealistischen Lyriker, Prosaisten und Maler beschwören, ist die moderne Schönheit (im Sinne Baudelaires): Sinn und Irrsinn der Epoche, wie sie in ihren Lebensformen und Institutionen, in Moden und Architekturen, Kämpfen und Spielen bewusstlos zum Ausdruck kom- men und von der künstlerischen Avantgarde fortgebildet und entziffert werden. In der Revolution der poetischen Sprache, die in der surrealistischen Lyrik ihre Klimax erreicht und verebbt, und in der surrealistischen Malerei, die an die magische Kunst und den Manierismus anknüpft – und deren berufenster Interpret Breton (1928; 1965) gewesen ist –, kommen die verschwisterten Künste erst zu sich. Ihr Spezifikum ist die Nicht-Imitation. Die Realität ist defizient; ihre Wiedergabe, gar ihre geschönte Kopie (wie sie die „volkstümlichen“ Realismus-Doktrinen der totalitären Regime vorschrieben), vermehrt das Unheil, betrügt die Menschen noch um den Protest im Medium des Scheins.
Der Surrealismus hat „weltweit den unbestreitbaren Triumph der Imagination und der Kreation über die Imitation eingeleitet“ (Breton, 1936-53, S. 53). Künstlerische Produktivität besteht im Aufbrechen des vorgefundenen Arrangements der Welt, in der unerhörten Kombination ihrer Elemente; sie zielt auf das Glück, Menschen, Tiere, Dinge und Landschaften hier und jetzt so zu sehen und zu sehen zu geben, wie sie vielleicht in einer Welt sich ausnähmen, in der der Kampf aller gegen alle und gegen die Natur erloschen wäre. Sie stiftet an zur imaginativen Revolte, die jeder politischen uneinholbar vorausläuft. Die moderne Poetik und Poesie (von Novalis und Hölderlin bis Breton) ist die Erinnerung daran, dass die Menschen sich und ihre Welt stets noch eher geträumt als bearbeitet haben. Wo gegen die soziale und naturale Realität geträumt wird, wo Gesichte einer ganz anderen Realität beschworen werden, wo die Sprache von der Arbeit des Identifizierens und Informierens entbunden, das Bild von Belehrung und Jagdzauber entpflichtet wird, da begegnen, über Jahrzehntausende hinweg, die Tiere an den Höhlenwänden von Lascaux denen von Franz Marc. „Seher“-Poeten (G. Bays, 1964), profane, atheistische Mystiker, haben die „orphische Weltdeutung“ (Mallarmé) in die Moderne hinübergerettet.
Die Erfahrung, dass unsere Welt ständig durch technisch stets effizientere, profitabel verwertbare Arbeit verändert wird, dass immer neue technische „Revolutionen“ einander folgen, hat dazu geführt, dass die nicht-technischen Praktiken der Weltveränderung – Kritik, Kunst und Revolution – entwertet wurden und in Vergessenheit geraten sind. Dagegen haben Marx, Freud und die romantisch-symbolistisch-surrealistischen Poetologen Einspruch erhoben.
Breton (1936-53, S. 76) kommentierte (1947) einen Aufsatz von Thomas de Quincey über den Traum mit den Worten: „Man kann nicht gründlich genug über [Quinceys] Bemerkungen nachdenken in einer Zeit, in der die Träume von Rindern alle anderen Träume zu ersetzen trachten [und] in der selbst der Sozialismus zu vergessen scheint, daß er aus dem (Wach-)Traum von einem besseren Zustand für alle hervorgegangen ist“. Die Surrealisten wollten die imaginative mit der politischen Revolution amalgamieren. Auf der Suche nach dem „Unbekannten“, „Überraschenden“, durchstreiften sie – letzte Flaneure – den steinernen Symbolwald von Paris (Aragon, 1926). Ihre Experimente galten der Provokation des „objektiven Zufalls“. „Objektiver Zufall“ ist die Situation, in der man auf reale Entsprechungen dessen stößt, was man immer erhoffte und fürchtete, in der die Welt punktuell ihre Fremdheit verliert, auf unsere Fragen zu antworten scheint; wo es so aussieht, als sei der Tisch just für uns gedeckt, die Szene gerade für uns gestellt, das Strandgut des großen Meeres uns vor die Füße gerollt. Und irgendwo in der Menge, auf den Straßen, hinter allen Bildern und mysteriösen Objekten wartet die Trouvaille [das glückliche Fundstück] der Trouvaillen, die (oder der) schöne Unbekannte, so wie Bretons „Nadja“, die Inkarnation der Poesie, an der eine bedingungslose Liebe, „l’amour fou“, sich entzünden kann (Breton, 1928; 1937).
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In ihrem Kampf gegen die miserable Realität suchten die Erben der Romantik und des Symbolismus zeitgenössische Bundesgenossen. Breton fand sie in Freud, der mit Hilfe „freier Assoziationen“ eigene und fremde Träume gedeutet und so das Unbewusste – eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit – erforscht hatte, und im Revolutionär und Historiker Trotzki, dessen Erinnerungsbuch Über Lenin (1924) Breton für den Bolschewismus gewonnen hatte.
Als Erben der Romantiker und der Symbolisten revolutionierte die Gruppe um Breton die Poesie und die (figurative) Malerei. Um „das Leben“ zu ändern, nicht nur das von privilegierten Intellektuellen- und Künstlergruppen, sondern das aller Menschen, suchten sie Bundesgenossen in der sozialrevolutionären Bewegung ihrer Zeit. Zuerst wandten sie sich (in den Jahren 1927-1933) an die bereits stalinisierte französische KP (unter Doriot und Thorez), doch deren Funktionäre verlangten von den Bohémiens Parteiarbeit, Agitation und Linientreue (auch in Fragen der Kunst), also die Selbstaufgabe. Dieser Forderung nach bedingungsloser Kapitulation kamen im Laufe der Zeit sowohl Louis Aragon als auch Paul Éluard und Tristan Tzara nach, Freunde Bretons und Dadaisten-Surrealisten der ersten Stunde.
Breton und andere – wie etwa Benjamin Péret –, die in den spontanen, von keiner Partei kontrollierten Arbeiteraktionen im Spanien der Jahre 1936/37 ein Pendant ihrer eigenen künstlerischen Praxis im Feld der sozialen Kämpfe sahen, lehnten sich an die antistalinistische IV. Internationale Trotzkis – und später an anarchistische und humanitäre Gruppen – an, mit deren politischen Zielen sie sich solidarisieren konnten, ohne auf ihre künstlerisch-intellektuelle Unabhängigkeit verzichten zu müssen. Breton, seit 1924 Wortführer der surrealistischen Künstler-Bewegung, und seine Freunde haben verschiedene Möglichkeiten der Kooperation von künstlerischer Avantgarde und Arbeiterbewegung – beziehungsweise Parteiorganisationen – erprobt und als Lehre aus ihren Erfahrungen festgehalten, dass die Wege der Kunst und die der Politik, mögen sie sich auch hin und wieder kreuzen, prinzipiell verschiedene sind.
So ist die Klärung des Verhältnisses von Bohème und Arbeiterbewegung auch eine der Lektionen, die die Geschichte des Surrealismus vermittelt. Nicht einmal in Frankreich wurde sie verstanden, wie etwa das Beispiel Sartres zeigt, der noch 1947 die Surrealisten im Namen einer „litterature engagée“ herunterputzte, um sich dann nach 1956 – also zwei, drei Jahrzehnte nach Breton –, doch zur Autonomie der Literatur zu bekennen. Auch die deutschen Emigranten, die 1937/38 in der (von Brecht, Feuchtwanger und Bredel herausgegebenen) Zeitschrift Das Wort über den progressiven oder reaktionären Charakter des Expressionismus stritten (aus dem mehrere von ihnen hervorgegangen waren) und über einen eng oder weiter zu fassenden, Shelley ein- oder ausschließenden Begriff von „Realismus“ debattierten, haben in ihrer Mehrheit die zehn Jahre früher begonnene und zu ihrer Zeit fortgeführte französische Debatte über die Legitimität surrealistischer Literatur und Malerei ebenso ignoriert wie das Schicksal ihrer russischen Kolleginnen und Kollegen im Stalin’schen Massenterror. Die damaligen Gegner von Georg Lukács und Alfred Kurella – Bloch, Eisler und Brecht – hätten viel daraus lernen und in Breton, der 1937 einen „offenen Realismus“ forderte, einen Verbündeten begrüßen können.
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Eine internationalistisch orientierte Künstlerbewegung, die sich als Teil der antikapitalistisch-antibürokratischen Revolution verstand und das dreifältige Ziel verfolgte, „die Welt [zu] verändern, das Leben [zu] ändern, die Verständigung unter den Menschen neu [zu] begründen“ (Breton, 1981, S. 68 f.), eine Bohème-Organisation, die, um der Freiheit des individuellen Ausdrucks willen, ihre Unabhängigkeit auch gegenüber Organisationen wahrte, die als „Partei der Freiheit“ firmierten, wie es im antitotalitären Manifest der im Sommer 1938 von Breton, Trotzki und dem mexikanischen Muralisten Diego Rivera gegründeten – und alsbald vom Krieg verschlungenen – „Fédé- ration Internationale de l’Art Révolutionnaire Indépendant“
(F.I.A.R.I.) heißt, hat es weder vor, noch nach den Surrealisten gegeben. Was da, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs als Möglichkeit aufleuchtete, harrt, wie andere Verheißungen des Surrealismus, noch seiner Stunde.
Im Zeitalter der totalitären Regime und der Propaganda-„Kunst“ verteidigten Trotzki, Breton und Rivera im Manifest der F.I.A.R.I.4 die Unabhängigkeit der Künstler und der Kunst, keine „unpolitische“ Kunst, aber sehr wohl eine „l’art pour l’art“. Warum? Wegen deren kritisch-umstürzlerischem Potential. „Autonome“ Kunst setzt autonome Künstler voraus, die ihre spezifische Sensibilität zu den herrschenden Verhältnissen in Gegensatz bringt und die die Emanzipation der ausgebeuteten Klassen und der (in dieser „Kultur“) unglücklichen Individuen zu ihrer Sache machen. Distanz zu ihrer Gegenwart er- möglicht es ihnen, die Unhaltbarkeit der bestehenden „Ordnung“ (und deren Veränderbarkeit) wahrzunehmen und diesem kulturellen Konflikt, der auch der ihre ist, Ausdruck zu verleihen, ihn zu gestalten, die Wahrheit über die Gesellschaft, in der wir leben, mit ihren Mitteln sichtbar zu machen.
In einem gegen Jahresende 1938 verfassten Brief an Breton hat Trotzki den Typus des Künstler-Revolutionärs, wie er ihm vorschwebte, und die Aufgabe einer revolutionären Künstlervereinigung wie folgt charakterisiert: „In unserer Epoche der Umwälzungen und der Reaktion, des kulturellen Verfalls und der moralischen Verwilderung ist die unabhängige [künstlerische] Schöpfung per se revolutionär, denn sie entspringt der Suche nach einem Ausweg aus der unerträglich [verfahrenen] gesellschaftlichen Situation. Mit ihren spezifischen Methoden muss die Kunst, muss jeder einzelne Künstler, ohne auf irgendwelche Anweisungen zu warten, sich auf die Suche nach einem Ausweg machen. Die Künstler sollten jedes Kommando ablehnen und all’ jene verachten, die sich [politischen] Vorschriften unterwerfen.“5
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Breton kehrte 1946 aus seinem Zufluchtsland, den USA, nach Paris zurück. Doch im Nachkriegseuropa des „Kalten Krieges“ und der „friedlichen Koexistenz“ – unter dem Damokles-Schwert des nuklearen „Gleichgewichts des Schreckens“ – hatte der Surrealismus kaum mehr Chancen, aus der Kunst ins Leben überzutreten. Nach den, allen „Bewältigungs“-Versuchen trotzenden, tief verdrängten Schock-Erfahrungen, die wir mit den Namen „Archipel GULag“, „Auschwitz“ und „Hiroshima“ bezeichnen, nahmen sich die künstlerischen Sensationen, mit denen die Surrealisten in den zwanziger und dreißiger Jahren die Öffentlichkeit aufzuwecken versucht hatten, harmlos aus.
Im Februar 1948 schrieb Breton (1981, S. 91): „In der Tiefe dieser verpesteten Passage, in der wir uns heute befinden, ist es nahezu unmöglich, Atem zu schöpfen. Es handelt sich nämlich um den Übergang von dem sogenannten Konzentrationslager-Universum, dem unvorstellbarsten, zu einem durchaus möglichen Nicht-Universum […]. Außer Zweifel steht, dass das Bewusstsein selbst angegriffen und in seiner Substanz bedroht ist. Es hat eine Masse von Bewusstlosigkeit und Sorglosigkeit gegen sich, die die Gefahr erst in dem Augenblick erkennbar werden lässt, da ihr nicht mehr vorgebeugt werden kann […]. Das Bewusstsein hat zugleich das kompakte Getriebe gutgeschmierter Routinen gegen sich, das die Menschen vielleicht auch dann noch in Bewegung hält, wenn nur noch eine Handvoll von ihnen auf der Erde übrig ist.“
Doch dann brachte die Nachkriegszeit nicht nur die weltweite „Kolonialrevolution“, sondern auch die antistalinistischen Revolten (1953, 1956, 1968 und 1980) sowie den schließlichen Untergang des Regimes der Stalin-Erben. Und in den sechziger Jahren brach eine neue Generation das Schweigen ihrer Altvordern über die Gräuel des Hitlerfaschismus und des Zwei- ten Weltkriegs und revoltierte international gegen den damals aktuellen Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen Vietnam und Kambodscha. Schließlich erneuerten die rebellierenden Studierenden im Pariser Mai 1968 (knapp zwei Jahre nach dem Tod Bretons) sogar den Traum von einer ganz anderen Einrichtung des gesellschaftlichen und individuellen Lebens; sie erhielten Deckung von 10 Millionen streikenden Arbeiterinnen und Arbeitern und scheuchten den General de Gaulle, der bei der Armee Hilfe suchte, ins deutsche Baden-Baden (zum General Massu). Plötzlich war der „Surrealistische Komet“ wieder da, und am Himmel von Paris leuchtete die Parole „Die Phantasie an die Macht!“ auf.
Der Surrealismus war die vorläufig letzte Revolte der nonkonformistischen Künstlerinnen und Künstler und ihrer Kunst gegen die bestehende Gesellschaft. Er ist ebenso inaktuell wie uneingelöst, und eine neuerliche Emeute der internationalen Artistinnen und Artisten ist so wünschbar wie ein neuerlicher Versuch der abhängig beschäftigten und unbeschäftigten Bevölkerung West- und Osteuropas, das Schicksal zu sabotieren, auf das die Renditenwirtschaft unter Ägide ihrer Profiteure – der Oligarchen, Krisenverwalter und nuklearen Apokalyptiker – zutreibt.