Der Sur­rea­lis­mus – nach hun­dert Jahren

 

Hel­mut Dahmer


Marx hat gefor­dert, ‚die Welt zu ver­än­dern‘, Rim­baud, ‚das Leben zu ändern‘; für uns sind bei­de Losun­gen ein und dieselbe.“
(Bre­ton, 1935, S. 95).1


Vor 100 Jah­ren, Ende Okto­ber 1924, ver­öf­fent­lich­te der 28jährige Dich­ter André Bre­ton (1896-1966), der in Paris einen Kreis ähn­lich den­ken­der Künst­ler-Freun­de um sich geschart hat­te2, sein (Ers­tes) Mani­fest des Sur­rea­lis­mus.

Auf gut 30 Druck­sei­ten umriss er das Pro­jekt sei­ner Grup­pe, das miss­ach­te­te und ver­ges­se­ne Poten­ti­al des Traums und der Ima­gi­na­ti­on gegen die von kal­ku­la­to­ri­scher Ver­nunft durch­herrsch­te gesell­schaft­li­che Wirk­lich­keit der Krie­ge, des Mas­sen­elends und der Natur­ver­wüs­tung auf­zu­bie­ten. Lyri­sche Dich­tun­gen, Erzäh­lun­gen und Roma­ne, Gemäl­de, Zeich­nun­gen und Skulp­tu­ren soll­ten im Jahr­hun­dert erhoff­ter Revo­lu­tio­nen – als Zeug­nis­se einer neu­ar­ti­gen, in der Geschich­te der Kunst noch kaum erprob­ten Frei­heit der Technik(en), For­men und Sujets – die schlum­mern- den Phan­ta­sien und krea­ti­ven Poten­tia­le unter­drück­ter Mas­sen wecken.

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Das „Mani­fest“ war weder eine „Dekla­ra­ti­on“, noch ein „Pro­gramm“ im übli­chen Sinn, viel­mehr begann Bre­ton mit einer locke­ren Fol­ge von Beru­fun­gen auf die Kind­heit, auf „außer­or­dent­li­che Situa­tio­nen“, auf die Ima­gi­na­ti­on und den Wahn, gefolgt von einer Kri­tik kon­ven­tio­nel­ler (psy­cho­lo­gi­scher) Roma- ne. Anschlie­ßend folg­te ein Hin­weis auf die Freud’sche Traum- theo­rie, eine Erör­te­rung des Ver­hält­nis­ses von Wachen und Träu­men und ein Hin­weis auf das „Wun­der­ba­re“ in der älte­ren und in der aktu­el­len Literatur.

Dann las man Über­le­gun­gen zu Bre­tons eige­ner Lyrik und einen Hin­weis auf Pierre Rever­dys Ästhe­tik (die an die Lautréamont’sche anknüpft, der zufol­ge der Fun­ke der Poe­sie einer Kon­fron­ta­ti­on dis­pa­ra­ter Gegen­stän­de ent­springt). Im Anschluss an einen kur­zen Bericht über einen sei­ner Ein­fäl­le (einen bild­haf­ten, befremd­li­chen Satz) und über sei­ne Beschäf­ti­gung mit Freud kam er dann auf den – gemein­sam mit Sou­pault unter­nom­me­nen – Ver­such, sich ihren unzen­su­riert flie­ßen­den (und sogleich mit­ge­schrie­be­nen) Mono­lo­gen zu über­las­sen. Sie hat­ten ihr frei-asso­zia­ti­ves „Denk-Dik­tat ohne jede Kon­trol­le durch die Ver­nunft“ in dem Band Les Champs magné­ti­ques (1921) ver­öf­fent­licht, um die Mög­lich­kei­ten „auto­ma­ti­schen Schrei­bens“ zu dokumentieren.

Als nächs­tes ging es (im Mani­fest) um die Her­kunft des Ter­mi­nus „Sur­ré­a­lis­mus“ (von Gérard de Ner­val und Apol­lin­aire), um etwa 20 Lite­ra­ten, die sich zur „All­macht des Trau­mes“ bekann­ten, und um wei­te­re 20, deren Lite­ra­tur par­ti­ell „sur­rea­lis­tisch“ sei. Es folg­ten Bei­spie­le von Tex­ten aus Bre­tons Grup­pe und eine Anwei­sung für Leser, die sur­rea­lis­tisch schrei­ben oder reden ler­nen bezie­hungs­wei­se „die Poe­sie prak­ti­zie­ren“ woll­ten. Dabei kam es dar­auf an, sich in einen Zustand zu ver­set­zen, der „frei­en Ein­fäl­len“ güns­tig ist: ori­gi­nel­len Wort­kom­bi­na­tio­nen, nie zuvor gespro­che­nen oder gehör­ten Sät­zen, traum­haf­ten Visionen …

Im Wei­te­ren wur­den die The­men Spra­che, Dia­log und sur­rea­lis­ti­sches Bild unter Beru­fung auf Rever­dy (und Lau­tré­a­mont) wie­der auf­ge­nom­men, und auch die Kind­heit („die uns viel­leicht am meis­ten dem wah­ren Leben nähert“) tauch­te noch ein­mal auf. Im Anschluss an Papier-Col­la­gen von Picas­so und Braque folg­te schließ­lich das (Breton’sche) Bei­spiel einer Col­la­ge aus Zei­tungs-Über­schrif­ten. Den Schluss des Mani­fests bil­de­ten die Sät­ze: „Der Sur­rea­lis­mus, wie ich ihn ver­ste­he, mani­fes­tiert genü­gend unse­ren abso­lu­ten Non-Kon­for­mis­mus, um nicht im Pro­zess gegen die rea­le Welt als Ent­las­tungs­zeu­ge zitiert wer­den zu kön­nen“, und: „Leben und nicht mehr leben, das sind ima­gi­nä­re Lösun­gen. Die Exis­tenz ist anders­wo“ (S. 42).

Für die Leser Breton’scher Mani­fes­te und Trak­ta­te war und ist es nicht ein­fach, sei­nen poe­ti­schen Asso­zia­tio­nen und Kom­bi­na­tio­nen zu fol­gen und sei­ne „Gedan­ken­ver­schlin­gun­gen“ (Lenk, 1971, S. 121) zu ent­wir­ren.3 Er selbst schrieb, sei­ne Gedan­ken ent­wi­ckel­ten sich wie „Ser­pen­ti­nen“ […]. Ver­su­chen wir, einen Über­blick über die Ser­pen­ti­nen im Mani­fest zu gewin­nen: „Wir leben noch unter der Herr­schaft der Logik […]. Die Zie­le der Logik hin­ge­gen ent­ge­hen uns. […] Die unaus­rott­ba­re Manie, das Unbe­kann­te aufs Bekann­te, aufs Klas­si­fi­zier­ba­re zurück­zu­füh­ren, schlä­fert das Gehirn ein. […] Unter dem Vor­wand des Fort­schritts ist es gelun­gen […], jede Art der Wahr­heits­su­che zu ver­ur­tei­len, die nicht der gebräuch­li­chen ent­spricht. […] Inso­fern sind wir den Ent­de­ckun­gen Freuds zu Dank ver­pflich­tet. […] Die Ima­gi­na­ti­on ist viel­leicht im Begriff, wie­der in ihre alten Rech­te ein­zu­tre­ten. […] Mit vol­lem Recht hat Freud sei­ne Kri­tik auf das Gebiet des Trau­mes gerich­tet.“ „Ich glau­be an die künf­ti­ge Auf­lö­sung [der] schein­bar so gegen­sätz­li­chen Zustän­de von Traum und Wirk­lich­keit in einer Art absolute[r] Rea­li­tät, wenn man so sagen kann: Sur­rea­li­tät“(Bre- ton, S. 14 ff. und S. 18).

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Die Gene­ra­ti­on der spä­te­ren Sur­rea­lis­tin­nen und Sur­rea­lis­ten war 1914 knapp 20 Jah­re alt. Der Welt­krieg been­de­te ihre Jugend. Ihre Ant­wort war eine Kriegs­er­klä­rung an die­se Wirk­lich­keit. Das Jahr 1916 brach­te zum einen den Höhe­punkt der Stel­lungs­krie­ge, Gra­ben­kämp­fe und „Mate­ri­al­schlach­ten“ an der West­front – 700.000 Tote und Ver­letz­te vor Ver­dun, etwa eine Mil­li­on an der Som­me; hin­zu kos­te­te im Osten die „Brussi­low-Offen­si­ve“ eine wei­te­re Mil­li­on Opfer. Zum andern war die Kriegs­be­geis­te­rung des Jah­res 1914 abge­flaut, gegen die Fort­füh­rung des rui­nö­sen Gemet­zels reg­te sich Widerstand.

In der neu­tra­len Schweiz, damals einem Refu­gi­um für Kriegs­flücht­lin­ge, Intel­lek­tu­el­le, Pazi­fis­ten und Revo­lu­tio­nä­re, waren schon Anfang Sep­tem­ber 1915 sie­ben­und­drei­ßig sozia­lis- tische Kriegs­geg­ner aus zwölf Län­dern zusam­men­ge­kom­men und hat­ten das (von Trotz­ki ver­fass­te) „Zim­mer­wal­der Mani­fest“ ver­ab­schie­det. Im April 1916 fand eine Fol­ge-Kon­fe­renz im Schwei­ze­ri­schen Kien­thal statt.

In Deutsch­land hat­ten sich die revo­lu­tio­nä­ren Kriegs­geg­ne­rin­nen und -geg­ner unter den Sozi­al­de­mo­kra­ten als „Grup­pe Inter­na­tio­na­le“ zusam­men­ge­schlos­sen, 1916 ent­stand dar­aus die Grup­pe „Spar­ta­kus“, und die bereits inhaf­tier­te Rosa Luxem­burg begann mit Karl Lieb­knecht und Leo Jogi­ches mit der Publi­ka­ti­on der (ille­ga­len) Spar­ta­kus­brie­fe. Lieb­knecht for­der­te am 1. Mai 1916 auf dem Ber­li­ner Pots­da­mer Platz: „Nie­der mit dem Krieg, nie­der mit der Regie­rung!“; er wur­de ver- haf­tet und anschlie­ßend „wegen Hoch­ver­rats“ bis zur Novem­ber­re­vo­lu­ti­on gefan­gen gehal­ten. Ber­li­ner Arbei­ter began­nen aus Pro­test gegen dies Urteil den ers­ten poli­ti­schen Mas­sen­streik (den „Lieb­knecht“- oder „Brot-Streik“).

Lenin, der die Umwand­lung des Krie­ges in einen revo­lu­tio­nä­ren Bür­ger­krieg for­der­te, arbei­te­te in Zürich an sei­ner Stu­die über den Impe­ria­lis­mus als höchs­tes Sta­di­um des Kapi­ta­lis­mus. Und in sei­ner Nach­bar­schaft, im Zür­cher „Caba­ret Vol­taire“, begann eine Künst­ler­grup­pe (Hugo Ball, Richard Huel­sen­beck, Hans Arp und ande­re), für ein paar Mona­te unter leb­haf­ten Publi­kums­pro­tes­ten „Dada­is­mus“ – die gro­ße Ver­wei­ge­rung – zu insze­nie­ren: eine ritu­el­le Liqui­die­rung der affir­ma­ti­ven Kunst in Gestalt einer Serie von Publi­kums-Ent­täu- schun­gen und Publi­kums-Beschimp­fun­gen, von Hap­pe­nings und Skan­da­len. Tris­tan Tzara brach­te den „Dada­is­mus“ dann 1919 nach Paris.

1922 trenn­te sich die Grup­pe um Bre­ton von die­sen Spe­zia-lis­ten des „épa­ter le bour­geois“. Dem Dada­is­mus ent­wach­sen, ging es den „sur­rea­lis­ti­schen“ Dich­tern und Malern nun­mehr dar­um, eine künst­le­ri­sche Revo­lu­tio­nie­rung des All­tags­le­bens, der Wahr­neh­mungs- und Denk­wei­se aus­zu­pro­bie­ren und vor­zu­le­ben. Sie negier­ten das Uni­ver­sum der eta­blier­ten Lebens­ver­hält­nis­se, die Basis-Insti­tu­tio­nen der bür­ger­li­chen Gesell- schaft (Pri­vat­ei­gen­tum, Lohn­ar­beit, Markt, Fami­lie, Staat, Kir­che) und deren offi­zi­el­le Moral: Ver­hält­nis­se, in deren Rah­men die peri­odi­sche Wie­der­kehr bar­ba­ri­scher Zustän­de und Gräu­el­ta­ten als „nor­mal“ erach­tet und noch der staat­lich befoh­le­ne Auf­bruch in Ver­nich­tungs­krie­ge von Mil­lio­nen Men­schen als „Befrei­ung“ von der Dumpf­heit ihres All­tags­le­bens in Fabri­ken, Büros und Labo­ren oder auf den Fel­dern erlebt wurde.

Jen­seits der Gren­zen der als „ein­zig real“ akzep­tier­ten Lebens­welt, beim Aus­ge­grenz­ten, Ver­pön­ten, „Wil­den“ und Frem­den such­ten die Sur­rea­lis­ten Zuflucht, um von dort aus ihre Atta­cke auf die bür­ger­li­che Welt vor­zu­tra­gen. „Sur­rea­lis­mus“, das war vor allem die Rela­ti­vie­rung und Dis­kre­di­tie­rung der herr­schen­den, als „nor­mal“ eti­ket­tier­ten Lebens­wei­se im erwei­ter­ten Hori­zont des Men­schen­mög­li­chen – die Reha­bi­li­tie­rung der tabu­ier­ten, indis­ku­ta­blen, mar­gi­na­li­sier­ten Lebens­di­men­sio­nen: Traum, Sexua­li­tät, Psychose …

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Die ers­ten Jah­re der dada­is­tisch-sur­rea­lis­ti­schen Bewe­gung waren Expe­ri­men­tier- und Pro­vo­ka­ti­ons­jah­re. Man erprob­te hyp­no­ti­sche und Rausch­zu­stän­de, ver­an­stal­te­te Umfra­gen über die sexu­el­le Pra­xis der Grup­pen­mit­glie­der, kul­ti­vier­te das „auto­ma­ti­sche Schrei­ben“ (als „Kunst von jeder­mann“) – stets auf der Suche nach dem Tabu­ier­ten, nach dem „Wun­der“. Bre­ton, Ara­gon, Éluard und Sou­pault stan­den in der Nach­fol­ge jener poe­ti­schen Revo­lu­ti­on, die mit dem Zusam­men­bruch des Zwei­ten Kai­ser­reichs und dem Wachtraum der Pari­ser Kom­mu­ne zusam­men­fiel; als Vor­bil­der gal­ten ihnen vor allem Lau­tré­a­mont und Rim­baud, und sie alle waren, als Poe­to­lo­gen, Anhän­ger von Nova­lis und Baudelaire.

Im Span­nungs­feld einer neu­en Erfah­rung und einer ihr zufal­len­den, aktua­li­sier­ten Tra­di­ti­on arbei­te­ten die Sur­rea­lis­ten an dem, was Bre­ton den „neu­en kol­lek­ti­ven Mythos“ nann­te: Aus­druck der Gegen­wart und Zukunfts­ah­nung. Getrie­ben vom „Ekel am Wirk­li­chen“, vom Durst nach dem Neu­en (Bau­de­lai­re), vom Hun­ger nach dem Unend­li­chen (Lau­tré­a­mont), such­ten die poe­ti­schen Revo­lu­tio­nä­re das Unbe­kann­te vor allem im nie Gese­he­nen oder Gehör­ten, der Hal­lu­zi­na­ti­on einer ande­ren Wirklichkeit.

Der Wort­al­chi­mist Rim­baud (1873, S. 229), der Dich­ter der „Pari­ser Com­mu­ne“, war ihnen dar­in vor­aus­ge­gan­gen: „Es ging nicht ohne aller­lei poe­ti­schen Trö­del­kram ab bei mei­ner Schwarz­kunst des Wor­tes. Ich gewöhn­te mich an die ein­fa­che Hal­lu­zi­na­ti­on: ich sah ganz deut­lich eine Moschee an der Stel­le einer Fabrik, ich sah, wie Engel Unter­richt im Trom­meln erteil­ten, sah Kut­schen auf den Stra­ßen des Him­mels, einen Salon auf dem Grund eines Sees; die Unge­heu­er, die Geheim- nis­se“. Die Poe­sie ist das Wirk­lichs­te, sie wird erst in einer ande­ren Welt voll­kom­men wahr, schrieb Bau­de­lai­re 1855. „Das wah­re Leben ist abwe­send“, repli­zier­te Rimbaud.

Im Sur­rea­lis­mus haben Male­rei und Poe­sie ein­an­der zuge­ar­bei­tet. Die sur­rea­lis­ti­schen Tech­ni­ken, die „Col­la­ge“ und „Frot­ta­ge“ (Max Ernst) wie das „auto­ma­ti­sche Schrei­ben“, sind Ver- anstal­tun­gen, die das Auf­tau­chen von Unbe­kann­tem, Fremd­ar­ti­gem, Neu­em begüns­ti­gen. In der sur­rea­lis­ti­schen Poe­tik bleibt – anders als bei Edgar A. Poe, der das Machen, den poe­ti­schen Kal­kül betont hat­te – das For­mie­ren des Mate­ri­als unter­be­tont, es wird marginalisiert.

Wie schon bei Lud­wig Bör­ne (1823, S. 137 ff.) ist die Locke­rung der kul­tu­rel­len Zen­sur über die Gedan­ken das Wich­tigs­te. Folgt man dem Strom der befrei­ten Asso­zia­tio­nen mit der Feder, bringt man „neue, uner­hör­te Gedan­ken“ zu Papier, wird zum „Ori­gi­nal­schrift­stel­ler“. Wird das Kalei­do­skop der (Wunsch-)Vorstellungen geschüt­telt, pur­zeln Bil­der und Wor­te aus dem Rah­men sank­tio­nier­ter Fest­stel­lun­gen, machen Lie­be, stel­len zweck­freie Figu­ren, las­sen uner­war­te­te Facet­ten sehen.

Col­la­ge-Tech­nik ist die sys­te­ma­ti­sche Aus­beu­tung des zufäl­li­gen oder künst­lich pro­du­zier­ten Zusam­men­tref­fens von zwei oder mehr wesens­frem­den Rea­li­tä­ten auf einer augen­schein­lich dazu unge­eig­ne­ten Ebe­ne, und der Fun­ke Poe­sie, wel­cher bei der Annä­he­rung die­ser Rea­li­tä­ten über­springt“, schrieb Max Ernst (1974, S. 40). Er bezog sich auf das Befremdlich-„Schöne“ der von Lau­tré­a­mont (1868/69, S. 173) ange­führ­ten Zufalls-„Begegnung“ einer Näh­ma­schi­ne und eines Regen­schirms auf einem Sezier­tisch. Jedes sur­rea­lis­ti­sche Kunst­werk ist ein Fens­ter zu einer alter­na­ti­ven Wirk­lich­keit, jedes Bild oder Gedicht ein Fund­stück, Strand­gut aus dem Meer der Mög­lich­kei­ten, ans Ufer der Wirk­lich­keit geret­tet. Die Wahr­heit der Kunst liegt in der Durch­bre­chung der gesell­schaft­lich defi­nier­ten Gren­ze zwi­schen „Wirk­lich“ und „Unmög­lich“ (Mar­cu­se, 1977, S. 214 f.).

Die Sur­rea­lis­ten haben uns eine Welt hin­ter­las­sen, in der Wunsch- und Angst­träu­me der Gegen­wart, unse­re Engel und Mons­ter Platz fin­den. Dank heu­ti­ger Repro­duk­ti­ons­tech­ni­ken ent­stei­gen sie wie­der und wie­der den Grüf­ten der Muse­en, Bild­bän­de, Fil­me und Auk­tio­nen und über­flu­ten dann (man den­ke an Moti­ve Magrit­tes) unse­re Bild­schir­me, Lit­faß­säu­len und die Mau­ern unse­rer Städ­te. Der Sur­rea­lis­mus hat die Fens­ter zum imma­nen­ten Jen­seits der eta­blier­ten Rea­li­tät auf­ge­sto­ßen. Sie öff­nen sich dem immer Ver­leug­ne­ten, woge­gen die Fes­tun­gen der Kul­tur auf­ge­führt wur­den, deren Bas­tio­nen in und außer uns wir fort­wäh­rend, wunsch­träu­mend, unter­mi­nie­ren. Und sie öff­nen sich der Ver­hei­ßung, dass ein­mal in der Geschich­te Wunsch und Wirk­lich­keit sich nicht wie Gefan­ge­ner und Gefäng­nis zu ein­an­der ver­hal­ten mögen, son­dern das Leben so sein wird, wie Vers, Bild und Musik es imaginieren.

Das „Wun­der­ba­re“, das die sur­rea­lis­ti­schen Lyri­ker, Pro­sa­is­ten und Maler beschwö­ren, ist die moder­ne Schön­heit (im Sin­ne Bau­de­lai­res): Sinn und Irr­sinn der Epo­che, wie sie in ihren Lebens­for­men und Insti­tu­tio­nen, in Moden und Archi­tek­tu­ren, Kämp­fen und Spie­len bewusst­los zum Aus­druck kom- men und von der künst­le­ri­schen Avant­gar­de fort­ge­bil­det und ent­zif­fert wer­den. In der Revo­lu­ti­on der poe­ti­schen Spra­che, die in der sur­rea­lis­ti­schen Lyrik ihre Kli­max erreicht und ver­ebbt, und in der sur­rea­lis­ti­schen Male­rei, die an die magi­sche Kunst und den Manie­ris­mus anknüpft – und deren beru­fens­ter Inter­pret Bre­ton (1928; 1965) gewe­sen ist –, kom­men die ver­schwis­ter­ten Küns­te erst zu sich. Ihr Spe­zi­fi­kum ist die Nicht-Imi­ta­ti­on. Die Rea­li­tät ist defi­zi­ent; ihre Wie­der­ga­be, gar ihre geschön­te Kopie (wie sie die „volks­tüm­li­chen“ Rea­lis­mus-Dok­tri­nen der tota­li­tä­ren Regime vor­schrie­ben), ver­mehrt das Unheil, betrügt die Men­schen noch um den Pro­test im Medi­um des Scheins.

Der Sur­rea­lis­mus hat „welt­weit den unbe­streit­ba­ren Tri­umph der Ima­gi­na­ti­on und der Krea­ti­on über die Imi­ta­ti­on ein­ge­lei­tet“ (Bre­ton, 1936-53, S. 53). Künst­le­ri­sche Pro­duk­ti­vi­tät besteht im Auf­bre­chen des vor­ge­fun­de­nen Arran­ge­ments der Welt, in der uner­hör­ten Kom­bi­na­ti­on ihrer Ele­men­te; sie zielt auf das Glück, Men­schen, Tie­re, Din­ge und Land­schaf­ten hier und jetzt so zu sehen und zu sehen zu geben, wie sie viel­leicht in einer Welt sich aus­näh­men, in der der Kampf aller gegen alle und gegen die Natur erlo­schen wäre. Sie stif­tet an zur ima­gi­na­ti­ven Revol­te, die jeder poli­ti­schen unein­hol­bar vor­aus­läuft. Die moder­ne Poe­tik und Poe­sie (von Nova­lis und Höl­der­lin bis Bre­ton) ist die Erin­ne­rung dar­an, dass die Men­schen sich und ihre Welt stets noch eher geträumt als bear­bei­tet haben. Wo gegen die sozia­le und natu­ra­le Rea­li­tät geträumt wird, wo Gesich­te einer ganz ande­ren Rea­li­tät beschwo­ren wer­den, wo die Spra­che von der Arbeit des Iden­ti­fi­zie­rens und Infor­mie­rens ent­bun­den, das Bild von Beleh­rung und Jagd­zau­ber ent­pflich­tet wird, da begeg­nen, über Jahr­zehn­tau­sen­de hin­weg, die Tie­re an den Höh­len­wän­den von Las­caux denen von Franz Marc. „Seher“-Poeten (G. Bays, 1964), pro­fa­ne, athe­is­ti­sche Mys­ti­ker, haben die „orphi­sche Welt­deu­tung“ (Mall­ar­mé) in die Moder­ne hinübergerettet.

Die Erfah­rung, dass unse­re Welt stän­dig durch tech­nisch stets effi­zi­en­te­re, pro­fi­ta­bel ver­wert­ba­re Arbeit ver­än­dert wird, dass immer neue tech­ni­sche „Revo­lu­tio­nen“ ein­an­der fol­gen, hat dazu geführt, dass die nicht-tech­ni­schen Prak­ti­ken der Welt­ver­än­de­rung – Kri­tik, Kunst und Revo­lu­ti­on – ent­wer­tet wur­den und in Ver­ges­sen­heit gera­ten sind. Dage­gen haben Marx, Freud und die roman­tisch-sym­bo­lis­tisch-sur­rea­lis­ti­schen Poe­to­lo­gen Ein­spruch erhoben.

Bre­ton (1936-53, S. 76) kom­men­tier­te (1947) einen Auf­satz von Tho­mas de Quin­cey über den Traum mit den Wor­ten: „Man kann nicht gründ­lich genug über [Quin­ceys] Bemer­kun­gen nach­den­ken in einer Zeit, in der die Träu­me von Rin­dern alle ande­ren Träu­me zu erset­zen trach­ten [und] in der selbst der Sozia­lis­mus zu ver­ges­sen scheint, daß er aus dem (Wach-)Traum von einem bes­se­ren Zustand für alle her­vor­ge­gan­gen ist“. Die Sur­rea­lis­ten woll­ten die ima­gi­na­ti­ve mit der poli­ti­schen Revo­lu­ti­on amal­ga­mie­ren. Auf der Suche nach dem „Unbe­kann­ten“, „Über­ra­schen­den“, durch­streif­ten sie – letz­te Fla­neu­re – den stei­ner­nen Sym­bol­wald von Paris (Ara­gon, 1926). Ihre Expe­ri­men­te gal­ten der Pro­vo­ka­ti­on des „objek­ti­ven Zufalls“. „Objek­ti­ver Zufall“ ist die Situa­ti­on, in der man auf rea­le Ent­spre­chun­gen des­sen stößt, was man immer erhoff­te und fürch­te­te, in der die Welt punk­tu­ell ihre Fremd­heit ver­liert, auf unse­re Fra­gen zu ant­wor­ten scheint; wo es so aus­sieht, als sei der Tisch just für uns gedeckt, die Sze­ne gera­de für uns gestellt, das Strand­gut des gro­ßen Mee­res uns vor die Füße gerollt. Und irgend­wo in der Men­ge, auf den Stra­ßen, hin­ter allen Bil­dern und mys­te­riö­sen Objek­ten war­tet die Trou­vail­le [das glück­li­che Fund­stück] der Trou­vail­len, die (oder der) schö­ne Unbe­kann­te, so wie Bre­tons „Nad­ja“, die Inkar­na­ti­on der Poe­sie, an der eine bedin­gungs­lo­se Lie­be, „l’amour fou“, sich ent­zün­den kann (Bre­ton, 1928; 1937).

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In ihrem Kampf gegen die mise­ra­ble Rea­li­tät such­ten die Erben der Roman­tik und des Sym­bo­lis­mus zeit­ge­nös­si­sche Bun­des­ge­nos­sen. Bre­ton fand sie in Freud, der mit Hil­fe „frei­er Asso­zia­tio­nen“ eige­ne und frem­de Träu­me gedeu­tet und so das Unbe­wuss­te – eine Wirk­lich­keit hin­ter der Wirk­lich­keit – erforscht hat­te, und im Revo­lu­tio­när und His­to­ri­ker Trotz­ki, des­sen Erin­ne­rungs­buch Über Lenin (1924) Bre­ton für den Bol­sche­wis­mus gewon­nen hatte.

Als Erben der Roman­ti­ker und der Sym­bo­lis­ten revo­lu­tio­nier­te die Grup­pe um Bre­ton die Poe­sie und die (figu­ra­ti­ve) Male­rei. Um „das Leben“ zu ändern, nicht nur das von pri­vi­le­gier­ten Intel­lek­tu­el­len- und Künst­ler­grup­pen, son­dern das aller Men­schen, such­ten sie Bun­des­ge­nos­sen in der sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­ren Bewe­gung ihrer Zeit. Zuerst wand­ten sie sich (in den Jah­ren 1927-1933) an die bereits sta­li­ni­sier­te fran­zö­si­sche KP (unter Dori­ot und Tho­rez), doch deren Funk­tio­nä­re ver­lang­ten von den Bohé­mi­ens Par­tei­ar­beit, Agi­ta­ti­on und Lini­en­treue (auch in Fra­gen der Kunst), also die Selbst­auf­ga­be. Die­ser For­de­rung nach bedin­gungs­lo­ser Kapi­tu­la­ti­on kamen im Lau­fe der Zeit sowohl Lou­is Ara­gon als auch Paul Éluard und Tris­tan Tzara nach, Freun­de Bre­tons und Dada­is­ten-Sur­rea­lis­ten der ers­ten Stunde.

Bre­ton und ande­re – wie etwa Ben­ja­min Péret –, die in den spon­ta­nen, von kei­ner Par­tei kon­trol­lier­ten Arbei­ter­ak­tio­nen im Spa­ni­en der Jah­re 1936/37 ein Pen­dant ihrer eige­nen künst­le­ri­schen Pra­xis im Feld der sozia­len Kämp­fe sahen, lehn­ten sich an die anti­sta­li­nis­ti­sche IV. Inter­na­tio­na­le Trotz­kis – und spä­ter an anar­chis­ti­sche und huma­ni­tä­re Grup­pen – an, mit deren poli­ti­schen Zie­len sie sich soli­da­ri­sie­ren konn­ten, ohne auf ihre künst­le­risch-intel­lek­tu­el­le Unab­hän­gig­keit ver­zich­ten zu müs­sen. Bre­ton, seit 1924 Wort­füh­rer der sur­rea­lis­ti­schen Künst­ler-Bewe­gung, und sei­ne Freun­de haben ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten der Koope­ra­ti­on von künst­le­ri­scher Avant­gar­de und Arbei­ter­be­we­gung – bezie­hungs­wei­se Par­tei­or­ga­ni­sa­tio­nen – erprobt und als Leh­re aus ihren Erfah­run­gen fest­ge­hal­ten, dass die Wege der Kunst und die der Poli­tik, mögen sie sich auch hin und wie­der kreu­zen, prin­zi­pi­ell ver­schie­de­ne sind.

So ist die Klä­rung des Ver­hält­nis­ses von Bohè­me und Arbei­ter­be­we­gung auch eine der Lek­tio­nen, die die Geschich­te des Sur­rea­lis­mus ver­mit­telt. Nicht ein­mal in Frank­reich wur­de sie ver­stan­den, wie etwa das Bei­spiel Sar­tres zeigt, der noch 1947 die Sur­rea­lis­ten im Namen einer „lit­te­ra­tu­re enga­gée“ her­un­ter­putz­te, um sich dann nach 1956 – also zwei, drei Jahr­zehn­te nach Bre­ton –, doch zur Auto­no­mie der Lite­ra­tur zu beken­nen. Auch die deut­schen Emi­gran­ten, die 1937/38 in der (von Brecht, Feucht­wan­ger und Bre­del her­aus­ge­ge­be­nen) Zeit­schrift Das Wort über den pro­gres­si­ven oder reak­tio­nä­ren Cha­rak­ter des Expres­sio­nis­mus strit­ten (aus dem meh­re­re von ihnen her­vor­ge­gan­gen waren) und über einen eng oder wei­ter zu fas­sen­den, Shel­ley ein- oder aus­schlie­ßen­den Begriff von „Rea­lis­mus“ debat­tier­ten, haben in ihrer Mehr­heit die zehn Jah­re frü­her begon­ne­ne und zu ihrer Zeit fort­ge­führ­te fran­zö­si­sche Debat­te über die Legi­ti­mi­tät sur­rea­lis­ti­scher Lite­ra­tur und Male­rei eben­so igno­riert wie das Schick­sal ihrer rus­si­schen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen im Stalin’schen Mas­sen­ter­ror. Die dama­li­gen Geg­ner von Georg Lukács und Alfred Kurel­la – Bloch, Eis­ler und Brecht – hät­ten viel dar­aus ler­nen und in Bre­ton, der 1937 einen „offe­nen Rea­lis­mus“ for­der­te, einen Ver­bün­de­ten begrü­ßen können.

*

Eine inter­na­tio­na­lis­tisch ori­en­tier­te Künst­ler­be­we­gung, die sich als Teil der anti­ka­pi­ta­lis­tisch-anti­bü­ro­kra­ti­schen Revo­lu­ti­on ver­stand und das drei­fäl­ti­ge Ziel ver­folg­te, „die Welt [zu] ver­än­dern, das Leben [zu] ändern, die Ver­stän­di­gung unter den Men­schen neu [zu] begrün­den“ (Bre­ton, 1981, S. 68 f.), eine Bohè­me-Orga­ni­sa­ti­on, die, um der Frei­heit des indi­vi­du­el­len Aus­drucks wil­len, ihre Unab­hän­gig­keit auch gegen­über Orga­ni­sa­tio­nen wahr­te, die als „Par­tei der Frei­heit“ fir­mier­ten, wie es im anti­to­ta­li­tä­ren Mani­fest der im Som­mer 1938 von Bre­ton, Trotz­ki und dem mexi­ka­ni­schen Mura­lis­ten Die­go Rive­ra gegrün­de­ten – und als­bald vom Krieg ver­schlun­ge­nen – „Fédé- rati­on Inter­na­tio­na­le de l’Art Révo­lu­ti­on­n­aire Indépendant“
(F.I.A.R.I.) heißt, hat es weder vor, noch nach den Sur­rea­lis­ten gege­ben. Was da, am Vor­abend des Zwei­ten Welt­kriegs als Mög­lich­keit auf­leuch­te­te, harrt, wie ande­re Ver­hei­ßun­gen des Sur­rea­lis­mus, noch sei­ner Stunde.

Im Zeit­al­ter der tota­li­tä­ren Regime und der Propaganda-„Kunst“ ver­tei­dig­ten Trotz­ki, Bre­ton und Rive­ra im Mani­fest der F.I.A.R.I.4 die Unab­hän­gig­keit der Künst­ler und der Kunst, kei­ne „unpo­li­ti­sche“ Kunst, aber sehr wohl eine „l’art pour l’art“. War­um? Wegen deren kri­tisch-umstürz­le­ri­schem Poten­ti­al. „Auto­no­me“ Kunst setzt auto­no­me Künst­ler vor­aus, die ihre spe­zi­fi­sche Sen­si­bi­li­tät zu den herr­schen­den Ver­hält­nis­sen in Gegen­satz bringt und die die Eman­zi­pa­ti­on der aus­ge­beu­te­ten Klas­sen und der (in die­ser „Kul­tur“) unglück­li­chen Indi­vi­du­en zu ihrer Sache machen. Distanz zu ihrer Gegen­wart er- mög­licht es ihnen, die Unhalt­bar­keit der bestehen­den „Ord­nung“ (und deren Ver­än­der­bar­keit) wahr­zu­neh­men und die­sem kul­tu­rel­len Kon­flikt, der auch der ihre ist, Aus­druck zu ver­lei­hen, ihn zu gestal­ten, die Wahr­heit über die Gesell­schaft, in der wir leben, mit ihren Mit­teln sicht­bar zu machen.

In einem gegen Jah­res­en­de 1938 ver­fass­ten Brief an Bre­ton hat Trotz­ki den Typus des Künst­ler-Revo­lu­tio­närs, wie er ihm vor­schweb­te, und die Auf­ga­be einer revo­lu­tio­nä­ren Künst­ler­ver­ei­ni­gung wie folgt cha­rak­te­ri­siert: „In unse­rer Epo­che der Umwäl­zun­gen und der Reak­ti­on, des kul­tu­rel­len Ver­falls und der mora­li­schen Ver­wil­de­rung ist die unab­hän­gi­ge [künst­le­ri­sche] Schöp­fung per se revo­lu­tio­när, denn sie ent­springt der Suche nach einem Aus­weg aus der uner­träg­lich [ver­fah­re­nen] gesell­schaft­li­chen Situa­ti­on. Mit ihren spe­zi­fi­schen Metho­den muss die Kunst, muss jeder ein­zel­ne Künst­ler, ohne auf irgend­wel­che Anwei­sun­gen zu war­ten, sich auf die Suche nach einem Aus­weg machen. Die Künst­ler soll­ten jedes Kom­man­do ableh­nen und all’ jene ver­ach­ten, die sich [poli­ti­schen] Vor­schrif­ten unter­wer­fen.“5

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Bre­ton kehr­te 1946 aus sei­nem Zufluchts­land, den USA, nach Paris zurück. Doch im Nach­kriegs­eu­ro­pa des „Kal­ten Krie­ges“ und der „fried­li­chen Koexis­tenz“ – unter dem Damo­kles-Schwert des nuklea­ren „Gleich­ge­wichts des Schre­ckens“ – hat­te der Sur­rea­lis­mus kaum mehr Chan­cen, aus der Kunst ins Leben über­zu­tre­ten. Nach den, allen „Bewältigungs“-Versuchen trot­zen­den, tief ver­dräng­ten Schock-Erfah­run­gen, die wir mit den Namen „Archi­pel GULag“, „Ausch­witz“ und „Hiro­shi­ma“ bezeich­nen, nah­men sich die künst­le­ri­schen Sen­sa­tio­nen, mit denen die Sur­rea­lis­ten in den zwan­zi­ger und drei­ßi­ger Jah­ren die Öffent­lich­keit auf­zu­we­cken ver­sucht hat­ten, harm­los aus.

Im Febru­ar 1948 schrieb Bre­ton (1981, S. 91): „In der Tie­fe die­ser ver­pes­te­ten Pas­sa­ge, in der wir uns heu­te befin­den, ist es nahe­zu unmög­lich, Atem zu schöp­fen. Es han­delt sich näm­lich um den Über­gang von dem soge­nann­ten Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger-Uni­ver­sum, dem unvor­stell­bars­ten, zu einem durch­aus mög­li­chen Nicht-Uni­ver­sum […]. Außer Zwei­fel steht, dass das Bewusst­sein selbst ange­grif­fen und in sei­ner Sub­stanz bedroht ist. Es hat eine Mas­se von Bewusst­lo­sig­keit und Sorg­lo­sig­keit gegen sich, die die Gefahr erst in dem Augen­blick erkenn­bar wer­den lässt, da ihr nicht mehr vor­ge­beugt wer­den kann […]. Das Bewusst­sein hat zugleich das kom­pak­te Getrie­be gut­ge­schmier­ter Rou­ti­nen gegen sich, das die Men­schen viel­leicht auch dann noch in Bewe­gung hält, wenn nur noch eine Hand­voll von ihnen auf der Erde übrig ist.“

Doch dann brach­te die Nach­kriegs­zeit nicht nur die welt­wei­te „Kolo­ni­al­re­vo­lu­ti­on“, son­dern auch die anti­sta­li­nis­ti­schen Revol­ten (1953, 1956, 1968 und 1980) sowie den schließ­li­chen Unter­gang des Regimes der Sta­lin-Erben. Und in den sech­zi­ger Jah­ren brach eine neue Gene­ra­ti­on das Schwei­gen ihrer Alt­vor­dern über die Gräu­el des Hit­ler­fa­schis­mus und des Zwei- ten Welt­kriegs und revol­tier­te inter­na­tio­nal gegen den damals aktu­el­len Krieg der USA und ihrer Ver­bün­de­ten gegen Viet­nam und Kam­bo­dscha. Schließ­lich erneu­er­ten die rebel­lie­ren­den Stu­die­ren­den im Pari­ser Mai 1968 (knapp zwei Jah­re nach dem Tod Bre­tons) sogar den Traum von einer ganz ande­ren Ein­rich­tung des gesell­schaft­li­chen und indi­vi­du­el­len Lebens; sie erhiel­ten Deckung von 10 Mil­lio­nen strei­ken­den Arbei­te­rin­nen und Arbei­tern und scheuch­ten den Gene­ral de Gaul­le, der bei der Armee Hil­fe such­te, ins deut­sche Baden-Baden (zum Gene­ral Massu). Plötz­lich war der „Sur­rea­lis­ti­sche Komet“ wie­der da, und am Him­mel von Paris leuch­te­te die Paro­le „Die Phan­ta­sie an die Macht!“ auf.

Der Sur­rea­lis­mus war die vor­läu­fig letz­te Revol­te der non­kon­for­mis­ti­schen Künst­le­rin­nen und Künst­ler und ihrer Kunst gegen die bestehen­de Gesell­schaft. Er ist eben­so inak­tu­ell wie unein­ge­löst, und eine neu­er­li­che Emeu­te der inter­na­tio­na­len Artis­tin­nen und Artis­ten ist so wünsch­bar wie ein neu­er­li­cher Ver­such der abhän­gig beschäf­tig­ten und unbe­schäf­tig­ten Bevöl­ke­rung West- und Ost­eu­ro­pas, das Schick­sal zu sabo­tie­ren, auf das die Ren­di­ten­wirt­schaft unter Ägi­de ihrer Pro­fi­teu­re – der Olig­ar­chen, Kri­sen­ver­wal­ter und nuklea­ren Apo­ka­lyp­ti­ker – zutreibt.


End­no­ten
1 Bre­tons (von Éluard ver­le­se­ne) Rede vor dem „Schrift­stel­ler­kon­greß zur Ver­tei­di­gung der Kul­tur“ (Juni 1935): „Dis­cours au Con­grès des Écri­vains“ (Bre­ton, 1935, S. 95).
2 Ara­gon, Éluard, Naville, Péret, Sou­pault und andere.
3 Sein Arran­ge­ment der Zita­te und „Gedan­ken­ver­schlin­gun­gen, wie sie immer dann auf­tau­chen, wenn Bre­ton ein Pro­blem theo­re­tisch zu lösen ver­sucht, haben mit Phi­lo­so­phie so wenig zu tun wie geträum­te Argu­men­te mit denen, die nach den Regeln der Logik gebil­det sind. Ihre Logik ist eben [eine] Traum­lo­gik.“ Lenk (1971), a. a. O. 
4 Rüdi­ger Hof­mann hat eine brauch­ba­re Über­set­zung die­ses Mani­fests her­ge­stellt, die sich in der von G. Met­ken (1976) her­aus­ge­ge­be­nen Sur­rea­lis­mus-Doku­men­ta­ti­on (S. 183-187) findet. 
5 Fran­zö­sisch dik­tier­ter Brief an Bre­ton („Die Auf­ga­ben der F.I.A.R.I.“) vom 22.12.1938. Trots­ky, Œuvres, Bd. 19, Paris (Insti­tut Léon Trots­ky) 1985, S. 279-281.

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Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Janu­ar 2025
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