Lehren aus einem Wiener Skandal
„Wenn der Vizi mit Komplizi auf Ibizi wird zum Strizzi…“1
Helmut Dahmer
Von athenischer, amerikanischer, britischer, französischer, israelischer, auch deutscher (Repräsentativ-) „Demokratie“ ist tagaus, tagein die Rede. Dabei wer-den die Voraussetzungen dieser höchst verschiedenartigen, im besten Fall das allgemeine Wahlrecht der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger garantierenden Staatsformen gewohnheitsmäßig beschwiegen oder stillschweigend vorausgesetzt.
Vorausgesetzt werden zum Beispiel die (verfassungsrechtlich gesicherte) Existenz mehrerer Parteien mit verschiedenartigen Programmen, mit demokratischer Binnenstruktur und annähernd gleichen Werbemöglichkeiten, sowie zum einen die Vormachtstellung des (gesetzgebenden) Parlaments gegenüber der Exekutive und die Unabhängigkeit der Justiz (als der „dritten Gewalt“). Schon diese „Voraussetzungen“ sind nur in wenigen Staaten der Gegenwart anerkannt und auch dort, wo sie „garantiert“ sind, ständig umstritten.
Fragen wir aber weiter, nach der alltäglichen Anteilnahme am politischen „Geschehen“ oder gar nach der Einflussnahme der Wahlberechtigten auf „die Politik“, also nach ihrer politischen Aktivität, die der Begriff der „Demokratie“ voraussetzt oder doch verheißt, so stoßen wir auf politisch apathische Mehrheiten, aus denen sich von Zeit zu Zeit aktivistische Minderheiten lösen, deren Forderungen, wenn überhaupt, dann nur in verwaschener Form von Parteien aufgenommen werden und selten zu einer Modifikation bestehender Gesetze führen. (Man denke an den seit Generationen andauernden Kampf um die Arbeitszeitverkürzung oder an den Kampf für die Abschaffung der Strafbarkeit von Abtreibung oder Homosexualität, der bisher nur in wenigen, prosperierenden Staaten zum Erfolg geführt hat.) Stellen wir also nicht nur (abstrakte) Teilnahme-Rechte in Rechnung, sondern fragen nach realen Teilnahme- und Einflusschancen, so wird im Hintergrund der Presse- und Parlamentsbühne, auf der die Berufspolitikerinnen und -politiker agieren – die mit dem Anspruch auftreten, sie verträten die (zumeist schweigende) Mehrheit – die inhomogene Gesellschaft sichtbar, differenziert nach Klassen und Schichten (Eigentum, Bildungsgrad, Beruf), nach Ethnien, Religionen, Hautfarben und Geschlechtern.
In dieser, unserer Gesellschaft wird der Zusammenhang der vielen Einzelnen längst nicht mehr (wie in älteren, traditionalen Gesellschaften) durch direkte Gewalt und eine für alle verbindliche Moral gewährleistet, sondern durch „die gefühllose, bare Zahlung“. Geld und nur Geld ermöglicht „Politik als Beruf“, Geld und nur Geld ermöglicht politische Kandidaturen und Wahlkämpfe, kurz: eine relevante Einflussnahme auf den politischen Prozess. Darum ist die parlamentarische Demokratie, die als Mehrheits-Regime firmiert, ein verkapptes Minderheits-Regime.
Unter der Decke der Mehrheits-Stimmen-Demokratie lebt das alte Zensuswahlrecht fort: Jede und jeder kann wählen, aber nicht jede und jeder kann sich Kandidierende, Abgeordnete, Parteien oder Parlamentsmehrheiten wie Fußballmannschaften kaufen, geschweige denn Fernsehsender, Zeitungen oder „soziale Medien“. Politikerinnen und Politiker, Parteien, Staatsapparat und Staatsquote hängen an der Nabelschnur der Wirtschaft – in steter Furcht vor einem möglichen „Streik“ der „Investoren“. Durch die Pipeline der Parteien- und Wahlkampf-Finanzierung, die die Parteien zu Quasi-Staatsparteien oder zu Schwarzgeld-Parteien macht, fließt ein steter Strom von Betriebsmitteln, der nebenbei dem politischen Personal – durch Geschäfte auf Gegenseitigkeit – lukrative Bereicherungschancen eröffnet.#
Korruption
„Korruption“ ist die (demokratisch-kritische) Bezeichnung für die Gesamtheit jener Beziehungen zwischen Wirtschaft und Staat, die es Finanzkapitalisten ermöglichen, heute wie gestern (selbst unkontrolliert) Kontrolle über Mammut-Investitionen oder Nicht-Investitionen sowie Parteien und Parlamente auszuüben, und die es (auf der anderen Seite) dem Staat ermöglichen, dies asymmetrische Verhältnis (von Wirtschafts- und Staatsmacht) zu verwalten und in diesem Geschäft „bewährte Staatsdiener“ wie Manager fürstlich (mit Aufsichtsratsposten und hohen Pensionen) zu belohnen.
„Korruption“ ist die Achillesferse scheinparlamentarischer und parlamentarischer Republiken. Sie ist unausrottbar, weil sie zum einen die Politik der (profitablen) Wachstums- und Beschäftigungssicherung korrigieren hilft, sobald deren Akteure (auf der Jagd nach Wählerstimmen) sozialstaatlichen Versuchungen allzu sehr nachgeben, also potenzielle „Investoren“ „abschrecken“ könnten, zum andern, weil sie den Job der „Volksvertreter“, also der Krisen- und Ungleichheits-Verwalter, erst lukrativ macht (und deren Zirkulation in der „Power-Elite“ in Gang hält).
Wenn von „Demokratie“ als Regierungssystem die Rede ist, ohne deren wirtschaftliche Voraussetzungen in den Blick zu nehmen, wird „Demokratie“ zur Ideologie. Hegel schrieb, in den orientalischen Despotien sei nur ein Mensch frei gewesen, eben der Zentral-Despot, in den antiken griechisch-römischen Sklavenhaltergesellschaften seien dann einige Menschen frei gewesen, nämlich die nicht arbeitenden männlichen Stadtbürger – freigestellt für Politik (Gesetzgebung) und Kriegsdienst. In den christlich geprägten, modernen (europäischen) Gesellschaften seien schließlich im Prinzip alle frei… (Der Hegel-Schüler Marx präzisierte, sie seien frei, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, oder frei, durch den Kauf von Arbeitskraft ihr Kapital zu mehren).
Es gab und gibt „Demokratien“, die Sklavenarbeit voraussetzen, koloniale Landnahme-„Demokratien“, Schein-Demokratien, die von Lebenszeit-Präsidenten oder Rackets [Verbrecherbanden] beherrscht werden, und auf freier Lohnarbeit basierende Demokratien wie die unsere. Kapitalistische Wirtschaften wurden und werden mit den unterschiedlichsten Regimen „überbaut“ und von ihnen verwaltet. Sie sind mit Monarchien, Despotien, „bonapartistischen“ Militärdiktaturen (die sich von Zeit zu Zeit auf Plebiszite stützen), mit „ständestaatlichen“ und faschistischen Diktaturen, Ein-Partei-Diktaturen (China) oder eben auch mit parlamentarischen Republiken verträglich.
Parteien und Parlamente sind also keineswegs die „natürliche“ oder doch die „ideale“ Staatsform kapitalistischer Gesellschaften, sondern die Ausnahme. Im besten Fall existieren sie als „demokratische“ Inseln inmitten vordemokratischer Verhältnisse, wie sie in Familien, Betrieben, Büros und Armeen vorherrschen. Diese Inseln sind – wie Halligen – ständig von Überflutung bedroht.
Gelingt es (in relativ krisen- und kriegsfreien Zeiten) nicht, auch den wirtschaftlichen „Unterbau“ parlamentarischer Demokratien öffentlicher Kontrolle zu unterwerfen (durch „Sozialisierung“ oder in Gestalt einer „Wirtschaftsdemokratie“), so wird sich der vor-demokratische Unterbau des „unpassenden“ „Überbaus“ wieder entledigen. Das Militär putscht oder faschistische Demagogen machen dem parlamentarischen „System“ den Garaus, gestützt auf eine von ihnen organisierte Massenbewegung all’ derer, die von Wahlen und Parlamenten enttäuscht sind. (Das lehrt unter anderen die Geschichte der ersten deutschen, der „Weimarer“ Republik.)
Der Kampf gegen „Korruption“ wird gegenwärtig in vielen Ländern geführt, ohne dass der internationale Charakter dieser Kämpfe den Beteiligten schon bewusst wäre. Von Rumänien bis Perú kämpfen Demonstrierende für eine Demokratie ohne Korruption. Das wäre eine, die ihren „Unterbau“ unter demokratische Kontrolle gebracht hätte. Bisher können aber die Wähler nicht einmal das Repräsentativ- oder „Stellvertreter“-System, geschweige denn die (stets auf Verselbständigung erpichten) Exekutiv-Organe kontrollieren.
Wer von Ungleichheit, von „Oligarchen“ oder „Finanzkapitalisten“ nicht reden will, braucht auch nicht über Korruption zu jammern. Denn der Kampf gegen Korruption ist aussichtslos, wenn er im Moralisieren und Pönalisieren stecken bleibt, was allenfalls dazu führt, dass heute dieser, morgen jener Präsident oder Minister für ein paar Jahre ins Gefängnis wandert. Es geht darum, die Quellen der Korruption zu verstopfen, also die ungeheuren Vermögen, die die „Eliten“ in aller Herren Ländern vermöge des Privateigentums an Produktionsmitteln an sich gebracht haben, unter demokratische Kontrolle zu bringen.
Skandal
Nur in diesem Zusammenhang ist auch der Skandal um den österreichischen Vize-Kanzler Strache von Interesse. Dieser FPÖ-Agitator im Kanzler-Habit aus der Schule des vor Jahren verunglückten Jörg Haider hat seit Jahren mit Wahlkampf-Parolen wie „Abendland in Christenhand“ oder „Wien darf nicht Istanbul werden“ um die Stimmen derer geworben, die sich „abgehängt“ fühlen. Infolge der Untätigkeit der sozialdemokratischen SPÖ konnte er noch bei den Europa-Wahlen im Mai dieses Jahres (also nach der Teil-Veröffentlichung der „Ibiza-Videos“) mit der Losung „Jetzt erst recht!“ 18 Prozent der Stimmen einfahren.
Strache war im Juli 2017 – in einem Landhaus auf Ibiza – mit einer Schauspielerin zusammengebracht worden, die die investitionslustige Nichte eines russischen Oligarchen mimte, woraufhin der Vizekanzler der Republik ihr verschiedene Geschäfte auf Gegenseitigkeit vorschlug – vom Erwerb der Kronen Zeitung und der Privatisierung eines Teils des Senders ORF bis zur Vergabe öffentlicher Aufträge an ein (noch zu gründendes) großes Bau-Unternehmen und zu den Möglichkeiten, bedeutende Partei-Spenden zu kaschieren.2
Das 7-stündige Gespräch auf Ibiza wurde heimlich gefilmt, Auszüge erschienen am 17.05.2019 (also kurz vor der Europawahl) in der deutschen Presse. Möglicherweise erfolgte bereits die von Straches Parteifreund, dem Innenminister Kickl, im Februar dieses Jahres angeordnete Durchsuchung des österreichischen Bundesamts für Verfassungsschutz aus Furcht vor den Folgen einer Veröffentlichung der Ibiza-Videos. Und vielleicht war auch die (am 23. Mai 2019, in Erwartung des Sturzes der Regierung des Kanzlers Kurz erfolgte) illegale Vernichtung von fünf Drucker-Festplatten mit geheimen Informationen aus dem Kanzleramt von dieser Furcht diktiert. (Dieser „Schredder-Skandal“ wurde erst gegen Ende Juli 2019 bekannt.)
Die Ibiza-Videos samt den nachfolgenden Verharmlosungs- und Vertuschungsmanövern von FPÖ und konservativer ÖVP sind ein Lehrstück über Möglichkeiten und Grenzen parlamentarischer Demokratien. Bertolt Brecht hätte kein besseres erfinden können. Österreichs Präsident van der Bellen sprach treffend von einem „Sittenbild“. Denn der Fall Strache zeigt die Abhängigkeit vieler Berufspolitiker vom „Unterbau“ parlamentarischer Demokratien ebenso wie die Unabhängigkeit der Gewählten von denen, die sie gewählt haben; Strache wird zum Symbol von Machtgier und Käuflichkeit werden.
Goethe, der wohl die Französische Revolution, nicht aber die parlamentarischen Demokratien unserer Tage kannte, hat es vorausgesehen: „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles…“3
(Wien, 27.07.2019)