H. S.
Die von den Gewerkschaften noch im letzten Jahr vorbereiteten oder geplanten Tarifauseinandersetzungen sind entweder ausgesetzt oder provisorisch, mit einem denkbar schlechten Ergebnis wie in der Metall- und Elektroindustrie, abgeschlossen worden. Die Corona-Krise trifft die Gewerkschaften empfindlich. Die Frage ist, welche Optionen ihnen unter den aktuellen Bedingungen bleiben und welche sie nutzen.
Stillstand und Sonderschichten
Die Lage konnte unterschiedlicher nicht sein. In der Autoindustrie sind die Beschäftigten zunächst in Kurzarbeit geschickt worden. Kitas und Jugendeinrichtungen wurden geschlossen. Hingegen wurden und werden z. B. in der Lebensmittelproduktion und teilweise in der Chemie- und Pharmabranche Sonderschichten gefahren, um die gestiegene Nachfrage zu befriedigen.
Wo der Laden ohnehin in Kurzarbeit ist, geht das wichtigste Druckmittel, der Streik, verloren. Die IG Metall hat sich in NRW zum Pilotabschluss auch für die anderen Tarifgebiete drängen lassen. In den abgeschlossenen Tarifverträgen finden sich die ohnehin niedrigen Forderungen kaum berücksichtigt.
Verschoben sind aber auch Tarifrunden in Bereichen mit dem neuen Gütezeichen „systemrelevant“, in denen es besonders viele Gründe für Streiks gäbe. Öffentliche Aufmerksamkeit wie verbale Dankbarkeit sind jedenfalls so groß wie nie. Etwa in der Lebensmittelbranche könnte derzeit wirksam Druck erzeugt werden, aber die Gelegenheit wird nicht genutzt. Die zuständige Gewerkschaft NGG befürchtet, dass es kein Verständnis für einen Ausstand in der jetzigen Situation gäbe. Der NGG-Apparat hofft, später die Dynamik vom Anfang der Tarifrunde wiederbeleben zu können.
Könnte nicht wenigstens Ver.di für die im öffentlichen Dienst Beschäftigten mehr Geld einfordern, da doch der Staat gerade Milliarden vor allem für Großunternehmen locker macht? Ver.di erklärt die Verschiebung der ErzieherInnen-Tarifrunde mit organisatorischen Problemen, mitgliederstarke Verhandlungskommissionen unter Corona-Be- dingungen zusammenzubringen. An einen Tisch setzen könnten sie sich nicht, und digitale Verfahren, die demokratische Beteiligung und Meinungsbildung absichern, seien nicht eingeübt. Die Gewerkschaft erklärt sich damit selber für handlungsunfähig.
Gewerkschaften stärker gefordert
Für die Gewerkschaften steht die unmittelbare Krisenbewältigung im Vordergrund, dabei sind sie gefordert wie lange nicht mehr. Es gilt, Arbeitsplätze und Entgelte zu sichern und Angriffe von Unternehmen abzuwehren, die versuchen, aus der Krise Kapital zu schlagen. Es ist zu befürchten, dass jetzt tarifliche Standards und Betriebsverfassungsrechte geschliffen werden, die später kaum oder gar nicht mehr wiederhergestellt werden können.
Von wenigen Ausnahmen, wie der Mannheimer IG Metall, ist der Großteil der hauptamtlichen SekretärInnen ins Homeoffice abgetaucht und steht für die Arbeit vor Ort kaum zur Verfügung. Für Betriebsräte und Vertrauensleute wird es dadurch noch schwieriger dagegen zu halten. Ganz zu schweigen von den Firmen, in denen es keine oder nur sehr schwache Betriebsräte und Vertrauenskörper gibt.
Wo es keine Umsetzung des Betriebsverfassungsgesetzes und keine engagierten Betriebsräte gibt, werden die Interessen der Beschäftigten schon jetzt massiv untergebuttert.
Wenn die Gewerkschaften während der Corona-Krise nicht sichtbar aktiv werden, wird dies das Vertrauen in die Gewerkschaften weiter schwächen und die notwendige Mobilisierung für die anstehenden Auseinandersetzungen massiv erschweren.
Profitlogik in Frage stellen
In linken Zusammenhängen wird überlegt, wie angesichts der Corona-Krise die Diskussion über ein nicht profitorientiertes Wirtschaftssystem gefördert werden kann. Ein Anknüpfungspunkt ist die Stärkung gesellschaftlich kontrollierter Bereiche. Vielen Menschen wird derzeit die Bedeutung einer funktionierenden öffentlichen Infrastruktur erst richtig bewusst.
Es müssen jetzt grundsätzliche Fragen über die Funktionsweise des Kapitalismus aufgeworfen werden. Über die neoliberale Privatisierungsstrategie nicht zuletzt auch im Gesundheitsbereich oder über die Tatsache, dass die Profitmaximierung Umwelt und Klima zerstört.
Wenn derzeit staatliche Subventionen im dreistelligen Milliardenbereich für Konzerne zur Verfügung gestellt werden, die bis vor kurzem Rekorddividenden an die AktionärInnen ausgeschüttet haben, dann zeigt das, was politisch möglich ist.
Es ist und bleibt eine zentrale politische Aufgabe der Gewerkschaften, die Profitorientierung und die hieraus resultierenden negativen Konsequenzen für Mensch und Natur immer wieder aufzudecken und zu skandalisieren. Die Corona-Krise zeigt: Der Kampf für antikapitalistische Gegenmacht steht aktuell auf der Tagesordnung!