Ira­ni­sches Regime durch bei­spiel­lo­se Revol­te erschüttert

Bah­man Ajang 
(Mitt­woch, 28. Sep­tem­ber 2022)

Nach dem Tod von Mah­sa-Jina Ami­ni, einer 22-jäh­ri­gen Kur­din, in Poli­zei­ge­wahr­sam, kam es am Frei­tag, den 16. Sep­tem­ber, zu Pro­tes­ten im Iran. Sie war am Diens­tag, den 13. Sep­tem­ber, von der Sit­ten­po­li­zei ver­haf­tet wor­den, weil eini­ge Sträh­nen ihres angeb­lich “unan­stän­di­gen” Haa­res aus ihrer isla­mi­schen Klei­dung her­aus­schau­ten, und zwar in Anwen­dung von Arti­kel 638 des Straf­ge­setz­bu­ches der Isla­mi­schen Republik.

Geballte Faust in Farben der iranischen Flagge.

Geball­te Faust in Far­ben der ira­ni­schen Flagge.

Bei den ers­ten Pro­tes­ten stan­den Frau­en an vor­ders­ter Front, die ihre Haa­re abschnit­ten und ihre Kopf­tü­cher in der Öffent­lich­keit ver­brann­ten, um dem Hid­schab-Gesetz zu trot­zen. Im Gegen­satz zu den Ein­zel­in­itia­ti­ven von 2017-2018 wird das Kopf­tuch dies­mal kol­lek­tiv abge­nom­men, was zu einer direk­ten Kon­fron­ta­ti­on mit den Behör­den führt.

Eine Frau­en­re­vol­te, die aus der Fer­ne kommt
Der Schlei­er­zwang ist eine der ideo­lo­gi­schen Grund­la­gen die­ses patri­ar­cha­li­schen und theo­kra­ti­schen Regimes. Sie wur­de den Frau­en gewalt­sam auf­er­legt, obwohl sie 1979 mas­siv dage­gen mobi­li­siert hat­ten. Nach 43 Jah­ren der Pro­tes­te rücken nun femi­nis­ti­sche For­de­run­gen in den Vor­der­grund der poli­ti­schen und sozia­len For­de­run­gen, die bei den Demons­tra­tio­nen vor­ge­bracht werden.

Ein Grund für die der­zei­ti­ge Ableh­nung der Frau­en ist, dass sie in allen Berei­chen des sozia­len, poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Lebens prä­sent sind. Fast alle von ihnen sind des Lesens und Schrei­bens kun­dig und ver­fü­gen über ein Bil­dungs­ni­veau, das min­des­tens dem der Män­ner ent­spricht. Den­noch haben sie gro­ße Schwie­rig­kei­ten, einen Arbeits­platz zu fin­den, und sind daher auf das Haus beschränkt.

Die durch­schnitt­li­che Anzahl der Kin­der pro Frau liegt bei 1,6. Als Reak­ti­on dar­auf stellt das Gesetz vom 15. Novem­ber 2021 die Abtrei­bung unter Stra­fe. Es schränkt auch den Zugang zu Ver­hü­tungs­mit­teln und Vas­ek­to­mie erheb­lich ein. Gleich­zei­tig för­dert das Regime die frü­he Ver­hei­ra­tung vor dem Alter von 15 Jahren.

In den letz­ten zehn Jah­ren haben die Frau­en in die Inter­net­kom­mu­ni­ka­ti­on inves­tiert. Sie haben ihre Blogs und Online-Vide­os ver­viel­facht. In den Mona­ten vor Masha Ami­nis Tod schlos­sen sich Frau­en zu Anti-Hijab-Pro­test-Hash­tags zusam­men und pos­te­ten Vide­os von sich, wie sie mit unbe­deck­tem Kopf gehen oder auf der Stra­ße beläs­tigt werden.

Die Stär­ke des kur­di­schen Wider­stands gegen Unterdrückung
Bereits am 18. Sep­tem­ber kam es in Mah­sa-Jina Ami­nis Hei­mat Ira­nisch-Kur­di­stan zu Pro­tes­ten. Ab Mon­tag, dem 19. Sep­tem­ber, wur­den dort Gene­ral­streiks orga­ni­siert. Die Feind­se­lig­keit gegen­über dem Regime ist in die­sem Teil des Lan­des, in dem die Bevöl­ke­rung beson­ders unter­drückt wird, tra­di­tio­nell groß. Sie stre­ben nach Auto­no­mie und Demo­kra­tie und gehör­ten zu den ers­ten Kräf­ten der Oppo­si­ti­on gegen das isla­mi­sche Regime. Die Unter­drü­ckung ist dort beson­ders stark: Ein gro­ßer Teil der poli­ti­schen Gefan­ge­nen im Iran stammt aus die­ser Region.

Sozia­le und geo­gra­fi­sche Aus­deh­nung der Mobilisierungen
Aus­ge­hend von den Frau­en brei­te­te sich die Bewe­gung sehr schnell auf die Welt der Stu­die­ren­den aus. Sie erreich­te auch ande­re jun­ge Stadt­be­woh­ner, aber auch älte­re Menschen.

Alle von der Regie­rung nicht aner­kann­ten Gewerk­schaf­ten und Ver­bän­de unter­stütz­ten die Bewe­gung offen. So erklär­te bei­spiels­wei­se die Gewerk­schaft der Bus­ar­bei­ter von Tehe­ran und Umge­bung (VAHED) am 17. Sep­tem­ber, dass sie “die­ses Ver­bre­chen aufs Schärfs­te ver­ur­teilt” und “die straf­recht­li­che Ver­fol­gung, einen öffent­li­chen Pro­zess und die Bestra­fung aller für den Mord an Mah­sa Ami­ni Ver­ant­wort­li­chen for­dert”. Die struk­tu­rel­le, insti­tu­tio­na­li­sier­te und patri­ar­cha­li­sche Dis­kri­mi­nie­rung von Mäd­chen und Frau­en im Land muss ein Ende haben”.

Der Pro­test führ­te schnell zu einer wach­sen­den Zahl von Demons­tra­tio­nen im gan­zen Land, die inner­halb einer Woche bis zu 100 Städ­te, dar­un­ter alle grö­ße­ren, in Brand setz­ten. Ange­sichts des­sen hat die Repres­si­on bis­her mehr als 50 Tote, Hun­der­te von Ver­letz­ten und Tau­sen­de von Ver­haf­tun­gen im gan­zen Land zur Fol­ge gehabt.

Eine schnel­le Poli­ti­sie­rung der Bewegung
Die anfäng­li­chen Slo­gans, die sich im All­ge­mei­nen gegen die Sit­ten­po­li­zei rich­te­ten, wur­den sehr schnell durch Mas­sen­ge­sän­ge wie: “Tod dem Dik­ta­tor”, “Nie­der mit der Isla­mi­schen Repu­blik”, “Kein Schah, kein Obers­ter Füh­rer”, “Frau, Leben, Frei­heit” oder “Brot, Arbeit, Frei­heit”. Die Bewe­gung war von Anfang an hoch­gra­dig poli­ti­siert, und es han­del­te sich nicht mehr um eine rei­ne Protestbewegung.

Ein lang­jäh­ri­ger Wider­stand gegen das Regime und sei­ne neo­li­be­ra­le Politik
Die schnel­le Poli­ti­sie­rung der aktu­el­len Bewe­gung ist nicht über­ra­schend. In der Tat ist der Bruch zwi­schen dem Regime und der Bevöl­ke­rung total. Laut Umfra­gen staat­li­cher Insti­tu­tio­nen sind nur 12-14 Pro­zent der Bevöl­ke­rung für das Regime. Das Regime glaub­te, sei­ne Herr­schaft fes­ti­gen zu kön­nen, indem es die von den frü­he­ren Prä­si­den­ten Khat­a­mi und Rouha­ni ver­kör­per­ten “refor­mis­ti­schen” Ten­den­zen bei­sei­te schob. Er ernann­te Ebra­him Rai­isi, der von Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen wegen Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit ver­ur­teilt wur­de. Weit davon ent­fernt, “auf die Pro­ble­me des Lan­des zu reagie­ren”, hat sei­ne Poli­tik zu einer bei­spiel­lo­sen sozia­len Kri­se geführt: galop­pie­ren­de Infla­ti­on, Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit, zuneh­men­de Unsi­cher­heit und Ver­ar­mung der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung: Nach offi­zi­el­len Sta­tis­ti­ken leben 50 Pro­zent der ira­ni­schen Bevöl­ke­rung unter­halb der Armutsgrenze.

Seit meh­re­ren Jah­ren wird der Iran regel­mä­ßig von Volks­auf­stän­den unter­schied­li­chen Aus­ma­ßes erschüt­tert, die sich jedoch zumeist auf eine Rei­he von sozia­len, wirt­schaft­li­chen und öko­lo­gi­schen For­de­run­gen stüt­zen. Die­se Mobi­li­sie­run­gen rich­ten sich gegen die neo­li­be­ra­le Poli­tik, die von allen auf­ein­an­der­fol­gen­den Regie­run­gen der Isla­mi­schen Repu­blik seit dem Ende des ira­nisch-ira­ki­schen Krie­ges (1980-1988) umge­setzt wurde.

Die Auf­stän­de von 2017 und 2019 wur­den, um nur eini­ge zu nen­nen, gewalt­sam und blu­tig nie­der­ge­schla­gen. Eini­gen Quel­len zufol­ge wur­den im Jahr 2019 mehr als 1.500 Men­schen getö­tet. Ver­haf­tun­gen und stän­di­ge Schi­ka­nen gegen Akti­vis­tin­nen und Akti­vis­ten der Gewerk­schafts-, Stu­den­ten- und Frau­en­be­we­gung waren die ein­zi­gen Reak­tio­nen des Regimes, ohne dass es sozia­le Vor­schlä­ge gab. Die­se Repres­si­on hat nicht ver­hin­dert, dass im ver­gan­ge­nen Jahr 4122 Pro­test­be­we­gun­gen und -aktio­nen, Streiks und Sitz­streiks von Arbei­tern, Leh­rern und ande­ren Ange­stell­ten sowie Rent­nern statt­ge­fun­den haben. Ein abso­lu­ter Rekord in der Geschich­te der Isla­mi­schen Repu­blik. Die Reak­ti­on der Arbei­ter­be­we­gung auf die Herr­schaft von Prä­si­dent Rai­isi. Der Höhe­punkt die­ser Reak­ti­on war der gro­ße Streik der Beschäf­tig­ten in der Öl- und Petro­che­mie­in­dus­trie im ver­gan­ge­nen Som­mer, als mehr als 100.000 Beschäf­tig­te in die­sem Sek­tor dem Auf­ruf zur Mobi­li­sie­rung folgten.

Der Iran war Schau­platz von Was­ser­re­vol­ten, vor allem in Khu­ze­stan (2021), Isfa­han und Shah­re­kord (2022), die schnell eine poli­ti­sche Wen­dung nah­men und unter­drückt wurden.

Die Manö­ver der Nost­al­gi­ker der Schahdiktatur
Nach dem völ­li­gen Schei­tern der “refor­mis­ti­schen Strö­mung im Inne­ren des Staa­tes” und ihrer Dis­kre­di­tie­rung bei der gro­ßen Mehr­heit der Bevöl­ke­rung wur­de von den gro­ßen Medi­en im Exil, von denen eini­ge direkt von den Golf­mon­ar­chien und ihren ame­ri­ka­ni­schen Spon­so­ren unter­stützt und finan­ziert wur­den, eine Kam­pa­gne geführt. Mit eini­gen ver­ein­zel­ten Slo­gans, die wäh­rend der bei­den vor­an­ge­gan­ge­nen Auf­stän­de skan­diert wur­den, stell­ten sie den Sohn des Schahs (der in der Revo­lu­ti­on von 1979 gestürzt wur­de) als “Sym­bol der Ein­heit des Vol­kes” dar. Sie ver­such­ten, ihn als Ver­kör­pe­rung einer “Rück­kehr zu den mon­ar­chi­schen Wur­zeln des Iran” dar­zu­stel­len. Ihre Kam­pa­gne wur­de durch die Stär­ke ihrer groß ange­leg­ten Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel und durch vira­le Aktio­nen in den sozia­len Medi­en verstärkt.

Am 25. Sep­tem­ber, nach neun Tagen lan­des­wei­ter Revol­te, war jedoch zu kei­nem Zeit­punkt eine sol­che Fär­bung der Demons­tra­tio­nen zu hören oder zu beob­ach­ten, weder bei den mobi­li­sier­ten Bür­gern noch bei den Orga­ni­sa­to­ren und Haupt­ak­teu­ren der kol­lek­ti­ven Aktio­nen. Auch die skan­dier­ten Slo­gans zei­gen genau das Feh­len einer sol­chen Aus­rich­tung. Dies ist ein Sieg für die leben­di­gen, fort­schritt­li­chen Kräf­te im Iran.

Die­se anhal­ten­de Revol­te ist eine höhe­re Stu­fe des Kamp­fes der Frau­en und Män­ner im Iran in ihrem Stre­ben nach Demo­kra­tie und sozia­ler Gerech­tig­keit. Kein Schah, kein Obers­ter Führer!


Die­sen und wei­te­re Arti­kel zum Iran fin­dest Du auf INPREKORR.

Bah­man Ajang: Ira­ni­sches Regime durch bei­spiel­lo­se Revol­te erschüt­tert, online erschie­nen in die inter­na­tio­na­le Nr. 5/2022 (September/Oktober 2022)

Wirt­schaft­li­che Lage, Repres­si­on und Wider­stand, die inter­na­tio­na­le Nr. 1/2020 (Januar/Februar 2020)

Hous­hang Sepehr: Wohin treibt die isla­mi­sche Repu­blik?, Inpre­korr Nr. 458/459 (Januar/Februar 2010)

Babak Kia: Kri­se des Regimes und Mobi­li­sie­run­gen der Bevöl­ke­rung, Inpre­korr Nr. 454/455 (September/Oktober 2009)

Erklä­rung des Büros der IV. Inter­na­tio­na­le: Unser Platz ist an der Sei­te des ira­ni­schen Vol­kes!, Inpre­korr Nr. 454/455 (September/Oktober 2009)

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