„Kapitalismus erzeugt Armut –
reichen 12 Euro Mindestlohn?“
K. S.
Die ISO Rhein-Neckar hatte am Freitag, den 22. Oktober 2021, zu einem weiteren hybriden Diskussionsabend eingeladen. Gegenstand war die soziale Spaltung im Land, die sich durch den neoliberalen Sozialabbau der vergangenen Dekade und die Corona-Krise weiter zuspitzt.
Reichtum …
Der einleitende Vortrag warf ein Schlaglicht auf die extrem ungleichen Vermögensverhältnisse. In Deutschland besitzt das 1 Prozent der reichsten Deutschen mehr als 35 Prozent des Gesamtvermögens. An der Spitze der gesellschaftlichen Reichtums-Pyramide konzentriert sich nahezu das gesamte Betriebsvermögen des Landes.
Im Gegensatz dazu besitzen die unteren 10 Prozent der Bevölkerung, jene mit dem geringsten Vermögen, sogar ein „negatives Vermögen“, das heißt mehr Schulden als Vermögensbestände. Dieser Gegensatz lässt sich mit einem Blick auf die „Reichtumsuhr“ ver-deutlichen (www.dgb.de/themen/). Sie zeigt anschaulich, wie die tiefe soziale Spaltung im Land rasend voranschreitet.
… und Armut
Auch mit Blick auf die Klimakrise spielt die bestehende soziale Ungleichheit in Zusammenhang mit der Abwälzung der ökologischen Folgekosten eine zentrale Rolle. Bei Preissteigerungen wie etwa bei Sprit, den Mieten und den Lebensmitteln werden die unteren Klassen weit empfindlicher getroffen als diejenigen, die sich neben Inlandsflügen gar einen Privatjet leisten können.
Aus globaler Perspektive spitzt sich das Drama der sozialen Ungleichheit noch weiter zu. Das reichste Prozent der Weltbevölkerung, also fast 63 Millionen Menschen, verursacht mehr als doppelt so viel CO₂-Treibhausgas wie die ärmere Hälfte der Menschheit, also 3,1 Milliarden Menschen. Aus dieser Perspektive ist Klimagerechtigkeit zugleich eine Frage globaler sozialer Gerechtigkeit.
Selbst im reichen Deutschland gilt ein Fünftel der Bevölkerung als arm, da sie 60 Prozent weniger als das mittlere Einkommen erhalten. Niedrige Renten, Verfall der öffentlichen Infrastruktur, Kürzungen bei Sozialleistungen, Hartz IV und Niedriglöhne – all diese Faktoren verursachen bei einem beträchtlichen Teil der Menschen in Deutsch- land Armut. Auch der 2015 eingeführte Mindestlohn hilft, selbst bei einer Erhöhung auf 12 €, nicht weiter. Er ist und bleibt ein Armutslohn.
Wirksame Arbeitszeitverkürzung
Eine allgemeine, radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich ist – gemessen am Stand der Produktivkräfte – ein zwingendes Erfordernis. Sie kann der institutionalisierten Armut und der durch Rationalisierung und Verlagerung erzeugten Arbeitslosigkeit entgegenwirken. Dies wäre ein prinzipieller „Sieg der politischen Ökonomie der Arbeit über die politische Ökonomie des Kapitals“, wie Marx es genannt hat (MEW 16, S. 11).
Es gilt einerseits zu bekämpfen, dass ein bestimmter Teil der arbeitenden Klasse im Hightech-Kapitalismus in eine gesetzlich festgelegte Zone der Armut – Hartz IV und Niedriglohn – abgedrängt wird. Und andererseits, dass die Profitmaximierung sich mit kontinuierlichen Abbauprozessen bis hin zu Betriebsschließungen und mit der Deindustrialisierung ganzer Regionen durch- setzt. Dadurch werden immer mehr auch die „sicheren“ Arbeitsplätze von „Stammbelegschaften“ bedroht.
Neben der konsequenten Umverteilung der vorhandenen Arbeit sollten deshalb Gewerkschaften für das Recht auf menschenwürdige Tätigkeiten für alle und das Verbot von Entlassungen eintreten.
Kampf um Würde
In der Diskussion kam zur Sprache, dass die Reichen und Supereichen in Deutschland ihr Vermögen verbergen. Zugleich bleibt auch Armut in Deutschland häufig unsichtbar. Sie kommt vor allem im öffentlichen Bewusstsein als gesellschaftliches Problem kaum vor, obwohl die nackten Zahlen krasse soziale Gegensätze im Land aufzeigen.
Die Phrase von der „nivellierten Mittelschichtsgesellschaft“ dient noch immer als Deckmantel für eine enorme soziale Kluft.
Die Frage kam auf, wie kollektive Stärkung trotz Armut gelingen kann. Kann Mangel zu Formen der gegenseitigen Hilfe, der Fürsorge und einem Kampf um soziale Rechte führen? Wie können Strategien aussehen, die die Protest-Potenziale stärken und die Bekämpfung der Armut in den Wider-stand gegen die kapitalistischen Klassenverhältnisse insgesamt einbeziehen?
Mit dem Aufbau einer starken sozialen und ökologischen Front können die oben skizzierten Antworten den Antikapitalismus in der arbeitenden Klasse stärken.