Helmut Dahmer
I
Der asymmetrische Krieg der israelischen Armee gegen das Hamas-Regime im Gaza-Streifen hat im Dezember 2008 und im Januar 2009 mehr als 1.300 Opfer (mindestens ein Viertel davon Zivilisten) gekostet und die ohnehin bescheidene „Infrastruktur“ dieses großen, von Israel seit langem zernierten [von der Außenwelt abgeschnittenen] Flüchtlingslagers demoliert. Eine Verständigung zwischen Israelis und Arabern – denen in Israel, denen in den seit 1967 von Israel besetzten Gebieten und denen in den Nachbarstaaten Israels – scheint unwahrscheinlicher denn je. „Gewinner“ des „Krieges“ sind „Hardliner“ auf beiden Seiten, die nun das große Wort führen. Von einem „Friedensprozeß“ zwischen Palästinensern und Israelis schwafeln nur noch ratlose Politiker, die lieber jahrzehntealte Beschönigungs-Formeln wiederkäuen, als sich mit dem peren
nierenden Konflikt auseinanderzusetzen, der in den Hamas-Attacken und der darauf folgenden israelischen Strafaktion seinen aktuellen Ausdruck gefunden hat.
Alles, was uns an diesem „Krieg“ verwundert und erschreckt, hat sich in und um Palästina schon viele Male so oder ähnlich ereignet und wird sich noch manches Mal wiederholen. Hier (wie anderswo) ermöglicht gerade diese déjà vu-Erfahrung ein Verständnis der Ereignisse, die ansonsten unbegriffen dem Vergessen anheimfallen. Die Wahrnehmung eines schon Bekannten im vermeintlich Neuen bringt uns auf die Spur einer Tendenz, die im schockierenden Ereignis zutage tritt und den Vorhang der Ideologien durchbricht. Von den arabischen Aufständen und Pogromen der zwanziger und dreißiger Jahre [des 20. Jahrhunderts] führt diese Spur auf der einen Seite zur Intifada und zu den Raketen-Schützen und Selbstmordattentätern von heute, auf der anderen von terroristischen Irgun-Aktionen über das Massaker von Deir Jassin zu dem von Jenin und von den Libanon-Invasionen zum Bombenkrieg gegen Gaza.
Palästina ist seit hundert Jahren Schauplatz eines stets sich verschärfenden Konflikts zwischen Nationbuilder-Immigranten und Einheimischen, die sich gegen sie und die sie protegierenden Mächte zu behaupten suchen und in diesem Abwehrkampf allmählich selbst zu einer Nation geworden sind. Der Kampf der beiden verwandten Ethnien mit größtenteils unterschiedlichem Glauben geht um ein Territorium von der Größe El Salvadors (oder des deutschen Bundeslandes Hessen), um einen seit der Antike umkämpften Küstenstreifen am Mittel-meer, der die Südwestspitze des „fruchtbaren Halbmonds“ bildet. Es ist ein Kampf um Land, ein Kampf um Wasser und andere knappe Ressourcen, ein Kampf um verschiedenartige Lebensformen und Offenbarungen und um die Vorherrschaft des einen oder des anderen Bevölkerungsteils.
Nach vielen Jahrhunderten in der Diaspora, nach immer neuen Vertreibungen und Massakern, denen die jüdischen Minderheiten vor allem in christlichen Staaten unterworfen waren, entwickelten Intellektuelle wie Moses Hess, Leo Pinsker und Theodor Herzl in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts das Projekt einer jüdischen Selbstbefreiung durch Bildung eines eigenen Nationalstaats, wenn möglich im „Heiligen Land“. War die besondere jüdische Lebensform nirgendwo auf Dauer toleriert worden, sollte sie nun auf einem erst noch zu erobernden Territorium – in einem „Weltghetto“ (Herzl) – zur allgemeinen werden. Die Hoffnung auf einen modernen „Judenstaat“ beflügelte Zehntausende von Emigranten, die seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts vor allem vor den Pogromen im zaristischen Rußland nach Palästina flohen und weder auf eine künftige „Assimilation“ noch auf eine nachkapitalistische, tolerantere Gesellschaft warten wollten.
II
Palästina, das „Gelobte Land“, war freilich nicht menschenleer, sondern besiedelt, und die verspäteten Nationgründer mußten sich das Territorium für einen künftigen Staat erst von arabischen Grundbesitzern erkaufen. Wollten sie es nutzen, exklusiv für sich nutzen, so waren ihnen die Fellachen, die auf und von diesem Land lebten, im Wege. Bald mußten die neuen Siedler mit dem Gewehr zur Feldarbeit ausrücken. Herzl hat das vorausgesehen und in Kauf genommen. Schon 1895 hieß es in einem seiner Tagebucheinträge, man müsse die ärmere einheimische Bevölkerung [Palästinas] möglichst unauffällig über die Grenzen schaffen und ihr Rückkehr und Beschäftigung im jüdischen Gemeinwesen verwehren. Jüdische Flüchtlinge – zuerst aus dem zaristischen Rußland und Osteuropa, dann, Jahrzehnte später, Flüchtlinge vor dem Hitlerfaschismus und Überlebende des Holocaust – waren auf der Suche nach einer Zufluchtsstätte. Der Traum der „Zionisten“ unter ihnen war die Gründung eines ethnisch homogenen Nationalstaats auf palästinensischem Grund. Doch der Traum des einen ist der Albtraum des anderen. Der Preis für die Realisierung des Strebens nach territorialer und ökonomischer Exklusivität war der „Transfer“ eines Teils der von den Kolonisatoren im Lande vorgefundenen palästinensischen Bevölkerung. Die in den Rahmen eines nationalen Selbstbehaup- tungs-Projekts gezwängte Autoemanzipation der seit Jahrhunderten verfolgten europäischen Juden gelang nur durch die Vertreibung Hunderttausender von palästinensischen Flüchtlingen aus ihrem angestammten Territorium (in den Kriegen von 1948 und 1967). Ein Drittel des „Volks ohne Land“ (Herzl) eroberte sich ein nahöstliches Siedlungsgebiet (als Grundlage für einen eigenen Staat) – und stieß im gleichen Zuge ein anderes Teil-Volk in die Land- und Staatenlosigkeit. Kaum war der neue Siedlerstaat proklamiert, versuchten die Armeen der arabischen Anrainerstaaten, ihn auszulöschen. Mit dem Mut der Verzweiflung und besser bewaffnet als ihre Angreifer konnten sich die zionistischen Streitkräfte behaupten. Zugleich trat die kriegerische Landnahme an die Stelle des friedlichen Bodenerwerbs durch Kauf: 400 arabische Dörfer wurden zerstört, an die 800.000 Palästinenser, die am Krieg nicht beteiligt waren, wurden zu Flüchtlingen. Seit 60 Jahren vegetieren sie und ihre Nachkommen staaten- und chancenlos in den arabischen Nachbarstaaten Israels – ein Reservoir billiger Arbeitskraft und des antizionistischen Wider- stands, durchgefüttert von internationalen Hilfsorganisationen. In den Jahren 1882 bis 1914 kamen mehrere Zehntausend jüdische Siedler (vor allem aus Osteuropa) nach Palästina; 1930 stellten sie bereits 30 Prozent, 1946 etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung des britischen Mandatsgebiets. Heute liegt der Anteil der arabischen Bevölkerung in Israel etwa bei einem Fünftel (von insgesamt 7 Millionen Menschen), während in den besetzten Gebieten weitere 3,7 Millionen Araber leben. Mit der demographischen Expansion ging die territoriale einher. Sah ein UN-Teilungsplan von 1947 (als etwa 650.000 Juden und doppelt so viele Araber in Palästina lebten) noch eine Halbierung des Territoriums vor (55 Prozent für den jüdischen Teilstaat), so ging es 2000, bei den Camp-David-Gesprächen (zwi- schen Arafat und Barak), nur mehr um einen Palästinenser-Staat auf knapp einem Viertel (23 Prozent) des Territoriums. Mit dem seit vier Jahrzehnten besetzten Westjordanland, mit Ostjerusalem und den (syrischen) Golanhöhen kontrolliert Israel heute das gesamte vormalige britische Mandatsgebiet.
III
Alle Nationen sind „erfundene Nationen“ (Benedict Anderson), und alle „Alteingesessenen“ waren einmal Nomaden, Flüchtlinge und Immigranten. Zur Rechtfertigung ihrer Privilegien brauchen sie Gründungsmythen: Das Land, das sie bewohnen oder beanspruchen, steht ihnen (und nur ihnen) zu, entweder, weil das von allem Anfang an so war (beziehungsweise: weil sie als erste kamen), oder weil es ihnen vom obersten Grundherren, Gott, zugewiesen wurde, also ein ebenso „heiliges“ wie verheißenes Land ist. Die Judenstaatsgründer und -verteidiger des 20. und 21. Jahrhunderts verstehen sich, in historischer Perspektive, als Restaurateure eines Staatswesens, wie es vor 3.000 Jahren schon einmal bestanden hat, zur Zeit des Königs David. Auf der Gegenseite träumen die islamistisch gesonnenen unter den palästinensischen Nationalisten von der Wiederherstellung eines Palästinas ohne Juden, das es – vor 1.300 Jahren – unter der Herrschaft der Omaijaden auch schon einmal gab … Die Geschichte des Staates Israel ist eine Geschichte der erfolgreichen Verteidigungskriege gegen die arabischen Nachbar- staaten und einer erfolglosen permanenten Verteidigung gegen den palästinensischen Widerstand.
Der UN-Teilungsplan von 1947 war ein Versuch, den damals bestehenden Status quo zu fixieren, also dem Bestand eines vorwiegend jüdischen Siedlungsgebiets in einem vorwie- gend arabischen Umfeld Rechnung zu tragen. Dieser Teilungsplan scheiterte an den Ansprüchen beider Seiten auf ganz Palästina, also auf einen „reinen“ oder dominanten Juden- bezie- hungsweise Araberstaat. Noch der in den vergangenen Jahren zur Verhinderung von Attentaten errichtete Grenzwall zwischen jüdischen und palästinensischen Gebieten (den die Palästinenser „Apartheid“-Mauer nennen) diente unter anderem dazu, Grenzverschiebungen vorzunehmen und vormals von Palästinensern genutzte Ländereien dem jüdischen Siedlungsgebiet zuzuschlagen. Die seit dem Krieg von 1967 von allen israelischen Regierungen verfolgte Siedlungspolitik in der besetzten Westbank, die zum Bau von mehr als 200, mit einem eigenen Straßennetz verbundenen Siedlungen geführt hat, in denen heute 250.000 Neusiedler leben, folgt der Logik der fortschreitenden kolonialistischen Durchdringung des gesamten Territoriums, der Schaffung neuer Siedlungsgebiete auch inmitten der traditionellen palästinensischen. Die Logik der Kolonialisierung hat den vor Jahrzehnten entwickelten Teilungs- und Trennungs-Projekten längst den Garaus gemacht, auch wenn viele Gutmeinende das nicht wahrhaben wollen. Mit den den Palästinensern derzeit noch zugestandenen Restgebieten Palästinas läßt sich kein „Staat“ mehr machen. Es handelt sich dabei nur mehr um verstreute Siedlungen (vergleichbar den jüdischen in den ersten Jahrzehnten der Einwanderung), um voneinander isolierte Enklaven, deren größte der Gazastreifen und das Westjordanland sind. Ein Palästinenser-Staat könnte diese ökonomisch nicht lebensfähigen, disparaten Kantone nur bürokratisch verklammern, und sie wären völlig auf die Alimentierung durch die palästinensische Diaspora und die arabischen Staaten angewiesen. Ein Blick auf die Karte des Westjordanlands zeigt heute ein von jüdischen Siedlungen weitgehend durchsetztes Gebiet. Der Expansionsdrang der Kolonisatoren hat sich als stärker erwiesen als ihr Interesse an einem ausschließlich von ihnen besiedelten Territorium. Jede Neuaufteilung Palästinas und seiner Ressourcen – sei sie „gerecht“ oder „ungerecht“ – würde zur Auflösung der trotz allem fortbestehenden (feindlichen) Koexistenz der beiden Bevölkerungsteile und zu ihrer künstlichen Separierung führen, also zu Bevölkerungsverschiebun- gen in großem Ausmaß. Derartige Teilungsprojekte waren schon 1947 nicht praktikabel und stehen heute in völligem Widerspruch zur demographischen und ökonomischen Realität. Die Zwei-Staaten-Lösung, erdacht, um den einander ausschließenden Ambitionen zweier verspäteter Nationen gerecht zu werden, hat längst keine Chance mehr. Schließt man die „Lösung“ eines gewaltsamen Transfers von 5 Millionen Palästinensern nach Jordanien und der Verewigung der palästinensischen Flüchtlingslager in den anderen arabischen Staaten aus, dann bleibt langfristig nur eine Alternative. Sie besteht in der Anerkennung des Status quo – der Koexistenz von Juden und Arabern auf dem Territorium Palästinas. Soll diese Koexistenz zu einer friedlichen werden, bedarf sie eines staatlichen Überbaus in Gestalt einer säkularisierten, binationalen parlamentarischen Republik, in der der jüdische und der arabische Bevölkerungsteil gleichberechtigt sind.
Auf dem steinigen Weg dorthin wird noch viel Blut vergossen werden, ehe die Kontrahenten und ihre Schutzmächte lernen, auf exklusive nationale Ansprüche zu verzichten und aus der real existierenden destruktiven eine produktive Koexistenz zu machen.