Kein Gott, kein Kai­ser, kein Tribun“

Peter von Oert­zen über Ernest Man­dels poli­ti­sche Theo­rie und Praxis

 

Redak­tio­nel­le Vorbemerkung
Im Juni 2001 führ­ten Chris­toph Jün­ke und Manu­el Kell­ner ein umfang­rei­ches Zeit­zeu­gen­ge­spräch mit dem Sozia­lis­ten Peter von Oert­zen (1924 - 2008). The­men waren die poli­ti­sche Theo­rie und Pra­xis Ernest Man­dels (1923 - 1995) sowie die Zusam­men­ar­beit in der Redak­ti­on der lin­ken Zeit­schrift Sozia­lis­ti­sche Poli­tik (SOPO) ab Mit­te der 1950er Jah­re. Die fol­gen­den redak­tio­nell bear­bei­te­ten und von P. v. Oert­zen auto­ri­sier­ten Aus­zü­ge erschie­nen ursprüng­lich in den Sozia­lis­ti­schen Hef­ten für Theo­rie und Pra­xis (Nr. 11 von Sep­tem­ber 2006). Offen­sicht­li­che Feh­ler haben wir korrigiert.


Wann und unter wel­chen Umstän­den hast Du Ernest kennengelernt?
Das war 1951 oder 1952, bei einer Ver­an­stal­tung der sozia­lis­ti­schen Stu­den­ten­grup­pe in Göt­tin­gen, deren Vor­sit­zen­der ich damals noch war, obwohl ich schon kein akti­ver Stu­dent mehr war, son­dern Dok­to­rand. Wir hat­ten einen akti­ven Trotz­kis­ten in unse­rem Umfeld, der uns einen, wie er beton­te, „sehr inter­es­san­ten Refe­ren­ten, einen Genos­sen aus Bel­gi­en“ ver­mit­tel­te. Das war Ernest Man­del und er sprach damals, noch kei­ne 30 Jah­re alt, vor etwa 15 bis 18 Studenten.

Ich hat­te damals von Tuten und Bla­sen kei­ne Ahnung, wuss­te weder, was Trotz­ki gesagt und geschrie­ben hat­te, noch hat­te ich eine Ahnung von der IV. Inter­na­tio­na­le. Mei­nen links- ste­hen­den mar­xis­ti­schen Stand­punkt hat­te ich mir eklek­tisch selbst erar­bei­tet, und war dabei beein­flusst wor­den durch einen SPD-Genos­sen, der sowohl Ex-Trotz­kist als auch Sym­pa­thi­sant der Anarcho-Syn­di­ka­lis­ten in Spa­ni­en war. Außer­dem gab es damals ja noch die­se klei­ne Zeit­schrift Pro und Con­tra, die der SOPO vor­an­ge­gan­gen ist und ursprüng­lich her­aus­ge­ge­ben wur­de von Wil­ly Huhn. In die­ser Zeit­schrift hat auch Ernest unter Pseud­onym geschrie­ben – Bei­trä­ge, die ich irgend­wie intel­li­gent und ein­drucks­voll fand.

Im Win­ter 1954/55 haben wir dann die Sozia­lis­ti­sche Poli­tik (SOPO) gegrün­det. Da waren die in der SPD täti­gen Genos­sen der IV. Inter­na­tio­na­le mit dabei, die bei­den Links­ka­tho­li­ken Sieg­fried (Sig­gi) Braun und Theo Pir­ker vom Wirt- schafts­wis­sen­schaft­li­chen Insti­tut der Gewerk­schaf­ten. Da war auch ich dabei und habe Erich Ger­lach sehr bald dazu geholt, der das sofort span­nend fand, was wir da mach­ten. Sei­tens der IV. Inter­na­tio­na­le waren dabei die stän­di­gen Mit­glie­der Georg (Schorsch) Jung­clas und Wil­ly Boepp­le. Und Ernest Man­del hat dann in grö­ße­ren Abstän­den an unse­ren monat­li­chen Redak­ti­ons­sit­zun­gen teil­ge­nom­men, min­des­tens zwei­mal im Jahr, manch­mal auch mehr. Und er hat viel geschrie­ben, unter den ver­schie­dens­ten Pseudonymen.

Wel­chen Ein­fluss übte Man­del auf Dich aus? Was hat Dich an ihm inter­es­siert? Sein Mar­xis­mus? Die Fra­ge der Internationale?
Nein, was mich ange­zo­gen hat, war etwas ande­res, nicht der Mar­xis­mus oder die IV. Inter­na­tio­na­le. Mei­ne eige­ne Posi­ti­on war von Anfang an eine prin­zi­pi­ell anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche. Mei­nen Mar­xis­mus hat­te ich wesent­lich von zwei Büchern, zum einen Max Adlers Mar­xis­ti­sche Pro­ble­me und zum ande­ren Georg Lukács’ Geschich­te und Klas­sen­be­wusst­sein. 1953 hat­te ich ein fest umris­se­nes Kon­zept des his­to­ri­schen Mate­ria­lis­mus im Kopf, ein dia­lek­ti­sches und, wie ich fand, urmar­xis­ti­sches. Von dem Augen­blick war ich gegen jede Form des Par­tei­mar­xis­mus völ­lig immun.

Die Fra­ge der Inter­na­tio­na­le, das war der Punkt, wo ich immer anders gedacht habe als Ernest. Dass die Inter­na­tio­na­le, der inter­na­tio­na­le Klas­sen­kampf, von gro­ßer Bedeu­tung war, habe ich nicht geleug­net. Aber das Kon­zept einer Welt­par­tei des Pro­le­ta­ri­ats habe ich für eine unhis­to­ri­sche und daher unrea­lis­ti­sche ideo­lo­gi­sche Abs­trak­ti­on gehal­ten. Ich habe immer gesagt, dass die natio­na­len Kampf­be­din­gun­gen zu ver­schie­den sind für mehr als ein Koor­di­nie­rungs­ko­mi­tee. Erst in den letz­ten Jah­ren ist ja die­ser dog­ma­ti­sche Inter­na­tio­na­lis­mus – die Zen­tra­le in Paris ent­schei­det und die Sek­tio­nen müs­sen sprin­gen – prak­tisch auf­ge­ge­ben wor­den. Damals war der Anspruch aber noch sehr rigi­de. Es wur­de immer wört­lich von der „Welt­par­tei des Pro­le­ta­ri­ats“ gespro­chen. Da habe ich immer gesagt: „Ernest, tut mir leid, das kann ich nicht nachvollziehen.“

Radi­kal revo­lu­tio­när und radi­kal demokratisch

Nein, was mich am meis­ten an Man­del fas­zi­niert hat, war sei­ne demo­kra­ti­sche Radi­ka­li­tät. Das hat­te mich schon bei den Anarcho-Syn­di­ka­lis­ten fas­zi­niert: radi­kal revo­lu­tio­när und gleich­zei­tig radi­kal demo­kra­tisch zu sein. In mei­nem bür­ger­lich ver­bil­de­ten Gehirn war demo­kra­tisch immer gleich gemä­ßigt und anpass­le­risch, radi­kal-revo­lu­tio­när dage­gen dik­ta­to- risch. Dass die äußers­te Lin­ke radi­kal demo­kra­tisch sein konn­te, habe ich bei Erich Ger­lach gelernt und empi­risch beim Anar­chis­mus und beim Syn­di­ka­lis­mus wie­der gefun­den. Und natür­lich auch beim Trotz­kis­mus, der ein­zig ortho­dox-mar­xis­ti­schen Strö­mung, die ein aus­ge­ar­bei­te­tes und durch­dach­tes, reflek­tier­tes und ratio­nal begrün­de­tes Pro­gramm radi­ka- ler Demo­kra­tie hat. Und zwar Demo­kra­tie als Ziel und Demo­kra­tie als Mit­tel, eine Gesell­schaft der frei­en Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on, die natür­lich plu­ra­lis­tisch orga­ni­siert sein muss.

Ernest stand für die­se radi­ka­le Kon­se­quenz und den außer­or­dent­li­chen Scharf­sinn. Und ich glau­be, dass es auch fast aus­schließ­lich er gewe­sen ist, der die­ses Ver­ständ­nis in der IV. Inter­na­tio­na­le in jah­re­lan­gen Kämp­fen durch­ge­setzt hat. Dass die­se in den 70er Jah­ren das pro­gram­ma­ti­sche Kon­zept über pro­le­ta­ri­sche Revo­lu­ti­on und Räte­de­mo­kra­tie beschlos­sen hat [Für Räte­de­mo­kra­tie und Arbei­ter­selbst­ver­wal­tung, The­sen der IV. Inter­na­tio­na­le, Frank­furt 1985], ist mei­ner Mei­nung nach über­wie­gend, wenn nicht aus­schließ­lich Ernests Verdienst.

Was mich dar­an fas­zi­nier­te war, dass die­ses Kon­zept wei­ter­ging als die radi­kals­te bür­ger­li­che Demo­kra­tie. Ernest hat den Grund­satz auf­ge­stellt, den kei­ne bür­ger­li­che Demo­kra­tie, und sei sie noch so groß­zü­gig und so vol­ler Respekt gegen­über abwei­chen­den Min­der­hei­ten, gewagt hat auf­zu­stel­len: Dass nur tat­säch­li­ches Ver­hal­ten einen Men­schen aus der Gemein­schaft des Demo­kra­ti­schen, des Demos aus­schlie­ßen darf. Nicht der Gedanke.

Zu Ende gedacht führt dies natür­lich zu außer­or­dent­li­chen Schwie­rig­kei­ten, wenn man bei­spiels­wei­se einen theo­re­ti­schen Faschis­ten nimmt. Ich habe da für mei­ne Per­son einen Kunst­griff gefun­den und immer gesagt: Inso­fern der Faschis­mus ras­sis­tisch ist – es gibt Faschis­ten, die nicht ras­sis­tisch sind –, bedeu­tet die Leug­nung der prin­zi­pi­el­len Gleich­wer­tig­keit aller Men­schen, dass für jede Form des demo­kra­ti­schen Zusam­men­le­bens der Boden weg­fällt. Wer die Koope­ra­ti­ons­fä- hig­keit der Men­schen durch die Zuge­hö­rig­keit zu unter­schied­lich gewer­te­ten Ras­sen ein­schränkt, ent­zieht jeder Demo­kra­tie den Boden. Die­se Ideen dür­fen allen­falls ver­bo­ten wer­den. Bes­ser wäre es, wenn man sie sich offen äußern lie­ße und sie in der kri­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung widerlegte.

Ich glau­be, dass Man­del eher letz­te­res ver­tre­ten hätte.
Ja, ich bin auch die­ser Über­zeu­gung. Er hat natür­lich nie­mals gesagt, man soll nicht auf die Stra­ße gehen, wenn die Nazis dort demons­trie­ren, und ihnen nicht den Arsch ver­soh­len. Natür­lich hat er das gesagt. Aber im Prin­zip war er der Mei­nung unbe­ding­ter demo­kra­ti­scher Mei­nungs­frei­heit. Er hat ja gele­gent­lich auch Autoren zitiert, die im Grun­de Faschis­ten waren. Im ers­ten Kapi­tel sei­ner Mar­xis­ti­schen Wirt­schafts­theo­rie zitiert er sei­ten­wei­se und mit gro­ßer Zustim­mung Arnold Geh­len, der in den Lini­en des faschis­ti­schen Den­kens geschrie­ben und gedacht hat.

Das hat damals nicht nur Man­del gemacht, das haben auch bei­spiels­wei­se Wolf­gang Harich und Leo Kof­ler getan.
Die Dia­lek­tik zwi­schen sozia­ler Bewe­gung, indi­vi­du­el­ler Frei­heit und Ver­fes­ti­gung der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se in nor­mier­ten Insti­tu­tio­nen wird von Geh­len und allen faschis­ti­schen Herr­schafts­theo­re­ti­kern ein­ge­fro­ren zuguns­ten der Insti­tu­tio­nen. Und die Indi­vi­du­en und die sozia­len Bewe­gun­gen wer­den dabei den Insti­tu­tio­nen unter­ge­ord­net. Ernest und die ande­ren haben dar­über hin­weg­se­hen kön­nen und das pro­gres­si­ve Ele­ment bei Geh­len völ­lig zu Recht entdeckt.

Aber zurück zum Aus­gang. Für mich war es die­ses Behar­ren auf radi­ka­ler Demo­kra­tie, das die poli­ti­sche Figur Man­del aus­ge­macht hat. Und als ich dann 1960 ange­fan­gen habe, über die Räte­be­we­gung zu arbei­ten, erkann­te ich natür­lich die Geis­tes­ver­wandt­schaft zu Ernest in der Beur­tei­lung der Räte­be­we­gung als Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der Arbeiterbewegung.

Unzu­rei­chen­de Bürokratiekritik

Spiel­te auch sei­ne Sta­li­nis­mus­kri­tik mit bei die­ser Geistesverwandtschaft?
Ja, natür­lich. Vor allem die mate­ria­lis­ti­sche Ana­ly­se, dass im Zustand des Man­gels und unter äuße­rem poli­ti­schem Druck und der Exis­tenz­ge­fähr­dung des gesam­ten Sys­tems sich die unver­meid­li­chen, ursprüng­lich beschei­de­nen Pri­vi­le­gi­en ver­ant­wort­li­cher, haupt­be­ruf­lich täti­ger poli­ti­scher Funk­tio­nä­re zu kas­ten­ähn­li­chen, dau­er­haf­ten Pri­vi­le­gi­en ver­fes­ti­gen. Die­ser Pro­zess der Büro­kra­tie­bil­dung scheint mir bei Trotz­ki zutref­fend cha­rak­te­ri­siert. Die Büro­kra­tie­kri­tik ist ins­ge­samt not­wen­dig, aber nicht aus­rei­chend. Der Cha­rak­ter der Sowjet­uni­on als Arbei­ter­staat ist durch die büro­kra­ti­sche Dege­ne­ra­ti­on im Kern nicht getrof­fen – das hal­te ich für einen der fun­da­men­ta­len und zen­tra­len Irr­tü­mer der Trotzki-Mandel’schen Theo­rie. Das ist schon an der Begriffs­bil­dung deut­lich. Ent­we­der ist es ein Arbei­ter­staat, dann kann er nicht in die­sem Sin­ne dege­ne­riert sein. Oder es ist ein rein for­ma­ler, scho­las­ti­scher Begriff von „Arbei­ter­staat“. Oder er ist „dege­ne­riert”“, dann ist er auch kein Arbei­ter­staat. Ich habe immer ein dia­lek­ti­sches Ver­hält­nis zwi­schen der demo­kra­ti­schen Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der Basis, der Arbei­ter­klas­se auf der einen Sei­te, und den staat­li­chen Insti­tu­tio­nen auf der ande­ren Sei­te gese­hen. Ich habe immer gesagt, dass man nicht so unter­schei­den kann zwi­schen Öko­no­mie und Poli­tik – einer­seits ist das Sys­tem noch sozia­lis­tisch, sprich: ein Arbei­ter­staat, ande­rer­seits, poli­tisch und ideo­lo­gisch nicht mehr. Da wer­den ver­schie­de­ne Momen­te des gesell­schaft­li­chen Gan­zen auseinandergerissen.

Das gilt im Übri­gen natür­lich auch für die sehr viel grob­schläch­ti­ge­re For­mu­lie­rung der KPO: Der Sta­li­nis­mus sei ein bar­ba­ri­scher Sozia­lis­mus in einem bar­ba­ri­schen Land. Was soll das? Ent­we­der ist es bar­ba­risch, dann ist es kein Sozia­lis­mus, oder es ist sozia­lis­tisch, dann kann es nicht bar­ba­risch sein. Ich fand des­we­gen die Sta­li­nis­mus­kri­tik, die klas­si­sche Trotzki‘sche und von Ernest ver­tre­te­ne Sta­li­nis­mus­kri­tik im Prin­zip für rich­tig, aber nicht für ausreichend.

Und ich war auf der ande­ren Sei­te der Mei­nung, dass eben – das ist nun aller­dings ein Stand­punkt, den von Rosa Luxem­burg bis zu Ernest Man­del vie­le ande­re kri­ti­sche lin­ke Mar­xis­ten auch immer ver­tre­ten haben – die Bür­ger­lich­keit der bür­ger- lichen Demo­kra­tie den demo­kra­ti­schen Grund­im­pe­tus nicht kor­rum­piert hat. In der Idee der Demo­kra­tie als Volks­sou­ve­rä­ni­tät, wie sie sich aus dem Mit­tel­al­ter ent­wi­ckelt hat, aus den Selbst­ver­wal­tungs­vor­stel­lun­gen des städ­ti­schen Bür­ger­tums und den Selbst­ver­wal­tungs­vor­stel­lun­gen des städ­ti­schen Hand­werks, in den basis­de­mo­kra­ti­schen Ten­den­zen der eng­li­schen und fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on, den früh­bür­ger­li­chen und ple­be­ji­schen Bewe­gun­gen der Level­lers, Sans­cu­lot­ten usw., war immer auch ein Ele­ment, das nicht auf das kapi­ta­lis­ti­sche Bür­ger­tum zu redu­zie­ren ist. Und dass man nur die kapi­ta­lis­tisch-bour­geoi­se Über­for­mung die­ser demo­kra­ti­schen Grund- ideen ent­fer­nen muss, um etwas zu haben, das an Wert für den Auf­bau einer sozia­lis­ti­schen Gesell­schafts­ord­nung über­haupt nicht unter­schätzt wer­den kann.

Die Arbeit an der SOPO

Lass uns noch ein­mal bei der SOPO-Zeit, bei den Jah­ren 1955/56 blei­ben. Wie funk­tio­nier­te die orga­ni­sa­to­ri­sche Arbeit an der Zei­tung und wel­che Rol­le spiel­te Mandel?
Der eigent­li­che Antrieb war ein etwas skur­ri­ler links­so­zia­lis­ti­scher SPD-Funk­tio­när, der ursprüng­lich mal, noch vor 1933, bei Stras­sers Schwar­zer Front gewe­sen war, zur SAP gegan­gen war, ein biss­chen Wider­stand gemacht hat­te, und nach 1945 Kom­mu­nal­po­li­ti­ker bei der SPD war. Die­ser Arthur von Behr hat­te eine Dru­cke­rei und mit den Trotz­kis­ten schon bei der Zeit­schrift Pro und Con­tra zusam­men­ge­ar­bei­tet. Behr nahm übri­gens spä­ter, nach­dem wir uns 1956/57 von ihm getrennt hat­ten, einen wütend anti­trotz­kis­ti­schen Stand­punkt ein und hat dann ein klei­nes Blätt­chen her­aus­ge­ge­ben, das prak­tisch völ­lig deckungs­gleich war mit der ortho­do­xes­ten KP-Linie. Er wohn­te in einem Vor­ort von Göt­tin­gen, wo auch ich leb­te und er mich als Links­so­zia­lis­ten ken­nen­lern­te. Der hat dann also gesagt: „Bit­te schön, ich stel­le die Pro­duk­ti­ons­mit­tel zur Ver­fü­gung, mei­ne Dru­cke­rei, und ihr macht eine Zeit­schrift.“ Über mich kam dann Erich Ger­lach dazu. So waren wir immer­hin zwei SPD-Land­tags­ab­ge­ord­ne­te, was natür­lich in die SPD aus­strahl­te. Von den Trotz­kis­ten waren es vor allem Wil­ly Boepp­le und Schorsch Jung­clas, sowie spä­ter gele­gent­lich auch Bert­hold Schel­ler. Spä­ter, ab 1956/57, war Wolf­gang Abend­roth mit dabei und außer mir und Ger­lach auch noch Sig­gi Braun von den Linkskatholiken.

Die Redak­ti­ons­sit­zun­gen waren ein­mal im Monat, ent­we­der in Köln oder, ab 1956/57, in der Woh­nung von Wolf­gang Abend­roth in Mar­burg. Aber vie­le Redak­ti­ons­sit­zun­gen haben in der Pri­vat­woh­nung von Sieg­fried Braun in Köln statt­ge­fun­den, man­che auch bei mir in Göttingen.

Und Man­del steu­er­te von außen Arti­kel bei und kam auch gele­gent­lich vorbei?
Ja.

Wel­che Rol­le hat er da gespielt? Es ist ja ein biss­chen unge­wöhn­lich, dass in der Redak­ti­on jemand aus Bel­gi­en mitarbeitet.
Er sprach zwar mit leich­tem Akzent, aber per­fek­tes Deutsch. Das war für uns gewis­ser­ma­ßen ein natür­li­cher Internationalismus …

Wer gab den Ton an in der Redaktion?
Jung­clas und Boepp­le waren in der Beur­tei­lung der aktu­el­len poli­ti­schen Lage und in der Vor­ga­be der Linie die füh­ren­den Köp­fe. Und was die Beur­tei­lung der Sozi­al­de­mo­kra­tie anbe­traf, so hat­te ich doch einen gewis­sen Ein­fluss, denn ich hat­te natür­lich einen wei­te­ren und grö­ße­ren Ein­blick in die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Ver­hält­nis­se und hat­te auch in Nord­deutsch­land und Nie­der­sach­sen ein biss­chen zur Ver­brei­tung des Blat­tes bei­getra­gen. Zwei Drit­tel der tau­send Leser, die wir hat­ten, waren aber doch im Umfeld der trotz­kis­ti­schen Grup­pen, vor allem im Wes­ten und im Nor­den, in Ham­burg. Es hat aber nie­mals in der SOPO-Redak­ti­on auch nur die gerings­te frak­tio­nel­le Strei­tig­keit über die Rol­le der Trotz­kis­ten gege­ben. Die waren unglaub­lich loy­al, sehr kri­tisch und offen, und haben natür­lich ihre gro­ße poli­ti­sche Erfah­rung ins Feld geführt. Auf der ande­ren Sei­te saßen aber auch gestan­de­ne Leu­te wie Erich Ger­lach und Wolf­gang Abend­roth. Auch Wil­ly Boepp­le war ja kein ori­gi­nä­rer Trotz­kist, er war ja von der KPD gekom­men, ers­ter Sekre­tär der KPD Nord­ba­den gewe­sen, ein kri­ti­scher Kom­mu­nist, der 1948 mit Krach aus­ge­schie­den war. Es war eine ganz merk­wür­di­ge Mischung, die­se Redak­ti­on, aber es hat blen­dend funktioniert.

Links­so­zia­lis­mus und/oder Parteikommunismus

Es ist aber zu poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen gekom­men. Über eine in mei­nen Augen weit­rei­chen­de bin ich bei mei­nen Kof­ler-Stu­di­en gestol­pert. Um Kof­ler, der in Pro und Con­tra viel geschrie­ben und einen engen Kon­takt zu den deut­schen Trotz­kis­ten und natür­lich zu Abend­roth hat­te, ist es in der SOPO zu Aus­ein­an­der­set­zun­gen gekom­men, die mit des­sen Ver­dam­mung ende­ten. Ende 1955 hat­te Kof­ler sein Buch Geschich­te und Dia­lek­tik im Ham­bur­ger Kog­ge-Ver­lag ver­öf­fent­licht. Der galt damals jedoch als vom deut­schen Osten finan­zier­ter Ver­lag. Damit hat­te Kof­ler eine Art von Blas­phe­mie began­gen: Er hat­te in einem als halb sta­li­nis­tisch ange­se­he­nen Ver­lag ver­öf­fent­licht und im Vor­wort einen für ihn unge­wöhn­li­chen Satz des Lobes für die DDR for­mu­liert, über den sich dann vor allem Georg Jung­clas mas­siv echauf­fier­te. Jung­clas ver­däch­tig­te Kof­ler der Nähe zu den Sta­li­nis­ten und sorg­te dafür, dass Kof­ler in der SOPO nicht [mehr] publi­zie­ren durfte.
Dar­an kann ich mich gar nicht mehr erin­nern. Das war aber in der Tat ein zen­tra­les Pro­blem. Auch ich war ganz ent­schie­den der Mei­nung: Ers­tens, wir dür­fen nicht objek­tiv abhän­gig wer­den von die­ser büro­kra­tisch defor­mier­ten Cli­que da. Und zwei­tens, wir dür­fen natür­lich erst recht nicht ent­ge­gen den Tat­sa­chen den Ein­druck erwe­cken, als wären wir von ihnen abhän­gig. In dem Punkt war ich auch emo­tio­nal mit den Trotz­kis­ten völ­lig einig: Es waren Tod­fein­de, es waren Leu­te, die uns ein­sper­ren wür­den, wenn sie uns kriegten.

Das war natür­lich ein gro­ßes Pro­blem in Euren Bezie­hun­gen auch zu den west­deut­schen Par­tei­kom­mu­nis­ten.
Aber ja … Hier gab es erbit­ter­te Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Auf die Ver­tre­ter die­ser klei­nen, bedeu­tungs­lo­sen Par­tei habe ich immer, sofern sie qua­si Klas­sen­ge­nos­sen waren, mit etwas Mit­leid für ihre absur­den Vor­stel­lun­gen und einem lei­sen Hauch Ver­ach­tung für ihre hün­di­sche Demut gegen­über Ost­ber­lin geblickt. Aber das waren halt irre­ge­lei­te­te Kol­le­gen und gehör­ten zur sel­ben Klas­se. Da sie nicht die gerings­te Chan­ce hat­ten, auch nur irgend­ei­nen Ein­fluss aus­zu­üben, habe ich mich mit ihnen per­sön­lich nicht ange­legt, aber mit ihren intel­lek­tu­el­len Hel­fern und ihren Cli­quen und Klün­geln, die sie in der Gewerk­schaft auf­ge­baut haben und teil­wei­se auch in den Bil­dungs­ein­rich­tun­gen – bei­spiels­wei­se in der Frank­fur­ter Aka­de­mie der Arbeit, wo sie Anti­sta­li­nis­ten tyran­ni­siert haben, vor allem Trotzkisten.

Das habe ich bis zum heu­ti­gen Tag: Wenn einer gegen die Trotz­kis­ten zu Fel­de zieht, dann geht bei mir das Mes­ser in der Tasche auf, sofort. Zum Bei­spiel die­ses heu­ti­ge Arsch­loch, die­ser, wie heißt er, Diet­mar Bartsch [hoher Par­tei­funk­tio­när der dama­li­gen PDS und der heu­ti­gen Par­tei Die Lin­ke, MdB], der sei­ne poli­ti­sche Grund­bil­dung auf der Par­tei­hoch­schu­le in Mos­kau genos­sen hat. Auch enge­re poli­ti­sche Freun­de von mir, deren Namen ich hier nicht nen­nen möch­te, haben solch‘ unmög­li­che anti­trotz­kis­ti­sche Refle­xe. Damals, in den 1950ern, war es bei­spiels­wei­se der Heinz See­ger, der ehe­ma­li­ge Vor­sit­zen­de der Gewerk­schaft Holz und Kunst­stoff. Den hat­te sich die SED ein­ge­fan­gen und mit Geld aus­ge­stat­tet. Der woll­te sich mal bei der SOPO ein­kau­fen, was wir wut­schnau­bend und in den Tönen höchs­ter Ent­rüs­tung zurück­ge­wie­sen haben. Ein ande­res Bei­spiel war Vik­tor Agartz. Als er sei­ne WISO-Kor­re­spon­denz von der DDR bezah­len ließ, war der Mann für mich mo- ralisch erledigt.

Die Sta­li­nis­ten waren für mich die Ver­tre­ter einer poli­ti­schen Kas­te, einer abge­ho­be­nen, fort­schritts­feind­li­chen, repres­si­ven, bru­ta­len, dum­men poli­ti­schen Kas­te. Und die­se Leu­te muss­ten bei­sei­te geräumt wer­den, wenn für den Sozia­lis­mus wie­der Platz geschaf­fen wer­den soll­te. Das war mein Stand­punkt, und das ist er auch noch heu­te. Heu­te gibt es die­se Kas­te in dem Sin­ne ja nicht mehr. Heu­te ist es die neo- oder nach­sta­li­nis­ti­sche neo­ka­pi­ta­lis­ti­sche Mana­ger­kas­te – gewis­ser­ma­ßen der Sta­li­nis­mus auf die Spit­ze getrie­ben bzw. zur Kennt­lich­keit entstellt.

Die­se poli­ti­sche Hal­tung spiel­te aber auch spä­ter eine Rol­le, bei den Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die Berufs­ver­bo­te, von denen ja nicht aus­schließ­lich, aber zumeist DKP-Anhän­ger betrof­fen waren.
Ja. Da hat­te ich aller­dings eine Pha­se, derer ich mich heu­te noch schä­me. Wäh­rend mei­ner Zeit als nie­der­säch­si­scher Kul­tus­mi­nis­ter in den 1970er Jah­ren habe ich die Berufs­ver­bo­te­po­li­tik mei­nes Minis­ter­prä­si­den­ten tole­riert, solan­ge die­se auf strikt rechts­staat­li­cher Wei­se vor sich gehe. Die Frei­heit der wis­sen­schaft­li­chen und geis­ti­gen Betä­ti­gung, so mei­ne Hal­tung, dür­fe nicht ein­ge­schränkt wer­den. Es ging mir also nur um die Fra­ge, wel­che Ver­fas­sungs­ver­pflich­tung hat ein Beam­ter. Und das habe ich dann nach zwei Jah­ren als einen schwer­wie­gen­den prin­zi­pi­el­len Irr­tum ein­ge­se­hen und habe mich dann an allen Aktio­nen gegen die soge­nann­ten Berufs­ver­bo­te betei­ligt, obwohl ich immer gesagt habe: Was die in ihrem Herr­schafts­be­reich machen, ist hun­dert­mal schlim­mer. Was ja auch quan- tita­tiv stimmt, nicht? Gegen die Berufs­ver­bo­te­po­li­tik in der DDR und gene­rell im Ost­block war die bür­ger­li­che Demo­kra­tie in West­deutsch­land ja gera­de­zu zahm, oder?

Trotz­dem: Ein ein­zi­ger, der zu Unrecht den Mund ver­bun­den bekam und aus dem Dienst geschmis­sen wur­de, ist einer zu viel. Die­sen Stand­punkt habe ich in die­ser Klar­heit aber erst Mit­te der 1970er Jah­re ent­wi­ckelt. Und ich bedaue­re die­sen Fehl­griff heu­te aufs Tiefste.

Gab es bei der SOPO ande­re Auseinandersetzungen?
Durch­aus, bei­spiels­wei­se bei der Beur­tei­lung der Ereig­nis­se in Ungarn Ende 1956. Da gab es eine klei­ne Kon­tro­ver­se zwi­schen den Trotz­kis­ten und mir. Ich hat­te in einem Arti­kel ein gewis­ses, behut­sa­mes Ver­ständ­nis für die Regie­rung Kádár gezeigt. Und da sind mir Schorsch Jung­clas und Wil­ly Boepp­le mit äußers­ter Schär­fe in die Para­de gefah­ren. Ich habe das dann akzep­tiert und ihnen Recht gege­ben. Ich hat­te geschwankt.

Wie war damals das Ver­hält­nis zu Man­del? Was für ein Mensch bezie­hungs­wei­se Cha­rak­ter war er?
Klug, lie­bens­wür­dig, umgäng­lich. Und es gab natür­lich in der Redak­ti­on und dann spä­ter auch bei unse­ren Begeg­nun­gen nie­mals Anlass zu irgend­ei­ner Pole­mik. Wir waren ja in den Grund­ten­den­zen, also in der strik­ten Ableh­nung der Sys­te­me sowje­ti­schen Typs, eben­so einer Mei­nung wie im Erfor­der­nis der radi­ka­len Demo­kra­ti­sie­rung. Es ging und geht, wie Rosa Luxem­burg gesagt hat, um eine radi­ka­le Demo­kra­ti­sie­rung von Anfang an, nicht erst wenn die treu­en, bra­ven Pro­le­ten eini­ge Jah­re ihren sozia­lis­ti­schen Füh­rern gehor­sam gewe­sen sind, qua­si als Beloh­nung. Wenn das nicht von Anfang an statt­fin­det, dann schei­tert das gesam­te Expe­ri­ment, da war ich immer völ­lig mit Man­del einer Meinung.

Im Übri­gen ver­mu­te ich, dass er immer noch die Hoff­nung hat­te, so jeman­den wie mich für die IV. Inter­na­tio­na­le zu gewin­nen, weil ich aus mei­nen Sym­pa­thien ja nie einen Hehl gemacht habe. Ich hab‘ aber auch gesagt, dass ich für die Arbeit in Sek­ten nicht tau­ge und Sek­tie­rer­tum für eine in den mate­ri­el­len Ver­hält­nis­sen wur­zeln­de unauf­halt­sa­me Ent­wick­lung halte.

Man­del als Per­son hat­te auch nicht viel von einem Sektierer …
Nein, als Per­son nicht. Er konn­te aber wohl, habe ich mir sagen las­sen, bei inner­par­tei­li­chen Frak­ti­ons­kämp­fen von äußers­ter Här­te sein. Es gibt heu­te noch eini­ge, die ich hoch­schät­ze, die sich drei­mal mit Ham­mer und Sichel bekreu­zi­gen, wenn der Name Ernest Man­del fällt. Ich habe ihn nie so erlebt.

Gab es da einen Unter­schied bei­spiels­wei­se zu einem Schorsch Jung­clas, vom mensch­li­chen Auf­tre­ten her?
Ja, tief­grei­fen­de Unter­schie­de sowohl gegen­über Jung­clas als auch gegen­über Wil­ly Boepp­le. Das waren bei­de gebil­de­te Arbei­ter. Und Ernest Man­del war, nach Habi­tus und Her­kunft, ein bür­ger­li­cher Intel­lek­tu­el­ler, bis in die Spit­zen sei­ner Ner­ven. Das trans­por­tiert sich auch in die Umgangsformen.

Der sozia­le Habi­tus des bür­ger­li­chen Intel­lek­tu­el­len war Boepp­le und Jung­clas fremd. Sie waren da zurück­hal­tend, hat­ten ein von ihrem Stand­punkt aus gese­hen eben­so ver­ständ­li­ches wie gesun­des Miss­trau­en. Sie waren loy­al und kame­rad­schaft­lich – ich habe nie­mals eine Unfair­ness oder eine Infa­mie von ihrer Sei­te mir gegen­über fest­stel­len kön­nen. Aber bei Ernest Man­del hat­te ich das Gefühl, er betrach­tet mich als sei­nes­glei­chen. Ja, und zwar gar nicht so sehr, dass er nicht gewusst hät­te, dass er mir theo­re­tisch und poli­tisch weit über­le­gen war. Das hat­te ich auch aner­kannt, des­halb brauch­te er das nicht zu beto­nen, denn das war offen­sicht­lich. Aber es ist die­ser Habi­tus. Er konn­te nach­voll­zie­hen, was sich im Kopf eines Intel­lek­tu­el­len abspielt ange­sichts die­ser gan­zen Pro­ble­me, die man theo­re­tisch behan­delt, die aber immer auch Lebens­schick­sa­le in sich schlie­ßen kön­nen. Also: Einem Intel­lek­tu­el­len zu ver­bie­ten, sei­ne Mei­nung zu sagen, das ist infam, das habe ich immer gesagt. Das sind mei­ne Klas­sen­in­ter­es­sen als Intel­lek­tu­el­ler, die ich da ver­tre­te, die Mei­nungs­frei­heit ist mein Streik­recht. Einem Arbei­ter zu ver­bie­ten zu strei­ken, heißt, ihm das mora­li­sche Rück­grat bre­chen. Ihn zu ver­füh­ren, auf das Streik­recht im Inter­es­se einer angeb­lich höhe­ren Sache frei­wil­lig zu ver­zich­ten, das ist Ver­rat an sei­ner Klas­se. Und wenn ein Intel­lek­tu­el­ler frei­wil­lig dar­auf ver­zich­tet, sei­ne wohl­erwo­ge­nen Mei­nun­gen argu­men­ta­tiv frei und öffent­lich zu äußern, ist das ein Ver­rat an der spe­zi­el­len Sozi­al­grup­pe „Intel­li­genz“. Denn das ist ihre gesell- schaft­li­che Funk­ti­on: sich offen und kri­tisch zu äußern. Und dass dies nicht etwa ein fei­ges Aus­wei­chen vor den Här­ten der Rea­li­tät ist und zu sein braucht, das hat mir Ernest, wie mir scheint, per­sön­lich zugestanden.

Abend­roths Schwäche

Und wie füg­te sich Wolf­gang Abend­roth in die­sen Kontext?
Ja, der Abend­roth, der hat­te die­se komi­sche Parteifixierung.

Das sagt jemand, der dann selbst sozu­sa­gen sich auf die Par­tei fixierte?
Nein, ich habe mich nicht groß auf die Par­tei fixiert, ich habe nur da gearbeitet …

Damals, 1957, nach der schreck­li­chen Wahl­nie­der­la­ge der SPD – wir waren ja alle in der SPD – gab es eine Kon­tro­ver­se, in der Abend­roth dar­auf bestand, dass man in der Par­tei blei­ben müs­se. Das mei­ne ich mit „Par­tei­fi­xie­rung“: „Und wenn sie mich raus­schmis­sen, dann wür­de ich auf dem Bau­che wie­der zurück­krie­chen, um wie­der rein zu kom­men.“ Dage­gen hat Theo Pir­ker damals eine 15 Sei­ten lan­ge Phil­ip­pi­ka geschrie­ben. Der und auch Sig­gi Braun waren ja nun sowie­so Ouvrie­ris­ten [Arbei­ter­tüm­ler], deut­sche Ouvrie­ris­ten, für die Par­tei­en nur dazu da sind, um den Arbei­tern übers Maul zu fah­ren und über ihre Köp­fe hin­weg eine Poli­tik zu machen, die die Arbei­ter eigent­lich gar nicht wol­len. Und der Pir­ker hat also Abend­roth nie­der­ge­macht, vol­ler Ver­ach­tung und Pole­mik. Und die­ser Kon­flikt ist cha­rak­te­ris­tisch. Abend­roth hat­te die­se ambi­va­len­te Hal­tung gegen­über der SPD wie der KPD, ähn­lich der­je­ni­gen der KPO-Leu­te, die im Grun­de gegen die real exis­tie­ren­de KPD im Inter­es­se einer bes­se­ren KPD kämpf­ten, die sie selbst verkörperten.

Ich habe mich von Abend­roth ein für alle Mal und end­gül­tig inner­lich getrennt bei sei­nem skan­da­lö­sen Argu­ment-Arti­kel in der zwei­ten Hälf­te der 1970er Jah­re, als er Ver­ständ­nis zeig­te für die Ver­ur­tei­lung Rudolf Bahros in der DDR. Jemand, der selbst vie­le Jah­re im Zucht­haus geses­sen hat wegen Gedan­ken­sün­den, sieht, dass im eige­nen Lager jemand wegen einer ideel­len Kri­tik zu acht Jah­ren Knast ver­ur­teilt wird, und schreibt fünf Druck­sei­ten irgend­ei­nes Rum­ge­la­bers von Nicht­ein­mi­schung in die inne­ren Ange­le­gen­hei­ten voll, anstatt den einen ein­zi­gen Satz zu sagen: Lasst den Genos­sen Bah­ro sofort frei oder ich kün­di­ge Euch die Freundschaft.

Für mich ist das ein rich­tig schmie­ri­ges, oppor­tu­nis­ti­sches Doku­ment, zu erklä­ren eben wegen die­ser spe­zi­fi­schen Fixie­rung. Abend­roth gehör­te zu den Leu­ten, die immer ein sozia­lis­ti­sches Vater­land brau­chen. Und wenn denn die SPD das so- zia­lis­ti­sche Vater­land nicht mehr sein will, dann muss es die DDR sein. Obwohl er da selbst mit guten Grün­den weg­ge­gan­gen ist. Er brauch­te ein Iden­ti­fi­ka­ti­ons­ob­jekt. Allei­ne für sich zu ste­hen, gegen alle, gegen Kapi­ta­lis­ten und Sta­li­nis­ten und Sozia­list zu blei­ben, dazu war er nicht ein­ge­rich­tet. Er war in mei­nen Augen ein schlech­ter Mar­xist und hat­te von Dia­lek­tik kei­ne Ahnung. Er war ein bril­lan­ter Jurist und Kri­ti­ker des bür­ger­li­chen Ver­fas­sungs­rechts, da hat er sich sehr gro­ße Ver­diens­te erwor­ben. Aber ein wirk­lich radi­ka­ler Demo­krat war er in mei­nen Augen nicht. Er hat­te immer ein Über-Ich über sich, das ihn zen­sier­te. Ein radi­ka­ler Demo­krat ist aber jemand, der nie- man­den über sich hat – kei­nen Gott, kei­nen Kai­ser, kei­nen Tri­bun, wie es in der „Inter­na­tio­na­le“ heißt. Vom Habi­tus her sind mir des­we­gen unter allen Typen der revo­lu­tio­nä­ren Bewe­gun­gen im Grun­de die Anar­chis­ten am liebs­ten: Hier ste­he ich und nie­mand kann mir vor­schrei­ben, was ich zu tun habe.

Es gibt die­se tref­fen­de Pas­sa­ge in Trotz­kis Mein Leben, wo er über Bucha­rin schreibt: „Bucha­rin muss immer an jeman­den atta­chiert sein.“ Der hat genau das damit gemeint, was Du gesagt hast. Das trifft es eigent­lich sehr gut, fin­de ich.
Ja, das ist inter­es­sant. Auch Lenin, das muss man ihm las­sen, hat­te nicht die gerings­ten Beden­ken, allein zu ste­hen. Der hat­te auch nicht das Gefühl: Über mir ist eine ideel­le Instanz, vor der ich mich zu recht­fer­ti­gen habe oder an die ich mich atta­chie­ren muss. Der stand auf sei­nen eige­nen Füßen. Der brauch­te kei­ne ande­ren. Das war bei­spiels­wei­se auch bei Erich Ger­lach so.

Gen­scher über Mandel

Zurück zu Man­del. Ihr seid bis zu sei­nem Tod eng befreun­det gewe­sen. 1972 soll­te Man­del an die FU Ber­lin beru­fen wer­den und bekam nicht nur ein Berufs­ver­bot in West­deutsch­land, son­dern sogar ein Ein­rei­se­ver­bot für meh­re­re Jah­re. Du warst damals Kul­tus­mi­nis­ter in Nie­der­sach­sen, als der dama­li­ge Innen­mi­nis­ter Gen­scher das Ein­rei­se­ver­bot verhängte.
Ja. Ich flog damals zufäl­lig mit Gen­scher in einem Hub­schrau­ber von Han­no­ver nach Bonn. Ich muss­te zu irgend­ei­ner außer­or­dent­li­chen Sit­zung des Par­tei­vor­stands oder irgend so etwas, und er war gera­de wegen einer ande­ren Ver­an­stal­tung in Han­no­ver. Als wir dann im Hub­schrau­ber saßen, habe ich ihm fünf Minu­ten einen lang­at­mi­gen Vor­trag gehal­ten, was für ein per­fek­ter Demo­krat Ernest Man­del ist und dass das Ein­rei­se­ver­bot vom libe­ra­len Stand­punkt eigent­lich völ­lig indis­ku­ta­bel sein müss­te. „Ach, Herr von Oert­zen“, sag­te er dar­auf, „glau­ben Sie nicht, dass ich nicht weiß, was Ernest Man­del geschrie­ben hat. Gera­de das macht ihn so gefähr­lich.“ Ende der Dis­kus­si­on. In dem Augen­blick ist bei mir natür­lich ein Stück Zutrau­en in den bür­ger­li­chen Rechts­staat erschüt­tert worden.

Abschlie­ßend betrach­tet: Wel­che Gesichts­punk­te der poli­ti­schen Kon­zep­ti­on von Ernest sind für Dich nach wie vor aktu­ell und dis­kus­si­ons­wür­dig, wel­che Punk­te müs­sen kri­tisch dis­ku­tiert wer­den oder sind viel­leicht über­holt durch neue­re Entwicklungen?
Ich will es in aller Kür­ze auf die wirk­lich wesent­lichs­ten Punk­te zuspit­zen, die ich schon ganz am Anfang erwähnt habe. Das, was mich bis zuletzt an Ernest Man­del immer wie­der fas­zi­niert hat, ist die­se lei­den­schaft­li­che Beto­nung des demo­kra­ti­schen Moments, oder, sagen wir, des Moments der frei­en Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on in sei­nem Kon­zept von Räte­de­mo­kra­tie, im Kampf für die Rech­te der Arbei­ter­be­we­gung und gegen den Kapi­ta­lis­mus, in sei­nem Kon­zept eines mög­li­chen Über­gangs, in einer Über­gangs­ge­sell­schaft vom Kapi­ta­lis­mus zum Sozia­lis­mus und schließ­lich im Sozia­lis­mus. Denn wenn man eine posi­ti­ve Bestim­mung des Sozia­lis­mus in aller Kür­ze geben woll­te, dann wäre das die freie Asso­zia­ti­on nicht nur der Pro­du­zen­ten, son­dern aller Men­schen, die freie Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der mensch­li­chen Gesell­schaft, die anders als nach den in der Erfah­rung befes­tig­ten und tra­dier­ten Grund­sät­zen soge­nann­ter demo­kra­ti­scher Ver­fah­rens­wei­sen und auf der Grund­la­ge einer demo­kra­ti­schen Gesin­nung und Hal­tung aller Betei­lig­ten unmög­lich ist. Er war in die­sem Sin­ne in ers­ter Linie eben ein lei­den­schaft­li­cher Demo­krat. Das war, glau­be ich, für ihn der Kern der sozia­lis­ti­schen Idee wie für mich auch.

Umge­kehrt – ich sage das nicht mit einem Hauch von Scha­den­freu­de, son­dern eigent­lich mit tie­fer Bedrü­ckung und Beküm­me­rung – konn­ten wir erfah­ren, wie gräss­lich sei­ne Über- schät­zung des revo­lu­tio­nä­ren Poten­zi­als in den Gesell­schaf­ten des „rea­len Sozia­lis­mus“ gewe­sen ist, und wel­che per­sön­li­che Ent­täu­schung das für ihn im Inners­ten bedeu­tet haben muss. Dass nach dem Sturz der sta­li­nis­ti­schen Büro­kra­tie nicht die poli­ti­sche Revo­lu­ti­on mit dem Ziel der frei­en sozia­lis­ti­schen Räte­de­mo­kra­tie gekom­men ist, son­dern ein zutiefst kor­rup­ter „Staats­ka­pi­ta­lis­mus“, ein Kapi­ta­lis­mus, der sich den Staat gekauft hat, und dass die gan­zen Büro­kra­ten sich dann in zutiefst kor­rup­te und men­schen­feind­li­che mafio­se kapi­ta­lis­ti­sche Macht­ha­ber ver­wan­delt haben, das muss für ihn eine schreck­li­che Ent­täu­schung gewe­sen sein – die auch ich im Übri­gen nicht für mög­lich gehal­ten habe.

Es ist aber eigent­lich eine alte, schlich­te Erfah­rung, dass geprü­gel­te Hun­de oder Pfer­de sich nicht jubelnd erhe­ben und ihren sub­al­ter­nen Cha­rak­ter so ein­fach über­win­den kön­nen, zu dem sie in 50 Jah­ren gemacht wur­den. Der befrei­te Mann ist nicht auto­ma­tisch ein frei­er Mann, wenn man ihm die Ket­ten nimmt. Frei­heit ist nicht nur Frei­heit von, son­dern auch Frei­heit zu. Das haben wir alle unter­schätzt. Und ich bedau­re zutiefst, dass ich vor sei­nem Tode – der für mich völ­lig über­ra­schend kam – kei­ne Gele­gen­heit mehr hat­te, unse­re Ent­täu­schun­gen und unse­re Hoff­nun­gen mit­ein­an­der aus­zu­tau­schen und zu diskutieren.

Und die­se Schwä­che, die­se Empha­se und Über­schät­zung des revo­lu­tio­nä­ren Poten­zi­als, das zieht sich auch durch sei­ne Ana­ly­sen und durch sei­ne theo­re­ti­schen Schrif­ten. Alles in allem hal­te ich dies jedoch von allen denk­ba­ren Schwä­chen für die am ehes­ten ver­zeih­li­che, weil sie eine Hoff­nung aus­drückt. Selbst wenn sie über­trie­ben gewe­sen sein soll­te und durch die Erfah­rung wider­legt wird, ist sie mir hun­dert­mal lie­ber als der wohl­fei­le Zynis­mus all derer, die heu­te nur ver­ächt­lich mit den Schul­tern zucken und sagen, dass wer mit 50 Jah­ren noch immer Kom­mu­nist oder Sozia­list ist, kei­nen Ver­stand hat. Da ist mir der größ­te sozia­lis­ti­sche Über­op­ti­mist doch hun­dert­mal lieber.

Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Janu­ar 2024
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