Peter von Oertzen über Ernest Mandels politische Theorie und Praxis
Redaktionelle Vorbemerkung
Im Juni 2001 führten Christoph Jünke und Manuel Kellner ein umfangreiches Zeitzeugengespräch mit dem Sozialisten Peter von Oertzen (1924 - 2008). Themen waren die politische Theorie und Praxis Ernest Mandels (1923 - 1995) sowie die Zusammenarbeit in der Redaktion der linken Zeitschrift Sozialistische Politik (SOPO) ab Mitte der 1950er Jahre. Die folgenden redaktionell bearbeiteten und von P. v. Oertzen autorisierten Auszüge erschienen ursprünglich in den Sozialistischen Heften für Theorie und Praxis (Nr. 11 von September 2006). Offensichtliche Fehler haben wir korrigiert.
Wann und unter welchen Umständen hast Du Ernest kennengelernt?
Das war 1951 oder 1952, bei einer Veranstaltung der sozialistischen Studentengruppe in Göttingen, deren Vorsitzender ich damals noch war, obwohl ich schon kein aktiver Student mehr war, sondern Doktorand. Wir hatten einen aktiven Trotzkisten in unserem Umfeld, der uns einen, wie er betonte, „sehr interessanten Referenten, einen Genossen aus Belgien“ vermittelte. Das war Ernest Mandel und er sprach damals, noch keine 30 Jahre alt, vor etwa 15 bis 18 Studenten.
Ich hatte damals von Tuten und Blasen keine Ahnung, wusste weder, was Trotzki gesagt und geschrieben hatte, noch hatte ich eine Ahnung von der IV. Internationale. Meinen links- stehenden marxistischen Standpunkt hatte ich mir eklektisch selbst erarbeitet, und war dabei beeinflusst worden durch einen SPD-Genossen, der sowohl Ex-Trotzkist als auch Sympathisant der Anarcho-Syndikalisten in Spanien war. Außerdem gab es damals ja noch diese kleine Zeitschrift Pro und Contra, die der SOPO vorangegangen ist und ursprünglich herausgegeben wurde von Willy Huhn. In dieser Zeitschrift hat auch Ernest unter Pseudonym geschrieben – Beiträge, die ich irgendwie intelligent und eindrucksvoll fand.
Im Winter 1954/55 haben wir dann die Sozialistische Politik (SOPO) gegründet. Da waren die in der SPD tätigen Genossen der IV. Internationale mit dabei, die beiden Linkskatholiken Siegfried (Siggi) Braun und Theo Pirker vom Wirt- schaftswissenschaftlichen Institut der Gewerkschaften. Da war auch ich dabei und habe Erich Gerlach sehr bald dazu geholt, der das sofort spannend fand, was wir da machten. Seitens der IV. Internationale waren dabei die ständigen Mitglieder Georg (Schorsch) Jungclas und Willy Boepple. Und Ernest Mandel hat dann in größeren Abständen an unseren monatlichen Redaktionssitzungen teilgenommen, mindestens zweimal im Jahr, manchmal auch mehr. Und er hat viel geschrieben, unter den verschiedensten Pseudonymen.
Welchen Einfluss übte Mandel auf Dich aus? Was hat Dich an ihm interessiert? Sein Marxismus? Die Frage der Internationale?
Nein, was mich angezogen hat, war etwas anderes, nicht der Marxismus oder die IV. Internationale. Meine eigene Position war von Anfang an eine prinzipiell antikapitalistische. Meinen Marxismus hatte ich wesentlich von zwei Büchern, zum einen Max Adlers Marxistische Probleme und zum anderen Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein. 1953 hatte ich ein fest umrissenes Konzept des historischen Materialismus im Kopf, ein dialektisches und, wie ich fand, urmarxistisches. Von dem Augenblick war ich gegen jede Form des Parteimarxismus völlig immun.
Die Frage der Internationale, das war der Punkt, wo ich immer anders gedacht habe als Ernest. Dass die Internationale, der internationale Klassenkampf, von großer Bedeutung war, habe ich nicht geleugnet. Aber das Konzept einer Weltpartei des Proletariats habe ich für eine unhistorische und daher unrealistische ideologische Abstraktion gehalten. Ich habe immer gesagt, dass die nationalen Kampfbedingungen zu verschieden sind für mehr als ein Koordinierungskomitee. Erst in den letzten Jahren ist ja dieser dogmatische Internationalismus – die Zentrale in Paris entscheidet und die Sektionen müssen springen – praktisch aufgegeben worden. Damals war der Anspruch aber noch sehr rigide. Es wurde immer wörtlich von der „Weltpartei des Proletariats“ gesprochen. Da habe ich immer gesagt: „Ernest, tut mir leid, das kann ich nicht nachvollziehen.“
Radikal revolutionär und radikal demokratisch
Nein, was mich am meisten an Mandel fasziniert hat, war seine demokratische Radikalität. Das hatte mich schon bei den Anarcho-Syndikalisten fasziniert: radikal revolutionär und gleichzeitig radikal demokratisch zu sein. In meinem bürgerlich verbildeten Gehirn war demokratisch immer gleich gemäßigt und anpasslerisch, radikal-revolutionär dagegen diktato- risch. Dass die äußerste Linke radikal demokratisch sein konnte, habe ich bei Erich Gerlach gelernt und empirisch beim Anarchismus und beim Syndikalismus wieder gefunden. Und natürlich auch beim Trotzkismus, der einzig orthodox-marxistischen Strömung, die ein ausgearbeitetes und durchdachtes, reflektiertes und rational begründetes Programm radika- ler Demokratie hat. Und zwar Demokratie als Ziel und Demokratie als Mittel, eine Gesellschaft der freien Selbstorganisation, die natürlich pluralistisch organisiert sein muss.
Ernest stand für diese radikale Konsequenz und den außerordentlichen Scharfsinn. Und ich glaube, dass es auch fast ausschließlich er gewesen ist, der dieses Verständnis in der IV. Internationale in jahrelangen Kämpfen durchgesetzt hat. Dass diese in den 70er Jahren das programmatische Konzept über proletarische Revolution und Rätedemokratie beschlossen hat [Für Rätedemokratie und Arbeiterselbstverwaltung, Thesen der IV. Internationale, Frankfurt 1985], ist meiner Meinung nach überwiegend, wenn nicht ausschließlich Ernests Verdienst.
Was mich daran faszinierte war, dass dieses Konzept weiterging als die radikalste bürgerliche Demokratie. Ernest hat den Grundsatz aufgestellt, den keine bürgerliche Demokratie, und sei sie noch so großzügig und so voller Respekt gegenüber abweichenden Minderheiten, gewagt hat aufzustellen: Dass nur tatsächliches Verhalten einen Menschen aus der Gemeinschaft des Demokratischen, des Demos ausschließen darf. Nicht der Gedanke.
Zu Ende gedacht führt dies natürlich zu außerordentlichen Schwierigkeiten, wenn man beispielsweise einen theoretischen Faschisten nimmt. Ich habe da für meine Person einen Kunstgriff gefunden und immer gesagt: Insofern der Faschismus rassistisch ist – es gibt Faschisten, die nicht rassistisch sind –, bedeutet die Leugnung der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen, dass für jede Form des demokratischen Zusammenlebens der Boden wegfällt. Wer die Kooperationsfä- higkeit der Menschen durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlich gewerteten Rassen einschränkt, entzieht jeder Demokratie den Boden. Diese Ideen dürfen allenfalls verboten werden. Besser wäre es, wenn man sie sich offen äußern ließe und sie in der kritischen Auseinandersetzung widerlegte.
Ich glaube, dass Mandel eher letzteres vertreten hätte.
Ja, ich bin auch dieser Überzeugung. Er hat natürlich niemals gesagt, man soll nicht auf die Straße gehen, wenn die Nazis dort demonstrieren, und ihnen nicht den Arsch versohlen. Natürlich hat er das gesagt. Aber im Prinzip war er der Meinung unbedingter demokratischer Meinungsfreiheit. Er hat ja gelegentlich auch Autoren zitiert, die im Grunde Faschisten waren. Im ersten Kapitel seiner Marxistischen Wirtschaftstheorie zitiert er seitenweise und mit großer Zustimmung Arnold Gehlen, der in den Linien des faschistischen Denkens geschrieben und gedacht hat.
Das hat damals nicht nur Mandel gemacht, das haben auch beispielsweise Wolfgang Harich und Leo Kofler getan.
Die Dialektik zwischen sozialer Bewegung, individueller Freiheit und Verfestigung der gesellschaftlichen Verhältnisse in normierten Institutionen wird von Gehlen und allen faschistischen Herrschaftstheoretikern eingefroren zugunsten der Institutionen. Und die Individuen und die sozialen Bewegungen werden dabei den Institutionen untergeordnet. Ernest und die anderen haben darüber hinwegsehen können und das progressive Element bei Gehlen völlig zu Recht entdeckt.
Aber zurück zum Ausgang. Für mich war es dieses Beharren auf radikaler Demokratie, das die politische Figur Mandel ausgemacht hat. Und als ich dann 1960 angefangen habe, über die Rätebewegung zu arbeiten, erkannte ich natürlich die Geistesverwandtschaft zu Ernest in der Beurteilung der Rätebewegung als Selbstorganisation der Arbeiterbewegung.
Unzureichende Bürokratiekritik
Spielte auch seine Stalinismuskritik mit bei dieser Geistesverwandtschaft?
Ja, natürlich. Vor allem die materialistische Analyse, dass im Zustand des Mangels und unter äußerem politischem Druck und der Existenzgefährdung des gesamten Systems sich die unvermeidlichen, ursprünglich bescheidenen Privilegien verantwortlicher, hauptberuflich tätiger politischer Funktionäre zu kastenähnlichen, dauerhaften Privilegien verfestigen. Dieser Prozess der Bürokratiebildung scheint mir bei Trotzki zutreffend charakterisiert. Die Bürokratiekritik ist insgesamt notwendig, aber nicht ausreichend. Der Charakter der Sowjetunion als Arbeiterstaat ist durch die bürokratische Degeneration im Kern nicht getroffen – das halte ich für einen der fundamentalen und zentralen Irrtümer der Trotzki-Mandel’schen Theorie. Das ist schon an der Begriffsbildung deutlich. Entweder ist es ein Arbeiterstaat, dann kann er nicht in diesem Sinne degeneriert sein. Oder es ist ein rein formaler, scholastischer Begriff von „Arbeiterstaat“. Oder er ist „degeneriert”“, dann ist er auch kein Arbeiterstaat. Ich habe immer ein dialektisches Verhältnis zwischen der demokratischen Selbstorganisation der Basis, der Arbeiterklasse auf der einen Seite, und den staatlichen Institutionen auf der anderen Seite gesehen. Ich habe immer gesagt, dass man nicht so unterscheiden kann zwischen Ökonomie und Politik – einerseits ist das System noch sozialistisch, sprich: ein Arbeiterstaat, andererseits, politisch und ideologisch nicht mehr. Da werden verschiedene Momente des gesellschaftlichen Ganzen auseinandergerissen.
Das gilt im Übrigen natürlich auch für die sehr viel grobschlächtigere Formulierung der KPO: Der Stalinismus sei ein barbarischer Sozialismus in einem barbarischen Land. Was soll das? Entweder ist es barbarisch, dann ist es kein Sozialismus, oder es ist sozialistisch, dann kann es nicht barbarisch sein. Ich fand deswegen die Stalinismuskritik, die klassische Trotzki‘sche und von Ernest vertretene Stalinismuskritik im Prinzip für richtig, aber nicht für ausreichend.
Und ich war auf der anderen Seite der Meinung, dass eben – das ist nun allerdings ein Standpunkt, den von Rosa Luxemburg bis zu Ernest Mandel viele andere kritische linke Marxisten auch immer vertreten haben – die Bürgerlichkeit der bürger- lichen Demokratie den demokratischen Grundimpetus nicht korrumpiert hat. In der Idee der Demokratie als Volkssouveränität, wie sie sich aus dem Mittelalter entwickelt hat, aus den Selbstverwaltungsvorstellungen des städtischen Bürgertums und den Selbstverwaltungsvorstellungen des städtischen Handwerks, in den basisdemokratischen Tendenzen der englischen und französischen Revolution, den frühbürgerlichen und plebejischen Bewegungen der Levellers, Sansculotten usw., war immer auch ein Element, das nicht auf das kapitalistische Bürgertum zu reduzieren ist. Und dass man nur die kapitalistisch-bourgeoise Überformung dieser demokratischen Grund- ideen entfernen muss, um etwas zu haben, das an Wert für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung überhaupt nicht unterschätzt werden kann.
Die Arbeit an der SOPO
Lass uns noch einmal bei der SOPO-Zeit, bei den Jahren 1955/56 bleiben. Wie funktionierte die organisatorische Arbeit an der Zeitung und welche Rolle spielte Mandel?
Der eigentliche Antrieb war ein etwas skurriler linkssozialistischer SPD-Funktionär, der ursprünglich mal, noch vor 1933, bei Strassers Schwarzer Front gewesen war, zur SAP gegangen war, ein bisschen Widerstand gemacht hatte, und nach 1945 Kommunalpolitiker bei der SPD war. Dieser Arthur von Behr hatte eine Druckerei und mit den Trotzkisten schon bei der Zeitschrift Pro und Contra zusammengearbeitet. Behr nahm übrigens später, nachdem wir uns 1956/57 von ihm getrennt hatten, einen wütend antitrotzkistischen Standpunkt ein und hat dann ein kleines Blättchen herausgegeben, das praktisch völlig deckungsgleich war mit der orthodoxesten KP-Linie. Er wohnte in einem Vorort von Göttingen, wo auch ich lebte und er mich als Linkssozialisten kennenlernte. Der hat dann also gesagt: „Bitte schön, ich stelle die Produktionsmittel zur Verfügung, meine Druckerei, und ihr macht eine Zeitschrift.“ Über mich kam dann Erich Gerlach dazu. So waren wir immerhin zwei SPD-Landtagsabgeordnete, was natürlich in die SPD ausstrahlte. Von den Trotzkisten waren es vor allem Willy Boepple und Schorsch Jungclas, sowie später gelegentlich auch Berthold Scheller. Später, ab 1956/57, war Wolfgang Abendroth mit dabei und außer mir und Gerlach auch noch Siggi Braun von den Linkskatholiken.
Die Redaktionssitzungen waren einmal im Monat, entweder in Köln oder, ab 1956/57, in der Wohnung von Wolfgang Abendroth in Marburg. Aber viele Redaktionssitzungen haben in der Privatwohnung von Siegfried Braun in Köln stattgefunden, manche auch bei mir in Göttingen.
Und Mandel steuerte von außen Artikel bei und kam auch gelegentlich vorbei?
Ja.
Welche Rolle hat er da gespielt? Es ist ja ein bisschen ungewöhnlich, dass in der Redaktion jemand aus Belgien mitarbeitet.
Er sprach zwar mit leichtem Akzent, aber perfektes Deutsch. Das war für uns gewissermaßen ein natürlicher Internationalismus …
Wer gab den Ton an in der Redaktion?
Jungclas und Boepple waren in der Beurteilung der aktuellen politischen Lage und in der Vorgabe der Linie die führenden Köpfe. Und was die Beurteilung der Sozialdemokratie anbetraf, so hatte ich doch einen gewissen Einfluss, denn ich hatte natürlich einen weiteren und größeren Einblick in die sozialdemokratischen Verhältnisse und hatte auch in Norddeutschland und Niedersachsen ein bisschen zur Verbreitung des Blattes beigetragen. Zwei Drittel der tausend Leser, die wir hatten, waren aber doch im Umfeld der trotzkistischen Gruppen, vor allem im Westen und im Norden, in Hamburg. Es hat aber niemals in der SOPO-Redaktion auch nur die geringste fraktionelle Streitigkeit über die Rolle der Trotzkisten gegeben. Die waren unglaublich loyal, sehr kritisch und offen, und haben natürlich ihre große politische Erfahrung ins Feld geführt. Auf der anderen Seite saßen aber auch gestandene Leute wie Erich Gerlach und Wolfgang Abendroth. Auch Willy Boepple war ja kein originärer Trotzkist, er war ja von der KPD gekommen, erster Sekretär der KPD Nordbaden gewesen, ein kritischer Kommunist, der 1948 mit Krach ausgeschieden war. Es war eine ganz merkwürdige Mischung, diese Redaktion, aber es hat blendend funktioniert.
Linkssozialismus und/oder Parteikommunismus
Es ist aber zu politischen Auseinandersetzungen gekommen. Über eine in meinen Augen weitreichende bin ich bei meinen Kofler-Studien gestolpert. Um Kofler, der in Pro und Contra viel geschrieben und einen engen Kontakt zu den deutschen Trotzkisten und natürlich zu Abendroth hatte, ist es in der SOPO zu Auseinandersetzungen gekommen, die mit dessen Verdammung endeten. Ende 1955 hatte Kofler sein Buch Geschichte und Dialektik im Hamburger Kogge-Verlag veröffentlicht. Der galt damals jedoch als vom deutschen Osten finanzierter Verlag. Damit hatte Kofler eine Art von Blasphemie begangen: Er hatte in einem als halb stalinistisch angesehenen Verlag veröffentlicht und im Vorwort einen für ihn ungewöhnlichen Satz des Lobes für die DDR formuliert, über den sich dann vor allem Georg Jungclas massiv echauffierte. Jungclas verdächtigte Kofler der Nähe zu den Stalinisten und sorgte dafür, dass Kofler in der SOPO nicht [mehr] publizieren durfte.
Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Das war aber in der Tat ein zentrales Problem. Auch ich war ganz entschieden der Meinung: Erstens, wir dürfen nicht objektiv abhängig werden von dieser bürokratisch deformierten Clique da. Und zweitens, wir dürfen natürlich erst recht nicht entgegen den Tatsachen den Eindruck erwecken, als wären wir von ihnen abhängig. In dem Punkt war ich auch emotional mit den Trotzkisten völlig einig: Es waren Todfeinde, es waren Leute, die uns einsperren würden, wenn sie uns kriegten.
Das war natürlich ein großes Problem in Euren Beziehungen auch zu den westdeutschen Parteikommunisten.
Aber ja … Hier gab es erbitterte Auseinandersetzungen. Auf die Vertreter dieser kleinen, bedeutungslosen Partei habe ich immer, sofern sie quasi Klassengenossen waren, mit etwas Mitleid für ihre absurden Vorstellungen und einem leisen Hauch Verachtung für ihre hündische Demut gegenüber Ostberlin geblickt. Aber das waren halt irregeleitete Kollegen und gehörten zur selben Klasse. Da sie nicht die geringste Chance hatten, auch nur irgendeinen Einfluss auszuüben, habe ich mich mit ihnen persönlich nicht angelegt, aber mit ihren intellektuellen Helfern und ihren Cliquen und Klüngeln, die sie in der Gewerkschaft aufgebaut haben und teilweise auch in den Bildungseinrichtungen – beispielsweise in der Frankfurter Akademie der Arbeit, wo sie Antistalinisten tyrannisiert haben, vor allem Trotzkisten.
Das habe ich bis zum heutigen Tag: Wenn einer gegen die Trotzkisten zu Felde zieht, dann geht bei mir das Messer in der Tasche auf, sofort. Zum Beispiel dieses heutige Arschloch, dieser, wie heißt er, Dietmar Bartsch [hoher Parteifunktionär der damaligen PDS und der heutigen Partei Die Linke, MdB], der seine politische Grundbildung auf der Parteihochschule in Moskau genossen hat. Auch engere politische Freunde von mir, deren Namen ich hier nicht nennen möchte, haben solch‘ unmögliche antitrotzkistische Reflexe. Damals, in den 1950ern, war es beispielsweise der Heinz Seeger, der ehemalige Vorsitzende der Gewerkschaft Holz und Kunststoff. Den hatte sich die SED eingefangen und mit Geld ausgestattet. Der wollte sich mal bei der SOPO einkaufen, was wir wutschnaubend und in den Tönen höchster Entrüstung zurückgewiesen haben. Ein anderes Beispiel war Viktor Agartz. Als er seine WISO-Korrespondenz von der DDR bezahlen ließ, war der Mann für mich mo- ralisch erledigt.
Die Stalinisten waren für mich die Vertreter einer politischen Kaste, einer abgehobenen, fortschrittsfeindlichen, repressiven, brutalen, dummen politischen Kaste. Und diese Leute mussten beiseite geräumt werden, wenn für den Sozialismus wieder Platz geschaffen werden sollte. Das war mein Standpunkt, und das ist er auch noch heute. Heute gibt es diese Kaste in dem Sinne ja nicht mehr. Heute ist es die neo- oder nachstalinistische neokapitalistische Managerkaste – gewissermaßen der Stalinismus auf die Spitze getrieben bzw. zur Kenntlichkeit entstellt.
Diese politische Haltung spielte aber auch später eine Rolle, bei den Auseinandersetzungen um die Berufsverbote, von denen ja nicht ausschließlich, aber zumeist DKP-Anhänger betroffen waren.
Ja. Da hatte ich allerdings eine Phase, derer ich mich heute noch schäme. Während meiner Zeit als niedersächsischer Kultusminister in den 1970er Jahren habe ich die Berufsverbotepolitik meines Ministerpräsidenten toleriert, solange diese auf strikt rechtsstaatlicher Weise vor sich gehe. Die Freiheit der wissenschaftlichen und geistigen Betätigung, so meine Haltung, dürfe nicht eingeschränkt werden. Es ging mir also nur um die Frage, welche Verfassungsverpflichtung hat ein Beamter. Und das habe ich dann nach zwei Jahren als einen schwerwiegenden prinzipiellen Irrtum eingesehen und habe mich dann an allen Aktionen gegen die sogenannten Berufsverbote beteiligt, obwohl ich immer gesagt habe: Was die in ihrem Herrschaftsbereich machen, ist hundertmal schlimmer. Was ja auch quan- titativ stimmt, nicht? Gegen die Berufsverbotepolitik in der DDR und generell im Ostblock war die bürgerliche Demokratie in Westdeutschland ja geradezu zahm, oder?
Trotzdem: Ein einziger, der zu Unrecht den Mund verbunden bekam und aus dem Dienst geschmissen wurde, ist einer zu viel. Diesen Standpunkt habe ich in dieser Klarheit aber erst Mitte der 1970er Jahre entwickelt. Und ich bedauere diesen Fehlgriff heute aufs Tiefste.
Gab es bei der SOPO andere Auseinandersetzungen?
Durchaus, beispielsweise bei der Beurteilung der Ereignisse in Ungarn Ende 1956. Da gab es eine kleine Kontroverse zwischen den Trotzkisten und mir. Ich hatte in einem Artikel ein gewisses, behutsames Verständnis für die Regierung Kádár gezeigt. Und da sind mir Schorsch Jungclas und Willy Boepple mit äußerster Schärfe in die Parade gefahren. Ich habe das dann akzeptiert und ihnen Recht gegeben. Ich hatte geschwankt.
Wie war damals das Verhältnis zu Mandel? Was für ein Mensch beziehungsweise Charakter war er?
Klug, liebenswürdig, umgänglich. Und es gab natürlich in der Redaktion und dann später auch bei unseren Begegnungen niemals Anlass zu irgendeiner Polemik. Wir waren ja in den Grundtendenzen, also in der strikten Ablehnung der Systeme sowjetischen Typs, ebenso einer Meinung wie im Erfordernis der radikalen Demokratisierung. Es ging und geht, wie Rosa Luxemburg gesagt hat, um eine radikale Demokratisierung von Anfang an, nicht erst wenn die treuen, braven Proleten einige Jahre ihren sozialistischen Führern gehorsam gewesen sind, quasi als Belohnung. Wenn das nicht von Anfang an stattfindet, dann scheitert das gesamte Experiment, da war ich immer völlig mit Mandel einer Meinung.
Im Übrigen vermute ich, dass er immer noch die Hoffnung hatte, so jemanden wie mich für die IV. Internationale zu gewinnen, weil ich aus meinen Sympathien ja nie einen Hehl gemacht habe. Ich hab‘ aber auch gesagt, dass ich für die Arbeit in Sekten nicht tauge und Sektierertum für eine in den materiellen Verhältnissen wurzelnde unaufhaltsame Entwicklung halte.
Mandel als Person hatte auch nicht viel von einem Sektierer …
Nein, als Person nicht. Er konnte aber wohl, habe ich mir sagen lassen, bei innerparteilichen Fraktionskämpfen von äußerster Härte sein. Es gibt heute noch einige, die ich hochschätze, die sich dreimal mit Hammer und Sichel bekreuzigen, wenn der Name Ernest Mandel fällt. Ich habe ihn nie so erlebt.
Gab es da einen Unterschied beispielsweise zu einem Schorsch Jungclas, vom menschlichen Auftreten her?
Ja, tiefgreifende Unterschiede sowohl gegenüber Jungclas als auch gegenüber Willy Boepple. Das waren beide gebildete Arbeiter. Und Ernest Mandel war, nach Habitus und Herkunft, ein bürgerlicher Intellektueller, bis in die Spitzen seiner Nerven. Das transportiert sich auch in die Umgangsformen.
Der soziale Habitus des bürgerlichen Intellektuellen war Boepple und Jungclas fremd. Sie waren da zurückhaltend, hatten ein von ihrem Standpunkt aus gesehen ebenso verständliches wie gesundes Misstrauen. Sie waren loyal und kameradschaftlich – ich habe niemals eine Unfairness oder eine Infamie von ihrer Seite mir gegenüber feststellen können. Aber bei Ernest Mandel hatte ich das Gefühl, er betrachtet mich als seinesgleichen. Ja, und zwar gar nicht so sehr, dass er nicht gewusst hätte, dass er mir theoretisch und politisch weit überlegen war. Das hatte ich auch anerkannt, deshalb brauchte er das nicht zu betonen, denn das war offensichtlich. Aber es ist dieser Habitus. Er konnte nachvollziehen, was sich im Kopf eines Intellektuellen abspielt angesichts dieser ganzen Probleme, die man theoretisch behandelt, die aber immer auch Lebensschicksale in sich schließen können. Also: Einem Intellektuellen zu verbieten, seine Meinung zu sagen, das ist infam, das habe ich immer gesagt. Das sind meine Klasseninteressen als Intellektueller, die ich da vertrete, die Meinungsfreiheit ist mein Streikrecht. Einem Arbeiter zu verbieten zu streiken, heißt, ihm das moralische Rückgrat brechen. Ihn zu verführen, auf das Streikrecht im Interesse einer angeblich höheren Sache freiwillig zu verzichten, das ist Verrat an seiner Klasse. Und wenn ein Intellektueller freiwillig darauf verzichtet, seine wohlerwogenen Meinungen argumentativ frei und öffentlich zu äußern, ist das ein Verrat an der speziellen Sozialgruppe „Intelligenz“. Denn das ist ihre gesell- schaftliche Funktion: sich offen und kritisch zu äußern. Und dass dies nicht etwa ein feiges Ausweichen vor den Härten der Realität ist und zu sein braucht, das hat mir Ernest, wie mir scheint, persönlich zugestanden.
Abendroths Schwäche
Und wie fügte sich Wolfgang Abendroth in diesen Kontext?
Ja, der Abendroth, der hatte diese komische Parteifixierung.
Das sagt jemand, der dann selbst sozusagen sich auf die Partei fixierte?
Nein, ich habe mich nicht groß auf die Partei fixiert, ich habe nur da gearbeitet …
Damals, 1957, nach der schrecklichen Wahlniederlage der SPD – wir waren ja alle in der SPD – gab es eine Kontroverse, in der Abendroth darauf bestand, dass man in der Partei bleiben müsse. Das meine ich mit „Parteifixierung“: „Und wenn sie mich rausschmissen, dann würde ich auf dem Bauche wieder zurückkriechen, um wieder rein zu kommen.“ Dagegen hat Theo Pirker damals eine 15 Seiten lange Philippika geschrieben. Der und auch Siggi Braun waren ja nun sowieso Ouvrieristen [Arbeitertümler], deutsche Ouvrieristen, für die Parteien nur dazu da sind, um den Arbeitern übers Maul zu fahren und über ihre Köpfe hinweg eine Politik zu machen, die die Arbeiter eigentlich gar nicht wollen. Und der Pirker hat also Abendroth niedergemacht, voller Verachtung und Polemik. Und dieser Konflikt ist charakteristisch. Abendroth hatte diese ambivalente Haltung gegenüber der SPD wie der KPD, ähnlich derjenigen der KPO-Leute, die im Grunde gegen die real existierende KPD im Interesse einer besseren KPD kämpften, die sie selbst verkörperten.
Ich habe mich von Abendroth ein für alle Mal und endgültig innerlich getrennt bei seinem skandalösen Argument-Artikel in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, als er Verständnis zeigte für die Verurteilung Rudolf Bahros in der DDR. Jemand, der selbst viele Jahre im Zuchthaus gesessen hat wegen Gedankensünden, sieht, dass im eigenen Lager jemand wegen einer ideellen Kritik zu acht Jahren Knast verurteilt wird, und schreibt fünf Druckseiten irgendeines Rumgelabers von Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten voll, anstatt den einen einzigen Satz zu sagen: Lasst den Genossen Bahro sofort frei oder ich kündige Euch die Freundschaft.
Für mich ist das ein richtig schmieriges, opportunistisches Dokument, zu erklären eben wegen dieser spezifischen Fixierung. Abendroth gehörte zu den Leuten, die immer ein sozialistisches Vaterland brauchen. Und wenn denn die SPD das so- zialistische Vaterland nicht mehr sein will, dann muss es die DDR sein. Obwohl er da selbst mit guten Gründen weggegangen ist. Er brauchte ein Identifikationsobjekt. Alleine für sich zu stehen, gegen alle, gegen Kapitalisten und Stalinisten und Sozialist zu bleiben, dazu war er nicht eingerichtet. Er war in meinen Augen ein schlechter Marxist und hatte von Dialektik keine Ahnung. Er war ein brillanter Jurist und Kritiker des bürgerlichen Verfassungsrechts, da hat er sich sehr große Verdienste erworben. Aber ein wirklich radikaler Demokrat war er in meinen Augen nicht. Er hatte immer ein Über-Ich über sich, das ihn zensierte. Ein radikaler Demokrat ist aber jemand, der nie- manden über sich hat – keinen Gott, keinen Kaiser, keinen Tribun, wie es in der „Internationale“ heißt. Vom Habitus her sind mir deswegen unter allen Typen der revolutionären Bewegungen im Grunde die Anarchisten am liebsten: Hier stehe ich und niemand kann mir vorschreiben, was ich zu tun habe.
Es gibt diese treffende Passage in Trotzkis Mein Leben, wo er über Bucharin schreibt: „Bucharin muss immer an jemanden attachiert sein.“ Der hat genau das damit gemeint, was Du gesagt hast. Das trifft es eigentlich sehr gut, finde ich.
Ja, das ist interessant. Auch Lenin, das muss man ihm lassen, hatte nicht die geringsten Bedenken, allein zu stehen. Der hatte auch nicht das Gefühl: Über mir ist eine ideelle Instanz, vor der ich mich zu rechtfertigen habe oder an die ich mich attachieren muss. Der stand auf seinen eigenen Füßen. Der brauchte keine anderen. Das war beispielsweise auch bei Erich Gerlach so.
Genscher über Mandel
Zurück zu Mandel. Ihr seid bis zu seinem Tod eng befreundet gewesen. 1972 sollte Mandel an die FU Berlin berufen werden und bekam nicht nur ein Berufsverbot in Westdeutschland, sondern sogar ein Einreiseverbot für mehrere Jahre. Du warst damals Kultusminister in Niedersachsen, als der damalige Innenminister Genscher das Einreiseverbot verhängte.
Ja. Ich flog damals zufällig mit Genscher in einem Hubschrauber von Hannover nach Bonn. Ich musste zu irgendeiner außerordentlichen Sitzung des Parteivorstands oder irgend so etwas, und er war gerade wegen einer anderen Veranstaltung in Hannover. Als wir dann im Hubschrauber saßen, habe ich ihm fünf Minuten einen langatmigen Vortrag gehalten, was für ein perfekter Demokrat Ernest Mandel ist und dass das Einreiseverbot vom liberalen Standpunkt eigentlich völlig indiskutabel sein müsste. „Ach, Herr von Oertzen“, sagte er darauf, „glauben Sie nicht, dass ich nicht weiß, was Ernest Mandel geschrieben hat. Gerade das macht ihn so gefährlich.“ Ende der Diskussion. In dem Augenblick ist bei mir natürlich ein Stück Zutrauen in den bürgerlichen Rechtsstaat erschüttert worden.
Abschließend betrachtet: Welche Gesichtspunkte der politischen Konzeption von Ernest sind für Dich nach wie vor aktuell und diskussionswürdig, welche Punkte müssen kritisch diskutiert werden oder sind vielleicht überholt durch neuere Entwicklungen?
Ich will es in aller Kürze auf die wirklich wesentlichsten Punkte zuspitzen, die ich schon ganz am Anfang erwähnt habe. Das, was mich bis zuletzt an Ernest Mandel immer wieder fasziniert hat, ist diese leidenschaftliche Betonung des demokratischen Moments, oder, sagen wir, des Moments der freien Selbstorganisation in seinem Konzept von Rätedemokratie, im Kampf für die Rechte der Arbeiterbewegung und gegen den Kapitalismus, in seinem Konzept eines möglichen Übergangs, in einer Übergangsgesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus und schließlich im Sozialismus. Denn wenn man eine positive Bestimmung des Sozialismus in aller Kürze geben wollte, dann wäre das die freie Assoziation nicht nur der Produzenten, sondern aller Menschen, die freie Selbstorganisation der menschlichen Gesellschaft, die anders als nach den in der Erfahrung befestigten und tradierten Grundsätzen sogenannter demokratischer Verfahrensweisen und auf der Grundlage einer demokratischen Gesinnung und Haltung aller Beteiligten unmöglich ist. Er war in diesem Sinne in erster Linie eben ein leidenschaftlicher Demokrat. Das war, glaube ich, für ihn der Kern der sozialistischen Idee wie für mich auch.
Umgekehrt – ich sage das nicht mit einem Hauch von Schadenfreude, sondern eigentlich mit tiefer Bedrückung und Bekümmerung – konnten wir erfahren, wie grässlich seine Über- schätzung des revolutionären Potenzials in den Gesellschaften des „realen Sozialismus“ gewesen ist, und welche persönliche Enttäuschung das für ihn im Innersten bedeutet haben muss. Dass nach dem Sturz der stalinistischen Bürokratie nicht die politische Revolution mit dem Ziel der freien sozialistischen Rätedemokratie gekommen ist, sondern ein zutiefst korrupter „Staatskapitalismus“, ein Kapitalismus, der sich den Staat gekauft hat, und dass die ganzen Bürokraten sich dann in zutiefst korrupte und menschenfeindliche mafiose kapitalistische Machthaber verwandelt haben, das muss für ihn eine schreckliche Enttäuschung gewesen sein – die auch ich im Übrigen nicht für möglich gehalten habe.
Es ist aber eigentlich eine alte, schlichte Erfahrung, dass geprügelte Hunde oder Pferde sich nicht jubelnd erheben und ihren subalternen Charakter so einfach überwinden können, zu dem sie in 50 Jahren gemacht wurden. Der befreite Mann ist nicht automatisch ein freier Mann, wenn man ihm die Ketten nimmt. Freiheit ist nicht nur Freiheit von, sondern auch Freiheit zu. Das haben wir alle unterschätzt. Und ich bedaure zutiefst, dass ich vor seinem Tode – der für mich völlig überraschend kam – keine Gelegenheit mehr hatte, unsere Enttäuschungen und unsere Hoffnungen miteinander auszutauschen und zu diskutieren.
Und diese Schwäche, diese Emphase und Überschätzung des revolutionären Potenzials, das zieht sich auch durch seine Analysen und durch seine theoretischen Schriften. Alles in allem halte ich dies jedoch von allen denkbaren Schwächen für die am ehesten verzeihliche, weil sie eine Hoffnung ausdrückt. Selbst wenn sie übertrieben gewesen sein sollte und durch die Erfahrung widerlegt wird, ist sie mir hundertmal lieber als der wohlfeile Zynismus all derer, die heute nur verächtlich mit den Schultern zucken und sagen, dass wer mit 50 Jahren noch immer Kommunist oder Sozialist ist, keinen Verstand hat. Da ist mir der größte sozialistische Überoptimist doch hundertmal lieber.
Aus Theoriebeilage Avanti² Rhein-Neckar Januar 2024