Bernard Schmid
Sozial rückwärts gerichtete „Reformen“ des Rentensystems stehen in Frankreich seit dreißig Jahren im Zentrum oft heftiger innenpolitischer Auseinandersetzungen. So auch in diesen Wochen.
Auf einen ersten, massiv befolgten gewerkschaftlichen „Aktionstag“ mit Streiks und Demonstrationen am 19. Januar 2023, bei dem rund anderthalb Millionen Menschen an Protestzügen teilnahmen, folgte ein zweiter mit hohen Teil- nehmendenzahlen am 31. Januar. Ab der zweiten Februarwoche werden Arbeitskämpfe in Raffinerien und Transportbetrieben stattfinden, die zunächst auf 48 Stunden angesetzt wurden, jedoch unbefristet weitergeführt werden könnten. Damit wird die Einleitung einer innenpolitischen Kraftprobe mit der Regierung unter Staatspräsident Emmanuel Macron und Premierministerin Élisabeth Borne, aber auch hinter ihr stehenden Kapitalinteressen erwartet.
Es geht um die jüngste „Rentenreform“, die eine vor Jahren eingeleitete Serie fortsetzt. Den Anfang dazu machte 1993 die so genannte „Balladur-Reform“ – benannt nach dem damals frisch gewählten konservativen Premierminister Edouard Balladur –, die mitten in der hochsommerlichen Urlaubsphase in einem Aufmerksamkeitsloch vorbereitet wurde. Weitgehend an der Öffentlichkeit vorbei und zunächst unbemerkt, wurde sie im August jenes Jahres verabschiedet und erhöhte die Zahl der abgeforderten Beitragsjahre von Beschäftigten der Privatwirtschaft zur gesetzlichen Rentenkasse von zuvor 37,5 auf 40 Jahre. Die nächstfolgende „Reform“, eingebaut in das als Plan Juppé bezeichnete Maßnahmenpaket des kurz zuvor ernannten Amtsnachfolgers Balladurs, Alain Juppé, wurde dann jedoch im November und Dezember 1995 durch mehrwöchige Massenstreiks in den öffentlichen Diensten verhindert.
Inhalt dieses mehrere Themenbereiche abdeckenden „Plans“ waren unter anderem die Erhöhung der Zahl der Beitragsjahre zur Rentenkasse auf 40 Jahre nun auch für öffentlich Bedienstete, die Abschaffung günstigerer Rentenaltersregeln für eine Reihe von Berufsgruppen – Eisenbahnerinnen, Bus- und Métrofahrer, Beschäftigte der Pariser Oper oder der französischen Zentralbank und weitere – sowie eine Dämpfung der staatlichen Gesundheitsausgaben und stärkere Eigenbeteiligung von Patientinnen an Krankenkosten. Wurden die letztgenannten Aspekte abgeschwächt durchgesetzt, scheiterten die damaligen Angriffe auf die Rentenregelungen jedoch. Jene bei der Eisenbahn sowie in städtischen Verkehrsbetrieben in den Pariser, Marseiller und anderen Ballungsräumen wurden bis heute verhindert. Dort wurden die Rentenregeln, die eine frühere Pensionierung erlauben, erfolgreich verteidigt.
Macrons Attacke
Staatspräsident Macron strebt nun deren Aushebelung an, an welcher alle Vorgängerregierungen scheiterten. Allerdings sollen die Rentenregelungen etwa für Beschäftigte im Nah- und Fernverkehr nicht schlagartig fallen, wie Alain Juppé dies plante, sondern auslaufen: Auf bisherige Arbeitsverhältnisse sollen sie weiterhin Anwendung finden, alle künftig eingestellten Beschäftigten sie jedoch verlieren.
Daneben plant die Regierung unter Macron eine Anhebung des gesetzlichen Mindestalters für den Renteneintritt von derzeit 62 – vor einer früheren „Reform“ unter Rechtspräsident Nicolas Sarkozy im Herbst 2010 waren es noch 60 Jahre – auf zu- nächst 63 ab dem Jahr 2026, und 64 ab Anfang 2030.
Dies wird mitunter in französischen ebenso wie in deutschen Medien so dargestellt, als sei es dem deutschen Renten-„Regelalter“ von derzeit 65, aber ab 2031 dann 67 Jahren vergleichbar – um den Eindruck zu erwecken, in Frankreich errege man sich über etwas, was in Deutschland längst übertroffen werde. Der Vergleich ist jedoch falsch. Ein Renteneintritt mit 62, künftig aber mit mindestens 64 bedeutet keinesfalls ein Anrecht auf eine Pension ohne Abschläge. Vielmehr werden pro fehlendes Beitragsjahr gegenüber der geforderten Gesamtzahl (derzeit 42, ab 2027 jedoch 43, in Deutschland 45) Abschläge in Höhe von fünf Prozent abgezogen. Eine Rente ohne Abschläge gibt es erst ab dem Alter von 67. In Deutschland betragen die Abschläge 3,6 % pro Beitragsjahr, die Rente ohne Abschläge wird mit 65, ab 2031 dann mit 67 erreicht; eine Rente mit Abschlägen ist ab 63 (mit mindestens 35 Beitragsjahren) möglich, was dem französischen Mindestalter von heute 62, künftig 64 entspricht.
Ungefähr sind die Regeln auf beiden Seiten des Rheins also vergleichbar – sofern sich in Frankreich die Verschlechterung gegenüber dem jetzigen Zustand durchsetzen kann. Dem stehen jedoch starke soziale Widerstände entgegen. Diese ziehen breite Kreise in der Gesellschaft, in Umfragen unterstützen rund 60 Prozent Arbeitskämpfe und soziale Proteste, rund 70 Prozent lehnen die „Reform“-Pläne ab.