Mas­sen­wi­der­stand gegen „Ren­ten­re­form“ in Frankreich

 

Ber­nard Schmid

Sozi­al rück­wärts gerich­te­te „Refor­men“ des Ren­ten­sys­tems ste­hen in Frank­reich seit drei­ßig Jah­ren im Zen­trum oft hef­ti­ger innen­po­li­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen. So auch in die­sen Wochen.

„In Rente & Frau - doppelt verarscht“, Paris am 19.Januar 2023. (Foto: Photothèque Rouge / Martin Noda / Hans Lucas.)

In Ren­te & Frau - dop­pelt ver­arscht“, Paris am 19.Januar 2023. (Foto: Pho­to­t­hè­que Rouge / Mar­tin Noda / Hans Lucas.)
France, Paris, 2023-01-19. Une mani­fest­an­te avec une pan­car­te avec le Slo­gan “Femme retrai­tee et dou­blem­ent arn­aquee”. Mani­fes­ta­ti­on cont­re la refor­me des retrai­tes. Pho­to­gra­phie de Mar­tin Noda / Hans Lucas

Auf einen ers­ten, mas­siv befolg­ten gewerk­schaft­li­chen „Akti­ons­tag“ mit Streiks und Demons­tra­tio­nen am 19. Janu­ar 2023, bei dem rund andert­halb Mil­lio­nen Men­schen an Pro­test­zü­gen teil­nah­men, folg­te ein zwei­ter mit hohen Teil- neh­men­den­zah­len am 31. Janu­ar. Ab der zwei­ten Febru­ar­wo­che wer­den Arbeits­kämp­fe in Raf­fi­ne­rien und Trans­port­be­trie­ben statt­fin­den, die zunächst auf 48 Stun­den ange­setzt wur­den, jedoch unbe­fris­tet wei­ter­ge­führt wer­den könn­ten. Damit wird die Ein­lei­tung einer innen­po­li­ti­schen Kraft­pro­be mit der Regie­rung unter Staats­prä­si­dent Emma­nu­el Macron und Pre­mier­mi­nis­te­rin Éli­sa­beth Bor­ne, aber auch hin­ter ihr ste­hen­den Kapi­tal­in­ter­es­sen erwartet.

Es geht um die jüngs­te „Ren­ten­re­form“, die eine vor Jah­ren ein­ge­lei­te­te Serie fort­setzt. Den Anfang dazu mach­te 1993 die so genann­te „Bal­la­dur-Reform“ – benannt nach dem damals frisch gewähl­ten kon­ser­va­ti­ven Pre­mier­mi­nis­ter Edouard Bal­la­dur –, die mit­ten in der hoch­som­mer­li­chen Urlaubs­pha­se in einem Auf­merk­sam­keits­loch vor­be­rei­tet wur­de. Weit­ge­hend an der Öffent­lich­keit vor­bei und zunächst unbe­merkt, wur­de sie im August jenes Jah­res ver­ab­schie­det und erhöh­te die Zahl der abge­for­der­ten Bei­trags­jah­re von Beschäf­tig­ten der Pri­vat­wirt­schaft zur gesetz­li­chen Ren­ten­kas­se von zuvor 37,5 auf 40 Jah­re. Die nächst­fol­gen­de „Reform“, ein­ge­baut in das als Plan Jup­pé bezeich­ne­te Maß­nah­men­pa­ket des kurz zuvor ernann­ten Amts­nach­fol­gers Bal­la­durs, Alain Jup­pé, wur­de dann jedoch im Novem­ber und Dezem­ber 1995 durch mehr­wö­chi­ge Mas­sen­streiks in den öffent­li­chen Diens­ten verhindert.

Inhalt die­ses meh­re­re The­men­be­rei­che abde­cken­den „Plans“ waren unter ande­rem die Erhö­hung der Zahl der Bei­trags­jah­re zur Ren­ten­kas­se auf 40 Jah­re nun auch für öffent­lich Bediens­te­te, die Abschaf­fung güns­ti­ge­rer Ren­ten­al­ters­re­geln für eine Rei­he von Berufs­grup­pen – Eisen­bah­nerin­nen, Bus- und Métro­fah­rer, Beschäf­tig­te der Pari­ser Oper oder der fran­zö­si­schen Zen­tral­bank und wei­te­re – sowie eine Dämp­fung der staat­li­chen Gesund­heits­aus­ga­ben und stär­ke­re Eigen­be­tei­li­gung von Pati­en­tin­nen an Kran­ken­kos­ten. Wur­den die letzt­ge­nann­ten Aspek­te abge­schwächt durch­ge­setzt, schei­ter­ten die dama­li­gen Angrif­fe auf die Ren­ten­re­ge­lun­gen jedoch. Jene bei der Eisen­bahn sowie in städ­ti­schen Ver­kehrs­be­trie­ben in den Pari­ser, Mar­seil­ler und ande­ren Bal­lungs­räu­men wur­den bis heu­te ver­hin­dert. Dort wur­den die Ren­ten­re­geln, die eine frü­he­re Pen­sio­nie­rung erlau­ben, erfolg­reich verteidigt.
Macrons Atta­cke
Staats­prä­si­dent Macron strebt nun deren Aus­he­be­lung an, an wel­cher alle Vor­gän­ger­re­gie­run­gen schei­ter­ten. Aller­dings sol­len die Ren­ten­re­ge­lun­gen etwa für Beschäf­tig­te im Nah- und Fern­ver­kehr nicht schlag­ar­tig fal­len, wie Alain Jup­pé dies plan­te, son­dern aus­lau­fen: Auf bis­he­ri­ge Arbeits­ver­hält­nis­se sol­len sie wei­ter­hin Anwen­dung fin­den, alle künf­tig ein­ge­stell­ten Beschäf­tig­ten sie jedoch verlieren.

Dane­ben plant die Regie­rung unter Macron eine Anhe­bung des gesetz­li­chen Min­dest­al­ters für den Ren­ten­ein­tritt von der­zeit 62 – vor einer frü­he­ren „Reform“ unter Rechts­prä­si­dent Nico­las Sar­ko­zy im Herbst 2010 waren es noch 60 Jah­re – auf zu- nächst 63 ab dem Jahr 2026, und 64 ab Anfang 2030.

Dies wird mit­un­ter in fran­zö­si­schen eben­so wie in deut­schen Medi­en so dar­ge­stellt, als sei es dem deut­schen Renten-„Regelalter“ von der­zeit 65, aber ab 2031 dann 67 Jah­ren ver­gleich­bar – um den Ein­druck zu erwe­cken, in Frank­reich erre­ge man sich über etwas, was in Deutsch­land längst über­trof­fen wer­de. Der Ver­gleich ist jedoch falsch. Ein Ren­ten­ein­tritt mit 62, künf­tig aber mit min­des­tens 64 bedeu­tet kei­nes­falls ein Anrecht auf eine Pen­si­on ohne Abschlä­ge. Viel­mehr wer­den pro feh­len­des Bei­trags­jahr gegen­über der gefor­der­ten Gesamt­zahl (der­zeit 42, ab 2027 jedoch 43, in Deutsch­land 45) Abschlä­ge in Höhe von fünf Pro­zent abge­zo­gen. Eine Ren­te ohne Abschlä­ge gibt es erst ab dem Alter von 67. In Deutsch­land betra­gen die Abschlä­ge 3,6 % pro Bei­trags­jahr, die Ren­te ohne Abschlä­ge wird mit 65, ab 2031 dann mit 67 erreicht; eine Ren­te mit Abschlä­gen ist ab 63 (mit min­des­tens 35 Bei­trags­jah­ren) mög­lich, was dem fran­zö­si­schen Min­dest­al­ter von heu­te 62, künf­tig 64 entspricht.

Unge­fähr sind die Regeln auf bei­den Sei­ten des Rheins also ver­gleich­bar – sofern sich in Frank­reich die Ver­schlech­te­rung gegen­über dem jet­zi­gen Zustand durch­set­zen kann. Dem ste­hen jedoch star­ke sozia­le Wider­stän­de ent­ge­gen. Die­se zie­hen brei­te Krei­se in der Gesell­schaft, in Umfra­gen unter­stüt­zen rund 60 Pro­zent Arbeits­kämp­fe und sozia­le Pro­tes­te, rund 70 Pro­zent leh­nen die „Reform“-Pläne ab. 

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Febru­ar 2023
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