Gesundheitsschutz als Lippenbekenntnis?*
Wolfgang Hien
Die Corona-Krise hat zentrale Schwachstellen unserer gesellschaftlichen Organisation offengelegt. Eine dieser Schwachstellen ist die Arbeitswelt. Verblendet vom Lob der „schönen neuen Arbeitswelt“, wie es etwa in seit einigen Jahren kursierenden regierungsoffiziellen Proklamationen zur „Arbeit 4.0“ herauszuhören ist, wurden der Arbeitswelt eigene Härten und Zumutungen leicht übersehen, ebenso wie deren gesundheitliche Folgen. Krankheit gehört nicht zum Bild des fitten, agilen und erfolgreichen homo oeconomicus.
Das Jahr 2020 markiert einen Umbruch. Die Corona-Krise thematisierte Verletzlichkeit, Krankheit und Tod in einer Breite, die in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands neu und einmalig ist. Der Terminus „Gesundheitsschutz“ hielt Eingang in unsere Alltagssprache.
War zunächst der Fokus auf das private Leben gerichtet, so wandelte sich der Blick, als klar wurde, dass das Abflauen der ersten Welle noch längst kein Ende der Pandemie anzeigen würde. Sichtbar wurden die massiven Defizite des Gesundheitsschutzes in der Arbeitswelt.
Wahrgenommen wurden nicht nur die geradezu archaischen Arbeitsverhältnisse in Großschlachtereien und nicht nur die unter unsäglichen Bedingungen sich plagenden Logistikarbeiter*innen, die uns die halbe Welt ins Haus brachten.
Ins Blickfeld gerieten auch weitere Branchen wie zum Beispiel das Baugewerbe und die klassischen Produktionsbetriebe – beispielsweise die vielen Zulieferbetriebe der Automobilindustrie – mit ihrer Akkord- und Fließbandarbeit, die keinesfalls abgeschafft ist, wie manche fälschlich vermuteten.
Ins Blickfeld kamen nicht zuletzt auch die Büroberufe, die unter Hochleistungsdiktaten nun auch ins „Homeoffice“ zu gehen hatten, was der Entgrenzung von Arbeit und Leben weiter Vorschub leistete.
Zerstörung durch Ausbeutung
Schon vor mehr als zwei Jahrzehnten beschrieb der US-Soziologe Richard Sennett die identitäts- und persönlichkeitszerstörenden Wirkungen der intensivierten und flexibilisierten Arbeit. Nicht mehr die Arbeitskraft, sondern der ganze Mensch ist gefordert – ein Prozess, der begrifflich als Subjektivierung der Arbeit gefasst wurde.
Gleichwohl versuchen die Subjekte, den Zumutungen und Zurichtungen eine positive Seite abzugewinnen und sie als Erweiterung der Selbstverwirklichungsmöglichkeiten zu deuten, gleichsam im Sinn einer „doppelten Subjektivierung“ – eine sinnwidrige und zum Misslingen tendierende Konstellation. Als Stichworte seien Überverausgabung, Erschöpfung und Depression genannt.
Beispielhaft für die doppelte Subjektivierung steht die Pflegearbeit, deren extreme Bedingungen 2020 in besonderer Weise deutlich wurden: Pflegearbeit repräsentiert eine mehrfach verschränkte Arbeitssituation, in die zugleich hohe körperliche und hohe psychomentale Belastungen eingehen.
Gefordert ist nicht nur schweres Heben, Tragen, Ziehen und Schieben und nicht nur die klassische Emotionsarbeit, sondern auch die tayloristische Einbindung in digital gesteuerte Fließprozesse, die von den Pflegekräften auch noch optimiert werden müssen. Die psychosozialen Kosten der neuen Arbeitswelt sind enorm.
Mehr als ein Drittel der Erwerbstätigen leidet an chronischen Erkrankungen, bei den ab 50-Jährigen sind es schon mehr als die Hälfte. Gemessen an den Arbeitsunfähigkeitstagen stehen Rücken- und Gelenkerkrankungen immer noch an erster Stelle, mittlerweile dicht gefolgt von psychischen Erkrankungen und hier vor allem: Depressionserkrankungen. Der ursächliche Anteil der Arbeitswelt am Krankheitsgeschehen ist signifikant und wird in hoch belasteten Berufsgruppen auf 30 bis 50 Prozent geschätzt.
Defizite bei der Prävention
Die Corona-Krise hat zugleich die eklatanten Defizite der Prävention ans Tageslicht gebracht: An vielen Arbeitsplätzen und in vielen Arbeitsbereichen fehlt, obwohl durch das Arbeitsschutzgesetz seit 1996 vorgeschrieben, die gesundheitsbezogene Gefährdungsanalyse und Gefährdungsbeurteilung. Präventive Maßnahmen, das heißt gesundheitsgerechte und für die bereits Erkrankten auch leidensgerechte Arbeitsgestaltung, werden, obwohl auch dies gesetzlich verbindlich ist, dem Zufall und dem Wohlwollen von Unternehmen überlassen.
Die eigentlich vorgesehene staatliche Arbeitsschutzaufsicht ist seit den 1990er Jahren personell und auch hinsichtlich effektiver Zugriffsmöglichkeiten heruntergefahren worden, das heißt eine staatliche Kontrolle der Arbeitsverhältnisse und ihrer gesundheitlichen Gefährdungen findet weitestgehend nicht statt. Das ist schon seit geraumer Zeit so, doch erst Corona hat dies offengelegt.
Nicht nur Fleischfabriken, sondern auch Logistikfirmen, Bauunternehmen und wieder vor allem Pflegebetriebe fallen als Brennpunkte von SARS-CoV-2-Infektionen und COVID-19-Erkrankungen auf. Die Gesundheitsschutzsituation ist oftmals miserabel, in manchen Betrieben – um nur ein Beispiel zu benennen – fehlt es bis heute an qualitativ guten Schutzausrüstungen.
Im Gesundheits- und Sozialwesen sind seit Beginn der Pandemie (Stand Februar 2021) mehr als 1.200 Beschäftigte an COVID-19 schwer, das heißt hospitalisiert erkrankt und mehr als 200 von ihnen gleichsam „im Dienst“ verstorben. Die Aufregung ist groß und auch in systemkonformen Medien wird breit gefragt, wie es sein kann, dass in einem hoch entwickelten Sozial- und Rechtsstaat die Arbeitsverhältnisse derart mangelhaft sind.
Nun verweist aber diese Situation gleichzeitig auf die Ebene der Subjektivität, das heißt darauf, dass die Arbeitenden selbst sich den Bedingungen unterwerfen, die sie krank machen oder für sie als Kranke nur mäßig gute Beschäftigungschancen bieten.
Unvermeidlich ist hier die Frage nach dem Eigenanteil der Subjekte an Krankheitsgenese und Krankheitsverlauf, zumal die Krankheitsdefinition und die ursächlichen Zuschreibungen vielfach im Unklaren bleiben und von soziokulturellen und sozialpolitischen Wandlungen und Konjunkturen mitbestimmt werden.
Bei näherem Hinsehen offenbaren sich einerseits Unaufgeklärtheit, Unsicherheit und Hilflosigkeit wie andererseits auch Beratungsperspektiven, die womöglich änderungsrelevante Momente enthalten oder zum Tragen bringen könnten, wenn sie in der Fläche halbwegs etabliert wären.
Aufklärung, Beratung und Unterstützung hinsichtlich Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention sind als sozialstaatliche Leistung in den Sozialgesetzbüchern breit aufgestellt – doch auch hier wiederum eher normativ denn tatsächlich real existierend.
Gesundheitsschutz erkämpfen
Insbesondere in mittleren und kleinen Betrieben bleiben chronisch Kranke oftmals sich selbst und den Unbillen der jeweiligen betrieblichen und sozialen Wirklichkeit überlassen. Arbeits- und berufsbedingte Erkrankungen werden nicht wahrgenommen, und wenn doch, so gibt es – insbesondere bei der Anerkennung von Berufskrankheiten – zahllose Hürden, die alleine kaum zu bewältigen sind.
Die sozialpolitischen, sozialpsychologischen, sozialmedizinischen, sozialkulturellen und nicht zuletzt auch die klassenpolitischen Dimensionen des Themas „Arbeit und Krankheit“ sind außerordentlich vielfältig und ineinander verwoben.
Es ist höchste Zeit für eine Gesundheitsschutzbewegung in der Arbeitswelt. Sie muss „von unten“ in den Betrieben gegen die Kapitalinteressen erkämpft und organisiert werden, und sie muss vor allem Betriebsräte und Gewerkschaften in die Pflicht nehmen.