Bernhard Brosius
(Teil 1 - 2 des auf dem RSB-Seminar “Alternativen zum Kapitalismus” gehaltenen Referats.)
Teil 1:
Die Suche nach einer anderen Ökonomie
Auch wenn die derzeitige Systemkrise des Kapitalismus die Suche nach nichtkapitalistischen Formen des Wirtschaftens befördert, so sind alternative ökonomische Modelle nicht erst seit Ausbruch der Krise entwickelt worden.
Schon vor über 170 Jahren empörten sich die frühen Sozialisten über die schreiende Ungerechtigkeit im Kapitalismus und begannen mit der Suche nach einer Wirtschaftsform, die soziale Ungerechtigkeit unmöglich machen sollte. Die Konzepte dieser Frühsozialisten sind in die theoretischen Arbeiten von Marx eingeflossen.
Viele Menschen sind davon überzeugt, Marx habe keine verwertbaren Aussagen zu einer nachkapitalistischen Ökonomie gemacht. Das ist falsch!
Marx hat kein Buch darüber geschrieben und keinen Aufsatz. Doch in seinen Werken sind zahllose Gedanken enthalten zu einer Wirtschaft, die die Menschheit versorgen kann, ohne dass sie von Konkurrenz und Profitgier getrieben wird. Marxens Texte sind wichtige Quellen bei der Suche nach einer anderen Wirtschaftsform, wie jeder bestätigen wird, der den Registerband zu den Marx – Engels – Werken zur Hand nimmt und die Passagen zu den entsprechenden Schlagworten sucht und liest.
Diese Textstellen zeigen außerdem, dass Marx zwei Formen nichtkapitalistischer Ökonomie deutlich vor Augen hatte – Ökonomien, in denen alle notwendigen Arbeiten erledigt werden ohne Bezahlung, Geldverkehr und Tausch, indem die notwendigen Arbeiten verteilt werden nach Befähigung und die Güter nach Bedarf:
Zum einen die Familie, in der die Zeit für das Annähen abgerissener Knöpfe nicht verrechnet wird gegen die Zeit für das Zubereiten einer Mahlzeit, – vielmehr werden alle notwendigen Tätigkeiten schlicht und einfach ausgeführt. Zum anderen die sehr viel ausgedehntere Ökonomie der vorindustriellen, bäuerlichen Großfamilie, in der gesponnen, geflochten, gewebt, geschneidert, gebaut, gekocht, usw. … wurde, ohne dass je innerhalb des Bauernhofes die Produkte getauscht worden wären. Derartige Beispiele verwendet Marx immer wieder, um theoretische Prinzipien einer nichtkapitalistischen, sozialen Ökonomie zu veranschaulichen.
Mit Marx endete gewissermaßen die erste Welle der Suche nach der alternativen Ökonomie, gespeist aus der Empörung über die Ungerechtigkeit im Kapitalismus.
Die zweite Welle entsprang der praktischen Notwendigkeit, nach der Oktoberrevolution in Russland eine nichtkapitalistische Ökonomie aufzubauen. Sie begann mit einer intensiven Debatte Anfang der 1920er Jahre, die später aufgearbeitet wurde unter anderem von Ernest Mandel und in seinen Werken ihren Niederschlag fand, z.B. in den letzten Kapiteln der „Marxistischen Wirtschaftstheorie“ oder Broschüren. Die Debatte wiederholte sich nach der kubanischen Revolution 1960. Auch hier gibt es Texte, die für unsere heutige Positionierung relevant sind z.B. von Ernest Mandel oder Che Guevara.
Die dritte Welle begann um 2000, also nach Überwindung der Schockstarre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Bereits 2002 erschien unter dem Pseudonym „Darwin Dante“ ein erstaunliches Buch, in dem entwickelt wird, wie sich die inzwischen erreichte extrem hohe Produktivität in einer alternativen Ökonomie auswirken würde. Der Autor rechnet vor, dass zur Erhaltung des bereits erreichten Lebensstandards eine 5-Stunden Arbeitswoche ausreichen würde. So heißt denn auch sein Buch: „5 – Stunden sind genug“, welches auch via Internet abrufbar ist. Seit Beginn der Zweiten Weltwirtschaftskrise 2007 und angesichts dessen, was da auf uns zukommen wird, hat sich die Beschäftigung mit einer anderen Ökonomie intensiviert. Neue theoretische Aspekte werden thematisiert, aber es gibt auch zeit- genössische, praktische Erfahrungen. Cecosesola, eine große land- wirtschaftliche Kooperative in Venezuela, feierte 2012 ihr 45jähriges Bestehen. Und zahlreiche Industriebetriebe wurden nach dem Bankrott ihrer Eigentümer von den ArbeiterInnen übernommen und weitergeführt, z.B. in Argentinien.
In seiner umfassenden (und vernichtenden) Zivilisationskritik unserer Epoche („Das Ende der Megamaschine – Die Geschichte einer scheiternden Zivilisation“) schreibt der Autor, Fabian Scheidler 2015: „Die Kombination der ökologischen und sozialen Verwerfungen bringt eine extrem komplexe, chaotische Dynamik mit sich, und es ist prinzipiell unmöglich vorherzusagen, wohin dieser Prozess führen wird. Klar ist aber, dass ein tiefgreifender, systemischer Umbruch unausweichlich ist – und teilweise schon begonnen hat. Dabei geht es um weit mehr als um eine Überwindung des Neoliberalismus oder den Austausch bestimmter Technologien; es geht um eine Transformation, die bis in die Fundamente unserer Zivilisation reicht. Die Frage ist nicht, ob eine solche Transformation stattfinden wird – das wird sie auf jeden Fall, ob wir wollen oder nicht – sondern wie sie verläuft und in welche Richtung sie sich entwickeln wird. … Die Frage des Wie und Wohin der Transformation ist daher eine Frage von Leben und Tod für große Teile der Weltbevölkerung. Art und Richtung des systemischen Umbruchs werden darüber entscheiden, in was für einer Welt wir und unsere Nachkommen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts leben werde.“. Und gegen Ende des Buches, wenn es um die Alternativen geht, heißt es. „Der Motor der großen Maschine besteht darin, aus Geld mehr Geld zu machen, vollkommen unabhängig vom Sinn oder Unsinn der damit verbundenen Tätigkeiten. Aus dieser Logik auszusteigen bedeutet, die Sinnfrage wieder in die Ökonomie einzuführen. Anstatt zu fragen: ‚Wie können wir die Wirtschaft ankurbeln?‘ oder ‚Wie können wir Beschäftigung schaffen?‘ kehrt sich die Perspektive um: Wozu stellen wir Dinge her? Was brauchen wir wirklich? Wie können und wollen wir das produzieren und verteilen? Was können wir weglassen? Wie wollen wir darüber entscheiden, was und wie wir produzieren?“ … „Die verschiedenen Ansätze, aus der Profit- und Akkumulationslogik auszusteigen, spiegeln recht unter- schiedliche Auffassungen davon, welche Rolle dem Markt und dem Geld zukommen soll. … Trotz dieser Unterschiede zeigt sich aber tendenziell ein gemeinsamer Nenner: Die Sicherung des existentiell Notwendigen muss aus der Marktlogik herausgelöst werden. Für Wohnen, Ernährung, Wasserversorgung, Energie, Gesundheit, Bildung, Kultur, Kommunikation und Transport geht es darum, solidarische Formen der Produktion und Verteilung zu schaffen, sei es innerhalb von Kooperativen, landesweiten Netzwerken oder auch über öffentliche Institutionen.“
Mit dieser Liste des „existentiell Notwenigen“ sind wir bereits mitten drin in der Diskussion um die menschlichen Bedürfnisse und die Möglichkeiten ihrer Befriedigung.
Teil 2:
Profitorientiert oder bedürfnisorientiert?
Kapitalistische Ideologen machen es sich einfach und sagen: „Es gibt so viele Bedürfnisse, nahezu unendlich viele, dass nur der Kapitalismus sie befriedigen kann.“
Dieser Satz ist in dreifacher Hinsicht falsch:
1). Die kapitalistische Ökonomie kann nur solche Bedürfnisse befriedigen, die überhaupt durch eine Ökonomie befriedigt werden können, also die Bedürfnisse nach Gütern und Dienstleistungen, die einen Preis haben und gekauft werden können, während eine nichtkapitalistische Ökonomie – auch wenn es vielleicht paradox klingen mag – das Potential hat, auch außerökonomische Bedürfnisse zu befriedigen, z.B. das Bedürfnis, durch die Arbeitsprozesse nicht die Natur zu zerstören, – oder das Bedürfnis, Arbeit und Familie besser miteinander zu verbinden, – oder das Bedürfnis, die Güterproduktion auch mit kulturellen Aktivitäten zu verbinden.
2). Kann der Kapitalismus denn wenigsten die Bedürfnisse nach käuflichen Gütern und Dienstleistungen befriedigen? Über 800 Millionen Menschen auf der Erde sind invalide infolge chronischer Mangel- und Unterernährung. Jedes Jahr verhungern etwa 30 Millionen Menschen. 1,3 Milliarden Menschen haben keinen dauerhaft gesicherten Zugang zu sauberem Wasser und jährlich sterben 3,3 Millionen Kinder, weil sie verschmutztes Wasser trinken müssen. Und um Unterversorgung an Trinkwasser, Nahrung und Medikamenten zu untersuchen, müssen wir nicht mehr ins Innerste Afrikas gehen (wo die Menschen sich übrigens hervorragend selbst versorgen konnten, bevor sie der kapitalistischen Wirtschaft unterworfen wurden): In den USA hungerten 2012 etwa 48 Millionen Menschen, fünfmal so viel wie 1960, „weil die Löhne so geschrumpft sind“ und in Deutschland hungerten im gleichen Jahr sechs Millionen. Diese Zahlen standen nicht in einem linksradikalen Pamphlet, sondern im „National Geographic“ (August 2014).
Kann der Kapitalismus die Bedürfnisse befriedigen? Oder ist es nicht gerade das himmelschreiende Versagen der kapitalistischen Marktwirtschaft, die uns zwingt, nach einer Alternativen zu suchen?
3). Gibt es überhaupt so unübersichtlich viele Bedürfnisse? Versuchen wir doch, sie näher zu bestimmen. Die eine Gruppe der elementarsten Bedürfnisse umfasst Schutz und Versorgung (und Zuwendung) in allen Fällen, in denen der Mensch schwächer ist als die Mitmenschen und deren Hilfe benötigt: in Kindheit, Krankheit und Alter. Gerade hier müssen wir uns fragen, ob diese Bedürfnisse im Kapitalismus überhaupt optimal befriedigt werden (können). Die zweite Gruppe besteht aus einem Paket konkreter Güter und Dienstleistungen. Die Liste an Bedürfnissen, die Fabian Scheidler, (Autor des Buches: „Das Ende der Megamaschine – die Geschichte einer scheiternden Zivilisation“) erstellte, sieht nicht anders aus als die Listen anderer Autoren, z.B. Ernest Mandel: Nahrung, Wasser, Kleidung, Wohnung, Energie, Hygiene, Bildung, Kultur, Gesundheit, Kommunikation, Transport. Dabei müssen wir aber einen einfachen Sachverhalt berücksichtigen: Wenn wir durstig sind, haben wir das Bedürfnis, etwas zu trinken. Ob dieses Bedürfnis befriedigt wird durch Wasser, Tee, Obstsaft, Wein, Bier oder Champagner, ist eine andere Frage. Denn: Ob ein Bedürfnis als Grundbedürfnis, als erweitertes Bedürfnis oder als Luxusbedürfnis in Erscheinung tritt, charakterisiert nicht die Art des Bedürfnisses, sondern das Niveau seiner Befriedigung! Nur, wenn wir diese beiden Ebenen miteinander vermischen, kommen wir zu so unglaublich vielen Bedürfnissen.
Heute wird produziert, was Abnehmer findet. Eine soziale Gesellschaft hingegen wird demokratisch entscheiden, auf welchem Niveau Bedürfnisse befriedigt werden nach Maßgabe dessen, was sie leisten kann und leisten will. Kriterien könnten sein: Arbeitsaufwand, Umweltbelastung (bei Herstellung, Betrieb und Entsorgung des Produktes) sowie Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Und da die Konsumenten, deren Bedürfnisse befriedigt werden sollen, ja gleichzeitig auch die Produzenten sind, welche diese Güter herstellen, werden sie sicher auch Wege finden, Bedürfnisse auch auf Luxusniveau zu befriedigen.
Die Behauptung, es gebe nahezu unendlich viele Bedürfnisse, so dass nur der Kapitalismus alle befriedigen könne, entpuppt sich als platte ideologische Behauptung, als Zweckpropaganda, die uns davon abhalten soll, nach Alternativen zur profitorientierten Ökonomie des Kapitalismus zu suchen. Suchen wir also eine Ökonomie, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert.
zum Teil 3-4 in der Rhein-Neckar Beilage zur Avanti 241, Februar 2016