Ernest Mandel
Seit Mitte der 1970er Jahre gibt es eine weltweite Offensive des Kapitals gegen die Arbeit und die werktätigen Massen in der „Dritten Welt“. Diese Offensive ist Ausdruck einer drastischen Verschlechterung des Kräfteverhältnisses auf Kosten der Arbeitenden. Sie hat objektive und subjektive Wurzeln.
Die objektiven Wurzeln sind im Wesentlichen der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit in den imperialistischen Ländern von 10 Millionen auf mindestens 50 Millionen, wenn nicht mehr. Die offiziellen Statistiken sind alle Regierungsstatistiken, und sie sind alle gefälscht. In den Ländern der „Dritten Welt“ gibt es mindestens 500 Millionen Arbeitslose. Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs steigt die Arbeitslosigkeit auch in den bürokratisierten postkapitalistischen Gesellschaften.
Die subjektiven Ursachen liegen im Wesentlichen in dem völligen Versagen der organisierten Arbeiter- und Massenbewegungen, der kapitalistischen Offensive Widerstand zu leisten. In vielen Ländern haben diese Organisationen sogar eine Vorreiterrolle gespielt: Frankreich, Italien, Spanien und Venezuela, um nur einige zu nennen. Dies hat zweifellos den Widerstand gegen die kapitalistische Offensive erschwert.
Dennoch sollte man die konkreten Auswirkungen der pseudoliberalen − in Wirklichkeit neokonservativen − Wirtschaftspolitik auf die weltweiten Entwicklungen nicht unterschät- zen. Diese Politik, die durch den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank festgelegt und durch die Regierungen von Thatcher und Reagan und ihre zahlreichen Nachahmer in der „Dritten Welt“ symbolisiert wird, war eine Katastrophe sondergleichen.
Unter dem Vorwand, Währungsstabilität, Inflationsbekämpfung und ausgeglichenen Haushalten Priorität einzuräumen, wurden die Sozialausgaben und die Ausgaben für die Infrastruktur rücksichtslos gekürzt. Dies hat zu einer weltweiten Zunahme der sozialen Ungleichheit, der Armut, der Krankheiten und der Bedrohung der Umwelt geführt. Aus makroökonomischer Sicht ist dies zunehmend kontraproduktiv und irrational. Aus makrosozialer Sicht ist dies unhaltbar und abscheulich. Diese Politik hat zunehmend unmenschlichere Folgen, die das Überleben der Menschheit bedrohen.
Ich möchte auf den grundlegenden Zynismus der neokonservativen ideologischen Offensive hinweisen, die mit der konservativen Wirtschaftspolitik einhergeht. Die Neokonservativen sagen, dass sie die Staatsausgaben drastisch senken wollen. In Wirklichkeit waren die Staatsausgaben noch nie so hoch wie in den 1980er und frühen 1990er Jahren unter den Neokonservativen. Was wirklich geschah, war eine Verlagerung von den Sozial- und Infrastrukturausgaben zu den Militärausgaben, die für diesen Zeitraum auf 3 Billionen Dollar geschätzt werden können, und zu den Subventionen für Unternehmen. Die Rettung bankrotter und nahezu bankrotter Finanzinstitute wie der Spar- und Darlehenskassen in den Vereinigten Staaten sowie die enormen Zinszahlungen für die steil ansteigenden Schulden gehören in diese Kategorie.
Die Neokonservativen geben vor, für die universellen Menschenrechte einzutreten, aber in Wirklichkeit werden von den neokonservativen Regierungen angesichts der unübersehbaren Massenreaktionen gegen diese unsoziale Politik immer mehr demokratische Freiheiten ausgehöhlt und angegriffen: Gewerkschaftsfreiheit, das Recht auf Abtreibung, Pressefreiheit, Reisefreiheit. Sie schaffen das entsprechende Klima, in dem rechtsextreme Tendenzen − Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Neofaschismus − entstehen können.
Armut in der „Dritten Welt“
Die weltweite Zunahme der Armut ist katastrophal. In der „Dritten Welt“ ist sie zu einer historischen Katastrophe geworden. Nach offiziellen Statistiken der Vereinten Nationen haben mehr als 60 Länder mit insgesamt mehr als 800 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zwischen 1980 und 1990 einen absoluten Rückgang des Pro-Kopf-Inlandsprodukts erlitten. In den ärmsten dieser Länder liegt dieser Rückgang in der Größenordnung von 30 bis 50 %. Für die ärmsten Bevölkerungsschichten dieser Länder schwankt die Zahl um 50 %. Das Pro-Kopf-Inlandsprodukt in Lateinamerika lag 1950 bei 45 % desjenigen der imperialistischen Länder. Im Jahr 1988 sank es auf 29,7 %.
Jahrzehntelange bescheidene Steigerungen des öffentlichen Wohlstands wurden innerhalb weniger Jahre zunichte gemacht. Was dies konkret bedeutet, lässt sich am Beispiel Perus veranschaulichen. Nach Angaben der New York Times sind mehr als 60 % der Bevölkerung Perus unterernährt, 79 % leben unterhalb der Armutsgrenze, die recht willkürlich auf 40 Dollar pro Monat festgelegt wird. Selbst Beamte mit Hochschulausbildung verdienen nur 85 Dollar im Monat. Das ist nicht genug, um einen Monat lang die Parkgebühren für ein Auto in diesem Land zu bezahlen.
Berücksichtigt man die soziale Differenzierung innerhalb der Länder der „Dritten Welt“, ist die Situation noch katastrophaler. Die ärmsten Einwohner des ärmsten Landes haben heute eine tägliche Nahrungsaufnahme, die der eines Nazi-Konzentrationslagers in den 1940er Jahren entspricht. In einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen für eine Konferenz im Dezember 1992, wird geschätzt, dass eine halbe Milliarde Menschen an chronischem Hunger leidet, zusätzlich zu mehreren hundert Millionen Menschen, die an saisonaler Unterernährung leiden. Nahezu 800 Millionen Menschen in der „Dritten Welt“ leiden an Hunger. Rechnet man zu dieser Zahl noch die Hungernden in den postka- pitalistischen und imperialistischen Ländern hinzu, kommt man auf fast eine Milliarde Menschen, die heute Hunger leiden. Und das, obwohl insgesamt eine Überproduktion von Nahrungsmitteln besteht.
Im Norden Brasiliens hat sich eine neue Bevölkerungsgruppe von Pygmäen herausgebildet, deren Körpergröße etwa 35 Zentimeter kleiner ist als im brasilianischen Durchschnitt. Die herrschende Bourgeoisie und ihre Ideologen bezeichnen diese Menschen als „Rattenmenschen“. Diese Charakterisierung ist völlig entmenschlichend, erinnert an die Nazis und hat sehr unheilvolle Implikationen. Ihr wisst, was man mit Ratten macht.
Wachsende Ungleichheit
Die katastrophalen Auswirkungen der neokonservativen Wirtschaftspolitik beschränken sich keineswegs auf die Länder der „Dritten Welt“ oder auf die Lebensbedingungen der Masse der Bewohnerinnen und Bewohner der postkapitalistischen Gesellschaften. Sie beginnen sich langsam, aber sicher auch auf die imperialistischen Länder auszudehnen. In diesen Ländern leben, je nach Quelle, zwischen 55 und 70 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Es entwickelt sich eine duale Gesellschaft, in der immer mehr soziale Gruppen weniger oder gar nicht durch das Netz der sozialen Sicherheit geschützt sind: Arbeitslose, Gelegenheitsarbeiter, Menschen, die von Sozialhilfe leben, Mütter, die viele Kinder allein versorgen müssen, demoralisierte Kleinkriminelle − das sind einige der Bestandteile dieser Unterschicht.
Hier nur ein Beispiel, das sehr aufschlussreich, sehr traurig und sehr empörend ist. Im Herzen des historisch revolutionären Paris, wo fünf große Revolutionen ihren Anfang genommen haben, stehen jeden Tag Tausende von Migranten, Arbeitern und Gelegenheitsarbeitern, herum und warten auf eine Anstellung. Manchmal werden sie eingestellt, manchmal nicht. Sie sind ohne jeglichen sozialen Schutz, ohne Aufenthaltsgenehmigung. Sie konkurrieren untereinander, um für einen Hungerlohn zu arbeiten, denn ein Hungerlohn ist immer noch höher als das, was sie in ihren Heimatländern bekommen können.
Die Situation in den Ghettos der Vereinigten Staaten ist typisch für diesen Trend. Die Jugendarbeitslosigkeit in den Ghettos erreicht 40 %, und die meisten dieser Jugendlichen haben keinerlei Hoffnung, in Zukunft einen Arbeitsplatz zu finden. Dasselbe Phänomen hat sich in begrenzterem Maße auch in meh- reren südeuropäischen Ländern und in Großbritannien ausgebreitet. Die Privatisierung verschärft diese Tendenzen.
Während die Reallöhne in den USA zurückgegangen sind, ist die Zahl der Menschen mit einem stabilen Bruttojahreseinkommen von einer Million Dollar um das 60fache gestiegen. Die Zahl der Menschen, die zwischen 60.000 und 1 Million Dollar verdienen, ist von 78.000 auf 2 Millionen gestiegen, aber es gibt buchstäblich keinen einzigen Arbeiter unter diesen neuen Reichen.
Die Reichen werden reicher
Die perversen Auswirkungen der neokonservativen Politik auf die Weltwirtschaft sind ebenfalls offensichtlich. Sowohl die wachsende Armut in der „Dritten Welt“ als auch die dementsprechende Verarmung von Teilen der Bevölkerung in den imperialistischen Ländern sind eine der wichtigsten Bremsen für jede bedeutende Expansion der Weltwirtschaft.
Die Verschuldung der „Dritten Welt“ hat zu dieser perversen und skandalösen Entwicklung eines Nettokapitalflusses vom Süden in den Norden geführt, wobei die ärmsten Teile der armen Länder den reichsten Teil der reichen Länder subventionieren. Man könnte zynisch sagen, dass das der Sinn des Kapitalismus ist. Dennoch ist es zumindest in dieser Dimension und in diesem Ausmaß ein neues Phänomen im 20. Jahrhundert.
Das Gleiche gilt für die ungünstige Entwicklung der realen Austauschverhältnisse („Terms of Trade“) und die Rolle der Zwischenhändler im Weltpreisgefüge. Es ist kaum bekannt, dass das zweitgrößte Exportkontingent der „Dritten Welt“ nach Erdöl der Kaffee ist, den wir alle trinken. Für westliche Verbraucherinnen und Verbraucher ist Kaffee zurzeit relativ billig. Ein Pfund Kaffee kostet in den westlichen Ländern etwa 5 Dollar. Die Arbeiter, die diesen Kaffee produzieren, erhalten 30 bis 50 Cent pro Tag. Der Rest wird von Zwischenhändlern eingenommen.
Die größte Gefahr einer Anpassung an die Verhältnisse in der „Dritten Welt“ besteht für den Süden, Osten und Westen in der Ausbreitung typischer armutsbedingter Epidemien wie Cholera und Tuberkulose, die als ausgerottet galten. Die unheilvolle Bedrohung durch AIDS ist ebenfalls armutsbedingt. Der ehemalige Direktor des AIDS-Bekämpfungsprogramms der Weltgesundheitsorganisation sagt voraus, dass am Ende dieses Jahrhunderts 100 Millionen Menschen HIV-infiziert sein werden, von denen 25 % erkranken und sterben werden; 85 % dieser Todesfälle werden in der „Dritten Welt“ auftreten.
Dies ist nicht auf eine kulturelle oder ethnische Besonderheit zurückzuführen, sondern auf Defizite in den Bereichen Bildung, Prävention, Gesundheitsversorgung und Hygiene. Gleichzeitig wurden seit Beginn der Epidemie 7 Milliarden Dollar für den Kampf gegen AIDS ausgegeben. Nur 3 % dieser Summe wurden in der „Dritten Welt“ ausgegeben, wo 85 % der HIV-Infizierten leben. Es ist offensichtlich selbstmörderisch zu glauben, selbst für die Kapitalistenklasse, dass die Epidemie nicht auch die imperialistischen Länder erreichen wird.
Unter diesen Umständen ist der Aufruf des Papstes völlig unverantwortlich, den Kampf gegen AIDS auf Selbstbeschränkung und Keuschheit des Einzelnen zu beschränken und sich gegen die Verwendung von Kondomen und der Antibabypille auszusprechen. Die neokonservative Politik der Kürzung von Gesundheits- und Bildungsbudgets überall erscheint ebenfalls unverantwortlich und selbstmörderisch. Die Gesamtauswirkungen sind sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich widerwärtig.
„Marktwirtschaft“
In allen Universitätsfakultäten, die sich mit Entwicklungspolitik befassen, gilt es in allen Ländern der Welt als Binsenweisheit, dass die produktivsten Investitionen die in Bildung, Gesundheitswesen und Infrastruktur sind. Überschreitet man jedoch den Korridor in die Unterabteilung der Wirtschaftswissenschaften, die sich öffentliche Finanzen nennt, dann hört man plötzlich, dass ein ausgeglichener Haushalt wichtiger ist als Investitionen in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur und dass es in diesen Budgets rücksichtslose Kürzungen geben muss, um die Inflation zu stoppen.
Es muss betont werden, dass die pseudoliberale, neokonservative Politik im Rahmen einer kapitalistisch dominierten Weltwirtschaft betrieben wird. Aus dieser grundlegenden Tatsache lassen sich zwei wichtige Schlussfolgerungen ziehen.
Erstens: Vieles von dem Gezeter über die angebliche Überlegenheit der sogenannten Marktwirtschaft ist reine Augenwischerei. Marktwirtschaft in reiner oder nahezu reiner Form gibt es nicht und hat es nie gegeben.
Zweitens wird jede alternative Wirtschaftspolitik, die innerhalb desselben Rahmens angewandt wird, wie die neokeynesianische Politik, die jetzt von einer wachsenden Zahl internationaler Institutionen und führender Kapitalisten vorgeschlagen wird, nicht zu einer grundlegenden Änderung all dieser schrecklichen Realitäten führen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der enorme technologische Rückstand, den der Imperialismus der „Dritten Welt“ auferlegt hat, bedeutet, dass in die- sem Teil der Erde zwar nur 15 % des gesamten globalen Energieverbrauchs stattfindet, dort aber fünf- bis sechsmal mehr Energie pro Dollar des Bruttoinlandsprodukts aufgewendet werden muss als in den reichsten Ländern.
Daher stellt sich die Frage, ob wir nicht eine grundlegende Alternative sowohl zur pseudoliberalen Politik als auch zum gesamten kapitalistischen System in all seinen Varianten brauchen, um zu einer qualitativ besseren Welt als der jetzigen zu gelangen. Meine Antwort lautet eindeutig Ja. Deshalb brauchen wir den Sozialismus, und deshalb bin und bleibe ich Sozialist.
Die Menschheit ist mit schrecklichen Bedrohungen für ihr physisches Überleben konfrontiert: atomare, chemische und biologische Kriege, traditionelle Massenkriege, die durch die Bombardierung von Kernkraftwerken mit konventionellen Waffen zu Atomkriegen werden könnten, wachsende Risiken der Umweltzerstörung, die durch den Treibhauseffekt und das Ozonloch gekennzeichnet sind, die Zerstörung der Tropenwälder, die Versteppung großer Teile Afrikas und Asiens und die kumulativen Auswirkungen epidemischer Katastrophen.
Viele Menschen haben die Frage gestellt: „Ist es nicht schon zu spät? Ist der Jüngste Tag nicht unvermeidlich? Wird die Menschheit die nächsten 50 Jahre überleben können?“ Wir glauben, dass die Menschheit nicht dem Untergang geweiht ist. Das ist kein Wunschdenken oder reine Intuition. Es ist eine Überzeugung, die auf soliden wissenschaftlichen Daten und der anhaltenden Dynamik der wissenschaftlichen Forschung beruht.
Nur ein Beispiel: Es gibt einen konkreten, seriösen Ansatz, um die Wüstenbildung in Afrika vollständig rückgängig zu machen; die Wüste zu bewässern, um sie wieder zu einer reichen Nahrungsmittelregion zu machen, wie sie es bis vor 1.500 Jahren war; ihre Bewohner zu inspirieren, naturschonende landwirtschaftliche Techniken anzuwenden, um von kommerziellen Kulturen auf solche umzusteigen, die es ihnen ermöglichen, die Afrikanerinnen und Afrikaner auf gesunde Weise zu ernähren. Die Auswirkungen einer grünen, bewaldeten Sahara auf das Weltklima wären wirklich verblüffend.
Das Problem, das es in diesem Fall zu lösen gilt, ist kein technisches, natürliches oder kulturelles. Es ist ein soziales Problem. Damit diese Lösung angewandt werden kann, braucht man eine Gesellschaftsordnung, in der nicht Gier und der Wunsch nach Anhäufung von persönlichem Reichtum ohne Rücksicht auf die gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten sowie kurzfristige Pseudo-Rationalität als Ersatz für langfristige Rationalität das soziale und wirtschaftliche Verhalten bestimmen. Wir brauchen die Macht in den Händen der gesellschaftlichen Kräfte, die verhindern können, dass Einzelne, Klassen und große Klassenfraktionen der Gesellschaft ihren Willen aufzwingen. Die Macht muss in den Händen der Werktätigen liegen, die bereit sind, Solidarität, Zusammenarbeit und Großzügigkeit mit demokratischen Mitteln über kurzsichtigen Egoismus und Verantwortungslosigkeit siegen zu lassen.
Es ist keine Frage des Bewusstseins. Die Reichen, die Kapitalisten, die Mächtigen sind nicht dumm. Viele von ihnen sind sich zum Beispiel der ökologischen Gefahren durchaus bewusst. Sie versuchen, sie zu berücksichtigen, sie in ihre wirtschaftliche Planung und Projektion einzubeziehen, aber unter dem Druck des Wettbewerbs sind sie gezwungen, so zu handeln, dass die Gesamtbedrohung bestehen bleibt.
Manche sagen, dass Wissenschaft und Technik eine unwiderstehliche Eigenlogik entwickelt haben und dass die unkontrollierte Entwicklung von Wissenschaft und Technik die Menschheit an den Rand der Ausrottung bringt, aber das ist nicht die richtige Sichtweise. Man könnte dies in Anlehnung an die marxistische Philosophie als verdinglichtes Denken bezeichnen. Wissenschaft und Technik werden als Kräfte dargestellt, die von den Menschen, die sie kontrollieren, getrennt sind. Doch das ist falsch.
„Arbeiterdemokratie“
Wissenschaft und Technik haben keine Macht unabhängig von den gesellschaftlichen Gruppen, die sie erfunden haben, sie anwenden und sie nach ihren Vorstellungen zurechtbiegen. Das Schlüsselproblem besteht darin, Wissenschaft und Technik einer bewussten gesellschaftlichen Kontrolle im demokratisch festgelegten Interesse der großen Mehrheit der Menschen zu unterwerfen. Sie von der Unterwerfung unter Sonderinteressen zu befreien, die sie ohne Rücksicht auf die langfristigen Interessen der Menschheit missbrauchen. Dazu muss die Organisation und Struktur der Gesellschaft selbst einer demokratisch bestimmten, bewussten Kontrolle unterworfen werden.
Worum es im Sozialismus letztlich geht, ist die Eroberung der menschlichen Freiheit für die größtmögliche Zahl von Menschen, ihr Schicksal in allen wichtigen Lebensbereichen selbst zu bestimmen. Dies gilt in erster Linie für alle Lohnabhängigen, die unter dem wirtschaftlichen Zwang stehen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, und die heute eine größere Masse von Menschen darstellen, als sie es in der Vergangenheit je waren. Es gibt heute mehr als 1 Milliarde Lohnarbeitende.
Diejenigen, die für eine Minderheitenherrschaft über diese Freiheit plädieren − die Freiheit dieser Lohnabhängigen, auf demokratische Weise zu entscheiden, welche Prioritäten sie in der Produktion setzen und wie sie produzieren und verteilen −, und diejenigen, die behaupten, dass diese Freiheit der Herrschaft der Marktgesetze, der Herrschaft der Reichen oder der Herrschaft der Experten, der Herrschaft der Kirchen, des Staates oder der Partei untergeordnet werden sollte, gehen in arroganter Weise von der Vollkommenheit ihres Wissens und ihrer Weisheit aus und unterschätzen die Fähigkeit der Massen, ihnen gleichzukommen oder sie zu überholen. Wir lehnen diese Ansprüche als empirisch unbegründet und moralisch abstoßend ab, da sie zu immer unmenschlicheren Konsequenzen führen.
Wir teilen die Warnung von Marx, dass die Erzieher ihrerseits erzogen werden müssen. Das kann nur durch die demokratisch organisierte Selbsttätigkeit der Massen erreicht werden. Der Sozialismus ist eine Gesellschaftsordnung, in der diese Massen frei über ihr eigenes Schicksal entscheiden.
Um die Welt so zu sehen, wie sie heute ist, müssen wir sie auf eine andere Art und Weise betrachten als das, was man gewöhnlich in den Zeitungen liest oder im Fernsehen sieht. Die Menschen beginnen sich zu wehren.
In Uruguay hat das Volk gerade in einem Referendum mit 74 % der Stimmen die Privatisierung der Telefongesellschaft abgelehnt. Die britischen Bergarbeiter und vor allem die Werktätigen Italiens haben auf die „Sparpolitik“ reagiert, die die dortigen Regierungen ihnen in großem Stil aufzwingen wollten. Beide Gruppen haben gegen diese „Sparpolitik“ gestreikt. In Deutschland haben wir eine radikale Reaktion der Jugend gegen die zunehmende Fremdenfeindlichkeit, den Rassismus und den Neofaschismus erlebt, und das ist sehr ermutigend.
Das ist etwas völlig anderes als das, was Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre geschah. Damals eroberten die Nazis die Gymnasien, die Universitäten − die Jugend −, lange bevor sie die politische Macht eroberten. Heute wendet sich die Masse der Jugendlichen gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Neofaschismus, während die politischen Parteien nach rechts rücken.
Das erfreulichste Beispiel ist Brasilien, wo sich die arbeitende Klasse gegen eine korrupte reaktionäre Regierung zur Wehr setzt. Ich bin eher pessimistisch, ich glaube nicht, dass sie gewinnen werden, aber eine Herausforderung der bürgerlichen Macht in diesem siebtgrößten Land der Welt, in dem es heute mehr in der Industrie Arbeitende gibt als 1918 in Deutschland, ist zumindest möglich geworden.
Es gibt jedoch auch eine nüchterne Seite des Weltbildes, nämlich die, dass viele dieser Bewegungen in der Regel auf ein einziges Thema ausgerichtet und aufgrund des Fehlens der Vorstellung einer alternativen Gesellschaftsordnung unstetig sind.
Sozialismus
Über dieser ganzen Weltentwicklung schwebt das, was wir in meiner Bewegung die weltweite Krise der Glaubwürdigkeit des Sozialismus nennen. Die arbeitenden Klassen haben keinerlei Vertrauen in den Stalinismus, Poststalinismus, Maoismus, Eurokommunismus oder die Sozialdemokratie.
Unter diesen Umständen ist keine der beiden gesellschaftlichen Grundklassen, Kapital und Arbeit, kurz- oder mittelfristig in der Lage, ihre historische Lösung der Weltkrise durch- zusetzen. Die Kapitalisten können es aus objektiven Gründen nicht, weil die arbeitenden Klassen viel zu stark sind. Sie sind viel stärker, als sie es in den 1930er Jahren waren. Aber sie können diese Weltkrise auch nicht lösen, weil sie keinen Glauben an eine andere Gesellschaftsordnung haben.
Wir stehen also vor einer langwierigen Krise, deren Ausgang zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehbar ist. Wir müssen für einen Ausgang zugunsten der Klasse der Arbeitenden, zugunsten des Sozialismus, zugunsten des physischen Überlebens der Menschheit kämpfen. Denn das ist heute die wirkliche Wahl. Nicht Sozialismus oder Barbarei, sondern Sozialismus oder die physische Auslöschung der menschlichen Gattung.
Ich sehe die Hauptaufgabe von uns Sozialistinnen und Sozialisten in dreierlei Hinsicht.
In erster Linie in der bedingungslosen Verteidigung aller Forderungen der Massen überall auf der Welt. Aller Forderungen, die ihren wirklichen − von ihnen selbst so gesehenen − Bedürfnissen entsprechen, ohne dass diese Unterstützung irgendwelchen politischen Prioritäten oder einem bestimmten Macht- plan unterzuordnen ist. Wir müssen zurückgehen auf das Beispiel dessen, was die Arbeiterbewegung in ihren Anfängen und während der Periode ihres größten Wachstums vom Ende der 1880er Jahre bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs getan hat.
Damals hatten die Sozialistinnen und Sozialisten zwei Hauptziele: den Achtstundentag und das allgemeine Wahlrecht. Sie gingen nicht von der Frage aus: Wie werden wir das verwirklichen, in welcher Form der Macht, in welcher Form der Regierung? Nein, sie sagten, das sind objektive Bedürfnisse der menschlichen Emanzipation, und wir werden mit allen möglichen und notwendigen Mitteln dafür kämpfen, und wir werden sehen, was dabei herauskommt.
In einigen Ländern wurde der Achtstundentag durch Generalstreiks durchgesetzt. In anderen Ländern wurde er durch Regierungen durchgesetzt, die man als Arbeiterregierungen bezeichnen könnte. In wieder anderen wurde er von der Bourgeoisie als Zugeständnis an eine mächtige Arbeiterbewegung gewährt, um sie an einer Revolution zu hindern. Aber das war weder in dem noch in dem anderen Fall einfach übertragbar. Die wirkliche Tatsache war, dass der Achtstundentag, wie Marx und Engels betonten, im objektiven Interesse der Arbeiterklasse lag, und das ist der Grund, warum man den Kampf für solche Forderungen nicht einem vorher festgelegten Machtsche- ma unterordnen darf.
Ich habe die Genossinnen und Genossen oft an die berühmte Formel des großen Taktikers Napoleon Bonaparte erinnert, den Lenin sehr zustimmend zitiert hat: „Erst den Kampf beginnen, dann werden wir sehen.“ Das Wichtigste ist, den Kampf zu beginnen; was danach kommt, hängt vom Kräfteverhältnis ab, aber der Kampf selbst verändert das Kräfteverhältnis.
Die zweite Aufgabe der sozialistischen und kommunistischen Aktiven heute ist eine grundlegende sozialistische Bildung und Propaganda. Die Menschheit kann nicht gerettet wer- den, ohne diese gegenwärtige Gesellschaft durch eine grundlegend andere Gesellschaft zu ersetzen. Man kann sie nennen, wie man will, das Etikett macht keinen Unterschied. Ihr Inhalt aber muss spezifiziert werden, der Inhalt eines Sozialismus, wie er von den Massen akzeptiert werden wird. Nach den katastrophalen Erfahrungen mit der Sozialdemokratie, dem Stalinismus und dem Poststalinismus kann das Bild des Sozialismus nur eines der radikalen Emanzipation sein, mit einer Dimension des radikalen Feminismus, der radikalen Verteidigung der Umwelt, des radikalen Antikriegsbewusstseins, des politischen Pluralismus und der totalen Identifikation mit den Menschenrechten ohne Ausnahme. Der Sozialismus wird nur dann akzeptiert werden, wenn er ausnahmslos als radikal emanzipatorisch im Weltmaßstab betrachtet wird.
Die dritte Voraussetzung für die Lösung der schrecklichen Glaubwürdigkeitskrise des Sozialismus ist die Wiedervereinigung von Sozialismus und Freiheit. Die Bourgeoisie hat einen schrecklichen strategischen Fehler begangen, als sie die Menschenrechtsfrage gegen die sozialistischen Bewegungen in der ganzen Welt aufbrachte. Das wird zu einem Bumerang werden, der sie immer wieder trifft. Aber damit das passiert, muss die Wiedervereinigung von Sozialismus und menschlicher Freiheit vollständig sein.
Mitte der 1920er Jahre enthielt das traditionelle Lied der italienischen Arbeiterbewegung, Bandiera Rossa, diese wunderbaren Worte: „Es lebe der Kommunismus und die Freiheit!“
Eines der schwersten Verbrechen des Stalinismus, des Poststalinismus und der Sozialdemokratie bestand darin, die historische Trennung zwischen diesen beiden Werten herbeizuführen. Damit müssen wir uns auseinandersetzen.
In den Vereinigten Staaten wurden Mitte der 1920er Jahre zwei Anarchisten und Antikommunisten − sie hatten absolut keine Sympathien für den Kommunismus − namens Sacco und Vanzetti von der reaktionären bürgerlichen Regierung zum Tode verurteilt. Ihre Sache wurde von der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten und von der Kommunistischen Internationale aufgegriffen. Die Tatsache, dass sie Anarchisten/Antikommunisten waren, hat keine Bedeutung gehabt. Ich sage mit Stolz, dass unser Genosse James P. Cannon eine bedeutende Rolle bei der Organisation dieser weltweiten Kampagne für diese beiden Anarchisten gespielt hat. Das ist die Tradition, an die wir uneingeschränkt anknüpfen müssen.
Wer auch immer, unter welchem Vorwand und in welchem Land auch immer, Verbrechen gegen die Menschenrechte begeht, sollte von den Sozialisten/Kommunisten dieser Welt verurteilt werden. Das ist die Voraussetzung, um das Vertrauen der Massen in unsere Bewegung wiederherzustellen. Sobald dieses Vertrauen wiederhergestellt ist, erhalten wir eine moralische Macht, einen moralischen Kredit, eine moralische Stärke, die zehnmal mehr Schlagkraft hat als alle Waffen, die die Kapitalisten kontrollieren.
In Verteidigung des Marxismus
Ich möchte meinen Freundinnen und Freunden der Marxistischen Schule sagen, dass sie absolut Recht haben, für den Marxismus einzutreten und den antimarxistischen Drücken, die überall um uns herum herrschen, nicht im Geringsten nachzugeben. Manche sind offener, manche diffuser, aber sie sind alle um uns herum.
Der Marxismus ist das Beste, was dem sozialen Denken und Handeln in den letzten 150 Jahren widerfahren ist. Diejenigen, die das leugnen, diejenigen, die den Marxismus für die stalinistische Konterrevolution und für die sozialdemokratische Unterstützung von Kolonialkriegen verantwortlich machen, sind entweder ignorant oder bewusste Lügner. Der Marxismus hat der Menschheit zwei grundlegende Errungenschaften geschenkt, die es zu verteidigen gilt, aber mit der Gewissheit, dem Selbstvertrauen, eine gute Sache zu verteidigen.
Der Marxismus ist die Wissenschaft von der Gesellschaft. Er ermöglicht, auf der Grundlage einer enormen Fülle empirischer Informationen das im Zusammenhang zu verstehen, was in den letzten 200 Jahren, wenn nicht schon länger, vor sich gegangen ist. Es ist keine ernstzunehmende oder auch nur teilweise gleichwertige sozialwissenschaftliche Alternative zum Marxismus bekannt.
Wir machen keine Vorhersagen über die Zukunft. Die einzige wissenschaftliche Form des Marxismus ist der offene Marxismus. Ein Marxismus, der, wie Marx selbst sagte, den konstruktiven Zweifel integriert. Alles bleibt offen für eine Überprüfung, aber nur auf der Grundlage von Fakten. Wer dies in unverantwortlicher Weise tut, ohne die Fakten zu berücksichtigen, wer dieses gewaltige Werkzeug zum Verständnis der Weltrealität wegwirft und dafür nur Skepsis, Irrationalität, Mystifizierung oder Mythologie in Kauf nimmt, dient keinem positiven Zweck.
So wichtig der Marxismus als Wissenschaft ist, so wichtig ist seine zweite grundlegende Komponente, die moralische Komponente. Marx selbst hat dies auf sehr radikale Weise formuliert. Von seiner Jugend bis zum Ende seines Lebens wich er nicht eine Minute von der Definition dessen ab, was er den kategorischen Imperativ nannte.
Das heißt, gegen jeden Zustand zu kämpfen, in dem Menschen verachtet, entfremdet, ausgebeutet, unterdrückt werden oder ihnen die grundlegende Menschenwürde verweigert wird. Was auch immer die Vorwände für die Rechtfertigung solcher Verweigerungen sein mögen, wir müssen uns ihnen bedingungslos widersetzen. Versteht, dass wir nicht glücklicher sein können, als wenn wir unser Leben dieser Verteidigung der Menschenrechte überall auf der Welt widmen − der Verteidigung der Ausgebeuteten, der Unterdrückten, der Verachteten.
Es gibt keinen besseren Weg, ein guter Mensch in dieser Welt zu sein, als sein Leben dieser großen Sache zu widmen. Deshalb liegt die Zukunft beim Marxismus.