Sozia­lis­mus oder Neoliberalismus?*

 

Ernest Man­del

 

E. Mandel bei niederländischer Tagung zu Antikrisentheorien, 29. März 1982. (Foto: Gemeinfrei.)

E. Man­del bei nie­der­län­di­scher Tagung zu Anti­kri­sen­theo­rien, 29. März 1982. (Foto: Gemeinfrei.)

Seit Mit­te der 1970er Jah­re gibt es eine welt­wei­te Offen­si­ve des Kapi­tals gegen die Arbeit und die werk­tä­ti­gen Mas­sen in der „Drit­ten Welt“. Die­se Offen­si­ve ist Aus­druck einer dras­ti­schen Ver­schlech­te­rung des Kräf­te­ver­hält­nis­ses auf Kos­ten der Arbei­ten­den. Sie hat objek­ti­ve und sub­jek­ti­ve Wurzeln.

Die objek­ti­ven Wur­zeln sind im Wesent­li­chen der star­ke Anstieg der Arbeits­lo­sig­keit in den impe­ria­lis­ti­schen Län­dern von 10 Mil­lio­nen auf min­des­tens 50 Mil­lio­nen, wenn nicht mehr. Die offi­zi­el­len Sta­tis­ti­ken sind alle Regie­rungs­sta­tis­ti­ken, und sie sind alle gefälscht. In den Län­dern der „Drit­ten Welt“ gibt es min­des­tens 500 Mil­lio­nen Arbeits­lo­se. Zum ers­ten Mal seit dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs steigt die Arbeits­lo­sig­keit auch in den büro­kra­ti­sier­ten post­ka­pi­ta­lis­ti­schen Gesellschaften.

Die sub­jek­ti­ven Ursa­chen lie­gen im Wesent­li­chen in dem völ­li­gen Ver­sa­gen der orga­ni­sier­ten Arbei­ter- und Mas­sen­be­we­gun­gen, der kapi­ta­lis­ti­schen Offen­si­ve Wider­stand zu leis­ten. In vie­len Län­dern haben die­se Orga­ni­sa­tio­nen sogar eine Vor­rei­ter­rol­le gespielt: Frank­reich, Ita­li­en, Spa­ni­en und Vene­zue­la, um nur eini­ge zu nen­nen. Dies hat zwei­fel­los den Wider­stand gegen die kapi­ta­lis­ti­sche Offen­si­ve erschwert.

Den­noch soll­te man die kon­kre­ten Aus­wir­kun­gen der pseu­do­li­be­ra­len − in Wirk­lich­keit neo­kon­ser­va­ti­ven − Wirt­schafts­po­li­tik auf die welt­wei­ten Ent­wick­lun­gen nicht unter­schät- zen. Die­se Poli­tik, die durch den Inter­na­tio­na­len Wäh­rungs­fonds und die Welt­bank fest­ge­legt und durch die Regie­run­gen von That­cher und Rea­gan und ihre zahl­rei­chen Nach­ah­mer in der „Drit­ten Welt“ sym­bo­li­siert wird, war eine Kata­stro­phe sondergleichen.

Unter dem Vor­wand, Wäh­rungs­sta­bi­li­tät, Infla­ti­ons­be­kämp­fung und aus­ge­gli­che­nen Haus­hal­ten Prio­ri­tät ein­zu­räu­men, wur­den die Sozi­al­aus­ga­ben und die Aus­ga­ben für die Infra­struk­tur rück­sichts­los gekürzt. Dies hat zu einer welt­wei­ten Zunah­me der sozia­len Ungleich­heit, der Armut, der Krank­hei­ten und der Bedro­hung der Umwelt geführt. Aus makro­öko­no­mi­scher Sicht ist dies zuneh­mend kon­tra­pro­duk­tiv und irra­tio­nal. Aus makro­so­zia­ler Sicht ist dies unhalt­bar und abscheu­lich. Die­se Poli­tik hat zuneh­mend unmensch­li­che­re Fol­gen, die das Über­le­ben der Mensch­heit bedrohen.

Ich möch­te auf den grund­le­gen­den Zynis­mus der neo­kon­ser­va­ti­ven ideo­lo­gi­schen Offen­si­ve hin­wei­sen, die mit der kon­ser­va­ti­ven Wirt­schafts­po­li­tik ein­her­geht. Die Neo­kon­ser­va­ti­ven sagen, dass sie die Staats­aus­ga­ben dras­tisch sen­ken wol­len. In Wirk­lich­keit waren die Staats­aus­ga­ben noch nie so hoch wie in den 1980er und frü­hen 1990er Jah­ren unter den Neo­kon­ser­va­ti­ven. Was wirk­lich geschah, war eine Ver­la­ge­rung von den Sozi­al- und Infra­struk­tur­aus­ga­ben zu den Mili­tär­aus­ga­ben, die für die­sen Zeit­raum auf 3 Bil­lio­nen Dol­lar geschätzt wer­den kön­nen, und zu den Sub­ven­tio­nen für Unter­neh­men. Die Ret­tung bank­rot­ter und nahe­zu bank­rot­ter Finanz­in­sti­tu­te wie der Spar- und Dar­le­hens­kas­sen in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten sowie die enor­men Zins­zah­lun­gen für die steil anstei­gen­den Schul­den gehö­ren in die­se Kategorie.

Die Neo­kon­ser­va­ti­ven geben vor, für die uni­ver­sel­len Men­schen­rech­te ein­zu­tre­ten, aber in Wirk­lich­keit wer­den von den neo­kon­ser­va­ti­ven Regie­run­gen ange­sichts der unüber­seh­ba­ren Mas­sen­re­ak­tio­nen gegen die­se unso­zia­le Poli­tik immer mehr demo­kra­ti­sche Frei­hei­ten aus­ge­höhlt und ange­grif­fen: Gewerk­schafts­frei­heit, das Recht auf Abtrei­bung, Pres­se­frei­heit, Rei­se­frei­heit. Sie schaf­fen das ent­spre­chen­de Kli­ma, in dem rechts­extre­me Ten­den­zen − Ras­sis­mus, Frem­den­feind­lich­keit, Neo­fa­schis­mus − ent­ste­hen können.

Armut in der „Drit­ten Welt“
Die welt­wei­te Zunah­me der Armut ist kata­stro­phal. In der „Drit­ten Welt“ ist sie zu einer his­to­ri­schen Kata­stro­phe gewor­den. Nach offi­zi­el­len Sta­tis­ti­ken der Ver­ein­ten Natio­nen haben mehr als 60 Län­der mit ins­ge­samt mehr als 800 Mil­lio­nen Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­nern zwi­schen 1980 und 1990 einen abso­lu­ten Rück­gang des Pro-Kopf-Inlands­pro­dukts erlit­ten. In den ärms­ten die­ser Län­der liegt die­ser Rück­gang in der Grö­ßen­ord­nung von 30 bis 50 %. Für die ärms­ten Bevöl­ke­rungs­schich­ten die­ser Län­der schwankt die Zahl um 50 %. Das Pro-Kopf-Inlands­pro­dukt in Latein­ame­ri­ka lag 1950 bei 45 % des­je­ni­gen der impe­ria­lis­ti­schen Län­der. Im Jahr 1988 sank es auf 29,7 %.

Jahr­zehn­te­lan­ge beschei­de­ne Stei­ge­run­gen des öffent­li­chen Wohl­stands wur­den inner­halb weni­ger Jah­re zunich­te gemacht. Was dies kon­kret bedeu­tet, lässt sich am Bei­spiel Perus ver­an­schau­li­chen. Nach Anga­ben der New York Times sind mehr als 60 % der Bevöl­ke­rung Perus unter­ernährt, 79 % leben unter­halb der Armuts­gren­ze, die recht will­kür­lich auf 40 Dol­lar pro Monat fest­ge­legt wird. Selbst Beam­te mit Hoch­schul­aus­bil­dung ver­die­nen nur 85 Dol­lar im Monat. Das ist nicht genug, um einen Monat lang die Park­ge­büh­ren für ein Auto in die­sem Land zu bezahlen.

Berück­sich­tigt man die sozia­le Dif­fe­ren­zie­rung inner­halb der Län­der der „Drit­ten Welt“, ist die Situa­ti­on noch kata­stro­pha­ler. Die ärms­ten Ein­woh­ner des ärms­ten Lan­des haben heu­te eine täg­li­che Nah­rungs­auf­nah­me, die der eines Nazi-Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers in den 1940er Jah­ren ent­spricht. In einem Bericht der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on der Ver­ein­ten Natio­nen für eine Kon­fe­renz im Dezem­ber 1992, wird geschätzt, dass eine hal­be Mil­li­ar­de Men­schen an chro­ni­schem Hun­ger lei­det, zusätz­lich zu meh­re­ren hun­dert Mil­lio­nen Men­schen, die an sai­so­na­ler Unter­ernäh­rung lei­den. Nahe­zu 800 Mil­lio­nen Men­schen in der „Drit­ten Welt“ lei­den an Hun­ger. Rech­net man zu die­ser Zahl noch die Hun­gern­den in den post­ka- pita­lis­ti­schen und impe­ria­lis­ti­schen Län­dern hin­zu, kommt man auf fast eine Mil­li­ar­de Men­schen, die heu­te Hun­ger lei­den. Und das, obwohl ins­ge­samt eine Über­pro­duk­ti­on von Nah­rungs­mit­teln besteht.

Im Nor­den Bra­si­li­ens hat sich eine neue Bevöl­ke­rungs­grup­pe von Pyg­mä­en her­aus­ge­bil­det, deren Kör­per­grö­ße etwa 35 Zen­ti­me­ter klei­ner ist als im bra­si­lia­ni­schen Durch­schnitt. Die herr­schen­de Bour­geoi­sie und ihre Ideo­lo­gen bezeich­nen die­se Men­schen als „Rat­ten­men­schen“. Die­se Cha­rak­te­ri­sie­rung ist völ­lig ent­mensch­li­chend, erin­nert an die Nazis und hat sehr unheil­vol­le Impli­ka­tio­nen. Ihr wisst, was man mit Rat­ten macht.

Wach­sen­de Ungleichheit
Die kata­stro­pha­len Aus­wir­kun­gen der neo­kon­ser­va­ti­ven Wirt­schafts­po­li­tik beschrän­ken sich kei­nes­wegs auf die Län­der der „Drit­ten Welt“ oder auf die Lebens­be­din­gun­gen der Mas­se der Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner der post­ka­pi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten. Sie begin­nen sich lang­sam, aber sicher auch auf die impe­ria­lis­ti­schen Län­der aus­zu­deh­nen. In die­sen Län­dern leben, je nach Quel­le, zwi­schen 55 und 70 Mil­lio­nen Men­schen unter­halb der Armuts­gren­ze. Es ent­wi­ckelt sich eine dua­le Gesell­schaft, in der immer mehr sozia­le Grup­pen weni­ger oder gar nicht durch das Netz der sozia­len Sicher­heit geschützt sind: Arbeits­lo­se, Gele­gen­heits­ar­bei­ter, Men­schen, die von Sozi­al­hil­fe leben, Müt­ter, die vie­le Kin­der allein ver­sor­gen müs­sen, demo­ra­li­sier­te Klein­kri­mi­nel­le − das sind eini­ge der Bestand­tei­le die­ser Unterschicht.

Hier nur ein Bei­spiel, das sehr auf­schluss­reich, sehr trau­rig und sehr empö­rend ist. Im Her­zen des his­to­risch revo­lu­tio­nä­ren Paris, wo fünf gro­ße Revo­lu­tio­nen ihren Anfang genom­men haben, ste­hen jeden Tag Tau­sen­de von Migran­ten, Arbei­tern und Gele­gen­heits­ar­bei­tern, her­um und war­ten auf eine Anstel­lung. Manch­mal wer­den sie ein­ge­stellt, manch­mal nicht. Sie sind ohne jeg­li­chen sozia­len Schutz, ohne Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung. Sie kon­kur­rie­ren unter­ein­an­der, um für einen Hun­ger­lohn zu arbei­ten, denn ein Hun­ger­lohn ist immer noch höher als das, was sie in ihren Hei­mat­län­dern bekom­men können.

Die Situa­ti­on in den Ghet­tos der Ver­ei­nig­ten Staa­ten ist typisch für die­sen Trend. Die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit in den Ghet­tos erreicht 40 %, und die meis­ten die­ser Jugend­li­chen haben kei­ner­lei Hoff­nung, in Zukunft einen Arbeits­platz zu fin­den. Das­sel­be Phä­no­men hat sich in begrenz­te­rem Maße auch in meh- reren süd­eu­ro­päi­schen Län­dern und in Groß­bri­tan­ni­en aus­ge­brei­tet. Die Pri­va­ti­sie­rung ver­schärft die­se Tendenzen.

Wäh­rend die Real­löh­ne in den USA zurück­ge­gan­gen sind, ist die Zahl der Men­schen mit einem sta­bi­len Brut­to­jah­res­ein­kom­men von einer Mil­li­on Dol­lar um das 60fache gestie­gen. Die Zahl der Men­schen, die zwi­schen 60.000 und 1 Mil­li­on Dol­lar ver­die­nen, ist von 78.000 auf 2 Mil­lio­nen gestie­gen, aber es gibt buch­stäb­lich kei­nen ein­zi­gen Arbei­ter unter die­sen neu­en Reichen.

E. Mandel bei einem Kongress in Tilburg, Niederlande, 1970. (Foto: Gemeinfrei.)

E. Man­del bei einem Kon­gress in Til­burg, Nie­der­lan­de, 1970. (Foto: Gemeinfrei.)

Die Rei­chen wer­den reicher
Die per­ver­sen Aus­wir­kun­gen der neo­kon­ser­va­ti­ven Poli­tik auf die Welt­wirt­schaft sind eben­falls offen­sicht­lich. Sowohl die wach­sen­de Armut in der „Drit­ten Welt“ als auch die dem­entspre­chen­de Ver­ar­mung von Tei­len der Bevöl­ke­rung in den impe­ria­lis­ti­schen Län­dern sind eine der wich­tigs­ten Brem­sen für jede bedeu­ten­de Expan­si­on der Weltwirtschaft.

Die Ver­schul­dung der „Drit­ten Welt“ hat zu die­ser per­ver­sen und skan­da­lö­sen Ent­wick­lung eines Net­to­ka­pi­tal­flus­ses vom Süden in den Nor­den geführt, wobei die ärms­ten Tei­le der armen Län­der den reichs­ten Teil der rei­chen Län­der sub­ven­tio­nie­ren. Man könn­te zynisch sagen, dass das der Sinn des Kapi­ta­lis­mus ist. Den­noch ist es zumin­dest in die­ser Dimen­si­on und in die­sem Aus­maß ein neu­es Phä­no­men im 20. Jahrhundert.

Das Glei­che gilt für die ungüns­ti­ge Ent­wick­lung der rea­len Aus­tausch­ver­hält­nis­se („Terms of Trade“) und die Rol­le der Zwi­schen­händ­ler im Welt­preis­ge­fü­ge. Es ist kaum bekannt, dass das zweit­größ­te Export­kon­tin­gent der „Drit­ten Welt“ nach Erd­öl der Kaf­fee ist, den wir alle trin­ken. Für west­li­che Ver­brau­che­rin­nen und Ver­brau­cher ist Kaf­fee zur­zeit rela­tiv bil­lig. Ein Pfund Kaf­fee kos­tet in den west­li­chen Län­dern etwa 5 Dol­lar. Die Arbei­ter, die die­sen Kaf­fee pro­du­zie­ren, erhal­ten 30 bis 50 Cent pro Tag. Der Rest wird von Zwi­schen­händ­lern eingenommen.

Die größ­te Gefahr einer Anpas­sung an die Ver­hält­nis­se in der „Drit­ten Welt“ besteht für den Süden, Osten und Wes­ten in der Aus­brei­tung typi­scher armuts­be­ding­ter Epi­de­mien wie Cho­le­ra und Tuber­ku­lo­se, die als aus­ge­rot­tet gal­ten. Die unheil­vol­le Bedro­hung durch AIDS ist eben­falls armuts­be­dingt. Der ehe­ma­li­ge Direk­tor des AIDS-Bekämp­fungs­pro­gramms der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on sagt vor­aus, dass am Ende die­ses Jahr­hun­derts 100 Mil­lio­nen Men­schen HIV-infi­ziert sein wer­den, von denen 25 % erkran­ken und ster­ben wer­den; 85 % die­ser Todes­fäl­le wer­den in der „Drit­ten Welt“ auftreten.

Dies ist nicht auf eine kul­tu­rel­le oder eth­ni­sche Beson­der­heit zurück­zu­füh­ren, son­dern auf Defi­zi­te in den Berei­chen Bil­dung, Prä­ven­ti­on, Gesund­heits­ver­sor­gung und Hygie­ne. Gleich­zei­tig wur­den seit Beginn der Epi­de­mie 7 Mil­li­ar­den Dol­lar für den Kampf gegen AIDS aus­ge­ge­ben. Nur 3 % die­ser Sum­me wur­den in der „Drit­ten Welt“ aus­ge­ge­ben, wo 85 % der HIV-Infi­zier­ten leben. Es ist offen­sicht­lich selbst­mör­de­risch zu glau­ben, selbst für die Kapi­ta­lis­ten­klas­se, dass die Epi­de­mie nicht auch die impe­ria­lis­ti­schen Län­der errei­chen wird.

Unter die­sen Umstän­den ist der Auf­ruf des Paps­tes völ­lig unver­ant­wort­lich, den Kampf gegen AIDS auf Selbst­be­schrän­kung und Keusch­heit des Ein­zel­nen zu beschrän­ken und sich gegen die Ver­wen­dung von Kon­do­men und der Anti­ba­by­pil­le aus­zu­spre­chen. Die neo­kon­ser­va­ti­ve Poli­tik der Kür­zung von Gesund­heits- und Bil­dungs­bud­gets über­all erscheint eben­falls unver­ant­wort­lich und selbst­mör­de­risch. Die Gesamt­aus­wir­kun­gen sind sowohl wirt­schaft­lich als auch gesell­schaft­lich widerwärtig.

Markt­wirt­schaft“
In allen Uni­ver­si­täts­fa­kul­tä­ten, die sich mit Ent­wick­lungs­po­li­tik befas­sen, gilt es in allen Län­dern der Welt als Bin­sen­weis­heit, dass die pro­duk­tivs­ten Inves­ti­tio­nen die in Bil­dung, Gesund­heits­we­sen und Infra­struk­tur sind. Über­schrei­tet man jedoch den Kor­ri­dor in die Unter­ab­tei­lung der Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten, die sich öffent­li­che Finan­zen nennt, dann hört man plötz­lich, dass ein aus­ge­gli­che­ner Haus­halt wich­ti­ger ist als Inves­ti­tio­nen in Bil­dung, Gesund­heit und Infra­struk­tur und dass es in die­sen Bud­gets rück­sichts­lo­se Kür­zun­gen geben muss, um die Infla­ti­on zu stoppen.

Es muss betont wer­den, dass die pseu­do­li­be­ra­le, neo­kon­ser­va­ti­ve Poli­tik im Rah­men einer kapi­ta­lis­tisch domi­nier­ten Welt­wirt­schaft betrie­ben wird. Aus die­ser grund­le­gen­den Tat­sa­che las­sen sich zwei wich­ti­ge Schluss­fol­ge­run­gen ziehen.

Ers­tens: Vie­les von dem Geze­ter über die angeb­li­che Über­le­gen­heit der soge­nann­ten Markt­wirt­schaft ist rei­ne Augen­wi­sche­rei. Markt­wirt­schaft in rei­ner oder nahe­zu rei­ner Form gibt es nicht und hat es nie gegeben.

Zwei­tens wird jede alter­na­ti­ve Wirt­schafts­po­li­tik, die inner­halb des­sel­ben Rah­mens ange­wandt wird, wie die neo­keyne­sia­ni­sche Poli­tik, die jetzt von einer wach­sen­den Zahl inter­na­tio­na­ler Insti­tu­tio­nen und füh­ren­der Kapi­ta­lis­ten vor­ge­schla­gen wird, nicht zu einer grund­le­gen­den Ände­rung all die­ser schreck­li­chen Rea­li­tä­ten füh­ren. Um nur ein Bei­spiel zu nen­nen: Der enor­me tech­no­lo­gi­sche Rück­stand, den der Impe­ria­lis­mus der „Drit­ten Welt“ auf­er­legt hat, bedeu­tet, dass in die- sem Teil der Erde zwar nur 15 % des gesam­ten glo­ba­len Ener­gie­ver­brauchs statt­fin­det, dort aber fünf- bis sechs­mal mehr Ener­gie pro Dol­lar des Brut­to­in­lands­pro­dukts auf­ge­wen­det wer­den muss als in den reichs­ten Ländern.

Daher stellt sich die Fra­ge, ob wir nicht eine grund­le­gen­de Alter­na­ti­ve sowohl zur pseu­do­li­be­ra­len Poli­tik als auch zum gesam­ten kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tem in all sei­nen Vari­an­ten brau­chen, um zu einer qua­li­ta­tiv bes­se­ren Welt als der jet­zi­gen zu gelan­gen. Mei­ne Ant­wort lau­tet ein­deu­tig Ja. Des­halb brau­chen wir den Sozia­lis­mus, und des­halb bin und blei­be ich Sozialist.

Die Mensch­heit ist mit schreck­li­chen Bedro­hun­gen für ihr phy­si­sches Über­le­ben kon­fron­tiert: ato­ma­re, che­mi­sche und bio­lo­gi­sche Krie­ge, tra­di­tio­nel­le Mas­sen­krie­ge, die durch die Bom­bar­die­rung von Kern­kraft­wer­ken mit kon­ven­tio­nel­len Waf­fen zu Atom­krie­gen wer­den könn­ten, wach­sen­de Risi­ken der Umwelt­zer­stö­rung, die durch den Treib­haus­ef­fekt und das Ozon­loch gekenn­zeich­net sind, die Zer­stö­rung der Tro­pen­wäl­der, die Ver­step­pung gro­ßer Tei­le Afri­kas und Asi­ens und die kumu­la­ti­ven Aus­wir­kun­gen epi­de­mi­scher Katastrophen.

Vie­le Men­schen haben die Fra­ge gestellt: „Ist es nicht schon zu spät? Ist der Jüngs­te Tag nicht unver­meid­lich? Wird die Mensch­heit die nächs­ten 50 Jah­re über­le­ben kön­nen?“ Wir glau­ben, dass die Mensch­heit nicht dem Unter­gang geweiht ist. Das ist kein Wunsch­den­ken oder rei­ne Intui­ti­on. Es ist eine Über­zeu­gung, die auf soli­den wis­sen­schaft­li­chen Daten und der anhal­ten­den Dyna­mik der wis­sen­schaft­li­chen For­schung beruht.

Nur ein Bei­spiel: Es gibt einen kon­kre­ten, seriö­sen Ansatz, um die Wüs­ten­bil­dung in Afri­ka voll­stän­dig rück­gän­gig zu machen; die Wüs­te zu bewäs­sern, um sie wie­der zu einer rei­chen Nah­rungs­mit­tel­re­gi­on zu machen, wie sie es bis vor 1.500 Jah­ren war; ihre Bewoh­ner zu inspi­rie­ren, natur­scho­nen­de land­wirt­schaft­li­che Tech­ni­ken anzu­wen­den, um von kom­mer­zi­el­len Kul­tu­ren auf sol­che umzu­stei­gen, die es ihnen ermög­li­chen, die Afri­ka­ne­rin­nen und Afri­ka­ner auf gesun­de Wei­se zu ernäh­ren. Die Aus­wir­kun­gen einer grü­nen, bewal­de­ten Saha­ra auf das Welt­kli­ma wären wirk­lich verblüffend.

Das Pro­blem, das es in die­sem Fall zu lösen gilt, ist kein tech­ni­sches, natür­li­ches oder kul­tu­rel­les. Es ist ein sozia­les Pro­blem. Damit die­se Lösung ange­wandt wer­den kann, braucht man eine Gesell­schafts­ord­nung, in der nicht Gier und der Wunsch nach Anhäu­fung von per­sön­li­chem Reich­tum ohne Rück­sicht auf die gesamt­ge­sell­schaft­li­chen und wirt­schaft­li­chen Kos­ten sowie kurz­fris­ti­ge Pseu­do-Ratio­na­li­tät als Ersatz für lang­fris­ti­ge Ratio­na­li­tät das sozia­le und wirt­schaft­li­che Ver­hal­ten bestim­men. Wir brau­chen die Macht in den Hän­den der gesell­schaft­li­chen Kräf­te, die ver­hin­dern kön­nen, dass Ein­zel­ne, Klas­sen und gro­ße Klas­sen­frak­tio­nen der Gesell­schaft ihren Wil­len auf­zwin­gen. Die Macht muss in den Hän­den der Werk­tä­ti­gen lie­gen, die bereit sind, Soli­da­ri­tät, Zusam­men­ar­beit und Groß­zü­gig­keit mit demo­kra­ti­schen Mit­teln über kurz­sich­ti­gen Ego­is­mus und Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit sie­gen zu lassen.

Es ist kei­ne Fra­ge des Bewusst­seins. Die Rei­chen, die Kapi­ta­lis­ten, die Mäch­ti­gen sind nicht dumm. Vie­le von ihnen sind sich zum Bei­spiel der öko­lo­gi­schen Gefah­ren durch­aus bewusst. Sie ver­su­chen, sie zu berück­sich­ti­gen, sie in ihre wirt­schaft­li­che Pla­nung und Pro­jek­ti­on ein­zu­be­zie­hen, aber unter dem Druck des Wett­be­werbs sind sie gezwun­gen, so zu han­deln, dass die Gesamt­be­dro­hung bestehen bleibt.

Man­che sagen, dass Wis­sen­schaft und Tech­nik eine unwi­der­steh­li­che Eigen­lo­gik ent­wi­ckelt haben und dass die unkon­trol­lier­te Ent­wick­lung von Wis­sen­schaft und Tech­nik die Mensch­heit an den Rand der Aus­rot­tung bringt, aber das ist nicht die rich­ti­ge Sicht­wei­se. Man könn­te dies in Anleh­nung an die mar­xis­ti­sche Phi­lo­so­phie als ver­ding­lich­tes Den­ken bezeich­nen. Wis­sen­schaft und Tech­nik wer­den als Kräf­te dar­ge­stellt, die von den Men­schen, die sie kon­trol­lie­ren, getrennt sind. Doch das ist falsch.

Arbei­ter­de­mo­kra­tie“
Wis­sen­schaft und Tech­nik haben kei­ne Macht unab­hän­gig von den gesell­schaft­li­chen Grup­pen, die sie erfun­den haben, sie anwen­den und sie nach ihren Vor­stel­lun­gen zurecht­bie­gen. Das Schlüs­sel­pro­blem besteht dar­in, Wis­sen­schaft und Tech­nik einer bewuss­ten gesell­schaft­li­chen Kon­trol­le im demo­kra­tisch fest­ge­leg­ten Inter­es­se der gro­ßen Mehr­heit der Men­schen zu unter­wer­fen. Sie von der Unter­wer­fung unter Son­der­in­ter­es­sen zu befrei­en, die sie ohne Rück­sicht auf die lang­fris­ti­gen Inter­es­sen der Mensch­heit miss­brau­chen. Dazu muss die Orga­ni­sa­ti­on und Struk­tur der Gesell­schaft selbst einer demo­kra­tisch bestimm­ten, bewuss­ten Kon­trol­le unter­wor­fen werden.

Wor­um es im Sozia­lis­mus letzt­lich geht, ist die Erobe­rung der mensch­li­chen Frei­heit für die größt­mög­li­che Zahl von Men­schen, ihr Schick­sal in allen wich­ti­gen Lebens­be­rei­chen selbst zu bestim­men. Dies gilt in ers­ter Linie für alle Lohn­ab­hän­gi­gen, die unter dem wirt­schaft­li­chen Zwang ste­hen, ihre Arbeits­kraft zu ver­kau­fen, und die heu­te eine grö­ße­re Mas­se von Men­schen dar­stel­len, als sie es in der Ver­gan­gen­heit je waren. Es gibt heu­te mehr als 1 Mil­li­ar­de Lohnarbeitende.

Die­je­ni­gen, die für eine Min­der­hei­ten­herr­schaft über die­se Frei­heit plä­die­ren − die Frei­heit die­ser Lohn­ab­hän­gi­gen, auf demo­kra­ti­sche Wei­se zu ent­schei­den, wel­che Prio­ri­tä­ten sie in der Pro­duk­ti­on set­zen und wie sie pro­du­zie­ren und ver­tei­len −, und die­je­ni­gen, die behaup­ten, dass die­se Frei­heit der Herr­schaft der Markt­ge­set­ze, der Herr­schaft der Rei­chen oder der Herr­schaft der Exper­ten, der Herr­schaft der Kir­chen, des Staa­tes oder der Par­tei unter­ge­ord­net wer­den soll­te, gehen in arro­gan­ter Wei­se von der Voll­kom­men­heit ihres Wis­sens und ihrer Weis­heit aus und unter­schät­zen die Fähig­keit der Mas­sen, ihnen gleich­zu­kom­men oder sie zu über­ho­len. Wir leh­nen die­se Ansprü­che als empi­risch unbe­grün­det und mora­lisch absto­ßend ab, da sie zu immer unmensch­li­che­ren Kon­se­quen­zen führen.

Wir tei­len die War­nung von Marx, dass die Erzie­her ihrer­seits erzo­gen wer­den müs­sen. Das kann nur durch die demo­kra­tisch orga­ni­sier­te Selbst­tä­tig­keit der Mas­sen erreicht wer­den. Der Sozia­lis­mus ist eine Gesell­schafts­ord­nung, in der die­se Mas­sen frei über ihr eige­nes Schick­sal entscheiden.

Um die Welt so zu sehen, wie sie heu­te ist, müs­sen wir sie auf eine ande­re Art und Wei­se betrach­ten als das, was man gewöhn­lich in den Zei­tun­gen liest oder im Fern­se­hen sieht. Die Men­schen begin­nen sich zu wehren.

In Uru­gu­ay hat das Volk gera­de in einem Refe­ren­dum mit 74 % der Stim­men die Pri­va­ti­sie­rung der Tele­fon­ge­sell­schaft abge­lehnt. Die bri­ti­schen Berg­ar­bei­ter und vor allem die Werk­tä­ti­gen Ita­li­ens haben auf die „Spar­po­li­tik“ reagiert, die die dor­ti­gen Regie­run­gen ihnen in gro­ßem Stil auf­zwin­gen woll­ten. Bei­de Grup­pen haben gegen die­se „Spar­po­li­tik“ gestreikt. In Deutsch­land haben wir eine radi­ka­le Reak­ti­on der Jugend gegen die zuneh­men­de Frem­den­feind­lich­keit, den Ras­sis­mus und den Neo­fa­schis­mus erlebt, und das ist sehr ermutigend.

Das ist etwas völ­lig ande­res als das, was Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jah­re geschah. Damals erober­ten die Nazis die Gym­na­si­en, die Uni­ver­si­tä­ten − die Jugend −, lan­ge bevor sie die poli­ti­sche Macht erober­ten. Heu­te wen­det sich die Mas­se der Jugend­li­chen gegen Frem­den­feind­lich­keit, Ras­sis­mus und Neo­fa­schis­mus, wäh­rend die poli­ti­schen Par­tei­en nach rechts rücken.

Das erfreu­lichs­te Bei­spiel ist Bra­si­li­en, wo sich die arbei­ten­de Klas­se gegen eine kor­rup­te reak­tio­nä­re Regie­rung zur Wehr setzt. Ich bin eher pes­si­mis­tisch, ich glau­be nicht, dass sie gewin­nen wer­den, aber eine Her­aus­for­de­rung der bür­ger­li­chen Macht in die­sem siebt­größ­ten Land der Welt, in dem es heu­te mehr in der Indus­trie Arbei­ten­de gibt als 1918 in Deutsch­land, ist zumin­dest mög­lich geworden.

Es gibt jedoch auch eine nüch­ter­ne Sei­te des Welt­bil­des, näm­lich die, dass vie­le die­ser Bewe­gun­gen in der Regel auf ein ein­zi­ges The­ma aus­ge­rich­tet und auf­grund des Feh­lens der Vor­stel­lung einer alter­na­ti­ven Gesell­schafts­ord­nung unste­tig sind.

Sozia­lis­mus
Über die­ser gan­zen Welt­ent­wick­lung schwebt das, was wir in mei­ner Bewe­gung die welt­wei­te Kri­se der Glaub­wür­dig­keit des Sozia­lis­mus nen­nen. Die arbei­ten­den Klas­sen haben kei­ner­lei Ver­trau­en in den Sta­li­nis­mus, Post­sta­li­nis­mus, Mao­is­mus, Euro­kom­mu­nis­mus oder die Sozialdemokratie.

Unter die­sen Umstän­den ist kei­ne der bei­den gesell­schaft­li­chen Grund­klas­sen, Kapi­tal und Arbeit, kurz- oder mit­tel­fris­tig in der Lage, ihre his­to­ri­sche Lösung der Welt­kri­se durch- zuset­zen. Die Kapi­ta­lis­ten kön­nen es aus objek­ti­ven Grün­den nicht, weil die arbei­ten­den Klas­sen viel zu stark sind. Sie sind viel stär­ker, als sie es in den 1930er Jah­ren waren. Aber sie kön­nen die­se Welt­kri­se auch nicht lösen, weil sie kei­nen Glau­ben an eine ande­re Gesell­schafts­ord­nung haben.

Wir ste­hen also vor einer lang­wie­ri­gen Kri­se, deren Aus­gang zum jet­zi­gen Zeit­punkt noch nicht abseh­bar ist. Wir müs­sen für einen Aus­gang zuguns­ten der Klas­se der Arbei­ten­den, zuguns­ten des Sozia­lis­mus, zuguns­ten des phy­si­schen Über­le­bens der Mensch­heit kämp­fen. Denn das ist heu­te die wirk­li­che Wahl. Nicht Sozia­lis­mus oder Bar­ba­rei, son­dern Sozia­lis­mus oder die phy­si­sche Aus­lö­schung der mensch­li­chen Gattung.

Ich sehe die Haupt­auf­ga­be von uns Sozia­lis­tin­nen und Sozia­lis­ten in drei­er­lei Hinsicht.

In ers­ter Linie in der bedin­gungs­lo­sen Ver­tei­di­gung aller For­de­run­gen der Mas­sen über­all auf der Welt. Aller For­de­run­gen, die ihren wirk­li­chen − von ihnen selbst so gese­he­nen − Bedürf­nis­sen ent­spre­chen, ohne dass die­se Unter­stüt­zung irgend­wel­chen poli­ti­schen Prio­ri­tä­ten oder einem bestimm­ten Macht- plan unter­zu­ord­nen ist. Wir müs­sen zurück­ge­hen auf das Bei­spiel des­sen, was die Arbei­ter­be­we­gung in ihren Anfän­gen und wäh­rend der Peri­ode ihres größ­ten Wachs­tums vom Ende der 1880er Jah­re bis zum Vor­abend des Ers­ten Welt­kriegs getan hat.

Damals hat­ten die Sozia­lis­tin­nen und Sozia­lis­ten zwei Haupt­zie­le: den Acht­stun­den­tag und das all­ge­mei­ne Wahl­recht. Sie gin­gen nicht von der Fra­ge aus: Wie wer­den wir das ver­wirk­li­chen, in wel­cher Form der Macht, in wel­cher Form der Regie­rung? Nein, sie sag­ten, das sind objek­ti­ve Bedürf­nis­se der mensch­li­chen Eman­zi­pa­ti­on, und wir wer­den mit allen mög­li­chen und not­wen­di­gen Mit­teln dafür kämp­fen, und wir wer­den sehen, was dabei herauskommt.

In eini­gen Län­dern wur­de der Acht­stun­den­tag durch Gene­ral­streiks durch­ge­setzt. In ande­ren Län­dern wur­de er durch Regie­run­gen durch­ge­setzt, die man als Arbei­ter­re­gie­run­gen bezeich­nen könn­te. In wie­der ande­ren wur­de er von der Bour­geoi­sie als Zuge­ständ­nis an eine mäch­ti­ge Arbei­ter­be­we­gung gewährt, um sie an einer Revo­lu­ti­on zu hin­dern. Aber das war weder in dem noch in dem ande­ren Fall ein­fach über­trag­bar. Die wirk­li­che Tat­sa­che war, dass der Acht­stun­den­tag, wie Marx und Engels beton­ten, im objek­ti­ven Inter­es­se der Arbei­ter­klas­se lag, und das ist der Grund, war­um man den Kampf für sol­che For­de­run­gen nicht einem vor­her fest­ge­leg­ten Macht­sche- ma unter­ord­nen darf.

Ich habe die Genos­sin­nen und Genos­sen oft an die berühm­te For­mel des gro­ßen Tak­ti­kers Napo­le­on Bona­par­te erin­nert, den Lenin sehr zustim­mend zitiert hat: „Erst den Kampf begin­nen, dann wer­den wir sehen.“ Das Wich­tigs­te ist, den Kampf zu begin­nen; was danach kommt, hängt vom Kräf­te­ver­hält­nis ab, aber der Kampf selbst ver­än­dert das Kräfteverhältnis.

Die zwei­te Auf­ga­be der sozia­lis­ti­schen und kom­mu­nis­ti­schen Akti­ven heu­te ist eine grund­le­gen­de sozia­lis­ti­sche Bil­dung und Pro­pa­gan­da. Die Mensch­heit kann nicht geret­tet wer- den, ohne die­se gegen­wär­ti­ge Gesell­schaft durch eine grund­le­gend ande­re Gesell­schaft zu erset­zen. Man kann sie nen­nen, wie man will, das Eti­kett macht kei­nen Unter­schied. Ihr Inhalt aber muss spe­zi­fi­ziert wer­den, der Inhalt eines Sozia­lis­mus, wie er von den Mas­sen akzep­tiert wer­den wird. Nach den kata­stro­pha­len Erfah­run­gen mit der Sozi­al­de­mo­kra­tie, dem Sta­li­nis­mus und dem Post­sta­li­nis­mus kann das Bild des Sozia­lis­mus nur eines der radi­ka­len Eman­zi­pa­ti­on sein, mit einer Dimen­si­on des radi­ka­len Femi­nis­mus, der radi­ka­len Ver­tei­di­gung der Umwelt, des radi­ka­len Anti­kriegs­be­wusst­seins, des poli­ti­schen Plu­ra­lis­mus und der tota­len Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den Men­schen­rech­ten ohne Aus­nah­me. Der Sozia­lis­mus wird nur dann akzep­tiert wer­den, wenn er aus­nahms­los als radi­kal eman­zi­pa­to­risch im Welt­maß­stab betrach­tet wird.

Die drit­te Vor­aus­set­zung für die Lösung der schreck­li­chen Glaub­wür­dig­keits­kri­se des Sozia­lis­mus ist die Wie­der­ver­ei­ni­gung von Sozia­lis­mus und Frei­heit. Die Bour­geoi­sie hat einen schreck­li­chen stra­te­gi­schen Feh­ler began­gen, als sie die Men­schen­rechts­fra­ge gegen die sozia­lis­ti­schen Bewe­gun­gen in der gan­zen Welt auf­brach­te. Das wird zu einem Bume­rang wer­den, der sie immer wie­der trifft. Aber damit das pas­siert, muss die Wie­der­ver­ei­ni­gung von Sozia­lis­mus und mensch­li­cher Frei­heit voll­stän­dig sein.

Mit­te der 1920er Jah­re ent­hielt das tra­di­tio­nel­le Lied der ita­lie­ni­schen Arbei­ter­be­we­gung, Ban­die­ra Ros­sa, die­se wun­der­ba­ren Wor­te: „Es lebe der Kom­mu­nis­mus und die Freiheit!“

Eines der schwers­ten Ver­bre­chen des Sta­li­nis­mus, des Post­sta­li­nis­mus und der Sozi­al­de­mo­kra­tie bestand dar­in, die his­to­ri­sche Tren­nung zwi­schen die­sen bei­den Wer­ten her­bei­zu­füh­ren. Damit müs­sen wir uns auseinandersetzen.

In den Ver­ei­nig­ten Staa­ten wur­den Mit­te der 1920er Jah­re zwei Anar­chis­ten und Anti­kom­mu­nis­ten − sie hat­ten abso­lut kei­ne Sym­pa­thien für den Kom­mu­nis­mus − namens Sac­co und Van­zet­ti von der reak­tio­nä­ren bür­ger­li­chen Regie­rung zum Tode ver­ur­teilt. Ihre Sache wur­de von der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei der Ver­ei­nig­ten Staa­ten und von der Kom­mu­nis­ti­schen Inter­na­tio­na­le auf­ge­grif­fen. Die Tat­sa­che, dass sie Anarchisten/Antikommunisten waren, hat kei­ne Bedeu­tung gehabt. Ich sage mit Stolz, dass unser Genos­se James P. Can­non eine bedeu­ten­de Rol­le bei der Orga­ni­sa­ti­on die­ser welt­wei­ten Kam­pa­gne für die­se bei­den Anar­chis­ten gespielt hat. Das ist die Tra­di­ti­on, an die wir unein­ge­schränkt anknüp­fen müssen.

Wer auch immer, unter wel­chem Vor­wand und in wel­chem Land auch immer, Ver­bre­chen gegen die Men­schen­rech­te begeht, soll­te von den Sozialisten/Kommunisten die­ser Welt ver­ur­teilt wer­den. Das ist die Vor­aus­set­zung, um das Ver­trau­en der Mas­sen in unse­re Bewe­gung wie­der­her­zu­stel­len. Sobald die­ses Ver­trau­en wie­der­her­ge­stellt ist, erhal­ten wir eine mora­li­sche Macht, einen mora­li­schen Kre­dit, eine mora­li­sche Stär­ke, die zehn­mal mehr Schlag­kraft hat als alle Waf­fen, die die Kapi­ta­lis­ten kontrollieren.

In Ver­tei­di­gung des Marxismus
Ich möch­te mei­nen Freun­din­nen und Freun­den der Mar­xis­ti­schen Schu­le sagen, dass sie abso­lut Recht haben, für den Mar­xis­mus ein­zu­tre­ten und den anti­mar­xis­ti­schen Drü­cken, die über­all um uns her­um herr­schen, nicht im Gerings­ten nach­zu­ge­ben. Man­che sind offe­ner, man­che dif­fu­ser, aber sie sind alle um uns herum.

Der Mar­xis­mus ist das Bes­te, was dem sozia­len Den­ken und Han­deln in den letz­ten 150 Jah­ren wider­fah­ren ist. Die­je­ni­gen, die das leug­nen, die­je­ni­gen, die den Mar­xis­mus für die sta­li­nis­ti­sche Kon­ter­re­vo­lu­ti­on und für die sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Unter­stüt­zung von Kolo­ni­al­krie­gen ver­ant­wort­lich machen, sind ent­we­der igno­rant oder bewuss­te Lüg­ner. Der Mar­xis­mus hat der Mensch­heit zwei grund­le­gen­de Errun­gen­schaf­ten geschenkt, die es zu ver­tei­di­gen gilt, aber mit der Gewiss­heit, dem Selbst­ver­trau­en, eine gute Sache zu verteidigen.

Der Mar­xis­mus ist die Wis­sen­schaft von der Gesell­schaft. Er ermög­licht, auf der Grund­la­ge einer enor­men Fül­le empi­ri­scher Infor­ma­tio­nen das im Zusam­men­hang zu ver­ste­hen, was in den letz­ten 200 Jah­ren, wenn nicht schon län­ger, vor sich gegan­gen ist. Es ist kei­ne ernst­zu­neh­men­de oder auch nur teil­wei­se gleich­wer­ti­ge sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Alter­na­ti­ve zum Mar­xis­mus bekannt.

Wir machen kei­ne Vor­her­sa­gen über die Zukunft. Die ein­zi­ge wis­sen­schaft­li­che Form des Mar­xis­mus ist der offe­ne Mar­xis­mus. Ein Mar­xis­mus, der, wie Marx selbst sag­te, den kon­struk­ti­ven Zwei­fel inte­griert. Alles bleibt offen für eine Über­prü­fung, aber nur auf der Grund­la­ge von Fak­ten. Wer dies in unver­ant­wort­li­cher Wei­se tut, ohne die Fak­ten zu berück­sich­ti­gen, wer die­ses gewal­ti­ge Werk­zeug zum Ver­ständ­nis der Welt­rea­li­tät weg­wirft und dafür nur Skep­sis, Irra­tio­na­li­tät, Mys­ti­fi­zie­rung oder Mytho­lo­gie in Kauf nimmt, dient kei­nem posi­ti­ven Zweck.

So wich­tig der Mar­xis­mus als Wis­sen­schaft ist, so wich­tig ist sei­ne zwei­te grund­le­gen­de Kom­po­nen­te, die mora­li­sche Kom­po­nen­te. Marx selbst hat dies auf sehr radi­ka­le Wei­se for­mu­liert. Von sei­ner Jugend bis zum Ende sei­nes Lebens wich er nicht eine Minu­te von der Defi­ni­ti­on des­sen ab, was er den kate­go­ri­schen Impe­ra­tiv nannte.

Das heißt, gegen jeden Zustand zu kämp­fen, in dem Men­schen ver­ach­tet, ent­frem­det, aus­ge­beu­tet, unter­drückt wer­den oder ihnen die grund­le­gen­de Men­schen­wür­de ver­wei­gert wird. Was auch immer die Vor­wän­de für die Recht­fer­ti­gung sol­cher Ver­wei­ge­run­gen sein mögen, wir müs­sen uns ihnen bedin­gungs­los wider­set­zen. Ver­steht, dass wir nicht glück­li­cher sein kön­nen, als wenn wir unser Leben die­ser Ver­tei­di­gung der Men­schen­rech­te über­all auf der Welt wid­men − der Ver­tei­di­gung der Aus­ge­beu­te­ten, der Unter­drück­ten, der Verachteten.

Es gibt kei­nen bes­se­ren Weg, ein guter Mensch in die­ser Welt zu sein, als sein Leben die­ser gro­ßen Sache zu wid­men. Des­halb liegt die Zukunft beim Marxismus.


Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Okto­ber 2023
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