Austausch über einen sehr lesenswerten Text Ernest Mandels
N. B.
Am Samstag, den 11. November 2023, trafen sich Aktive der ISO Rhein-Neckar und Gäste aus unterschiedlichen betrieblichen und gewerkschaftlichen Zusammenhängen in Mannheim. Gemeinsam wollten wir Ernest Mandels Text „Sozialismus oder Neoliberalismus?“* lesen und diskutieren.
Wieso alte Theorietexte lesen? Diese Frage und weitere kamen gleich zu Beginn unserer Zusammenkunft auf. Gibt es nicht so dringliche Probleme in unserer Arbeits- und Lebenswelt, dass wir uns auf deren Lösung konzentrieren sollten? Ist das Lesen „historischer“ Texte sinnvoll, die in komplizierten Theorien die aktuellen Widersprüche auf einer allgemeineren Ebene erklären wollen? Warum nehmen wir uns in diesen bewegten, ja bedrohlichen Zeiten einen ganzen Nachmittag Zeit, um uns in Gesellschaftstheorien einzufuchsen, statt die herrschenden Verhältnisse zu verändern?
Unsere Antwort: Wir sind davon überzeugt, dass unsere politische Arbeit beides enthalten und verbinden muss – den Aktivismus in konkreten sozialen Auseinandersetzungen einerseits und die politische Bildungsarbeit andererseits. Denn wer gesellschaftliche Prozesse der Ausbeutung und Unterdrückung nicht versteht, wird sie auch nicht verändern können. Wer sie aber versteht und nicht dagegen aktiv wird, wird sie ebenso wenig verändern.
Problemaufriss und Analyse
Nach kurzer Diskussion konnten wir so in die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Text starten. Gelesen haben wir eine leicht gekürzte Fassung einer Mitschrift von Mandels Vortrag auf der New York Marxist School 1993.
Die erste Hälfte des Textes umfasst einen Problemaufriss und eine Problemanalyse zu Armut und wachsender Ungleichheit im neoliberalen Kapitalismus. Anhand mehrerer konkreter Beispiele zeigt Mandel die schreiende Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit dieser Welt auf. Er erklärt sie mit den Gesetz- mäßigkeiten und Mechanismen, die dem Kapitalismus inne- wohnen. Alternative Wirtschaftspolitiken innerhalb des bestehenden Rahmens seien immer nur Augenwischerei und grundlegende Änderungen der Verhältnisse so nicht möglich.
Mandel prangert dabei insbesondere die Klasse der Kapitalisten und ihr zerstörerisches Wirtschaften an. Er verschont jedoch auch die arbeitende Klasse nicht in seiner Ursachensuche für gesellschaftliche Missstände.
Diese Analyse führte in unserem Lesekreis zu angeregten Diskussionen – vor allem über die Frage, ob es inhaltlich und strategisch klug sei, der organisierten Arbeiterbewegung „völliges Versagen“ und damit wesentliche Mitverantwortung für die „weltweite Offensive des Kapitals“ seit Mitte der 1970er Jahre vorzuwerfen. Wir fanden auf diese Frage zunächst keine gemeinsame Antwort.
Der Ausweg: Sozialismus
Die Kehrseite des Ansatzes, die arbeitende Klasse in die Mitverantwortung für ihre missliche Lage zu nehmen, arbeitet Mandel jedoch eindrücklich und prägnant im zweiten Teil seiner Rede heraus: Wer die eigene politische Lage durch „Versagen“ verschlechtern kann, hat offensichtlich Einfluss auf diese Lage und kann sie somit auch aus eigener Kraft heraus verbessern.
Die eigene Kraft der Arbeiterbewegung und anderer fortschrittlicher Bewegungen sieht Mandel dabei in ihrer Fähigkeit zur demokratischen und solidarischen Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens in der Gesellschaft.
Ansätze davon sieht Mandel in verschiedenen Beispielen seiner Zeit – Erhebungen der arbeitenden Klasse und unterdrückter Bevölkerungsgruppen in Uruguay und Brasilien, in Italien und Großbritannien, auch in Deutschland.
Dem Marxismus kommt ihm zufolge im Klassenkampf eine doppelte Rolle zu. Einerseits sei er die einzige Gesellschaftstheorie, die die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise so umfassend untersuche und erkläre.
Andererseits sei seine moralische Komponente genauso wichtig: Das konsequente Eintreten für die Interessen, Forderungen und Bedürfnisse der Masse der Menschen. In Anlehnung an die Worte von Marx bedeutet das, „gegen jeden Zustand [zu] kämpfen, in dem Menschen verachtet, entfremdet, ausgebeutet, unterdrückt werden oder ihnen die grundlegende Menschenwür- de verweigert wird“.