Sozia­lis­mus oder Neoliberalismus?

Aus­tausch über einen sehr lesens­wer­ten Text Ernest Mandels

N. B.

Am Sams­tag, den 11. Novem­ber 2023, tra­fen sich Akti­ve der ISO Rhein-Neckar und Gäs­te aus unter­schied­li­chen betrieb­li­chen und gewerk­schaft­li­chen Zusam­men­hän­gen in Mann­heim. Gemein­sam woll­ten wir Ernest Man­dels Text „Sozia­lis­mus oder Neo­li­be­ra­lis­mus?“* lesen und diskutieren.

Infostand in Mannheim-Neckarstadt, 7. Juli 2019. (Foto: Avanti².)

Info­stand in Mann­heim-Neckar­stadt, 7. Juli 2019. (Foto: Avanti².)

Wie­so alte Theo­rie­tex­te lesen? Die­se Fra­ge und wei­te­re kamen gleich zu Beginn unse­rer Zusam­men­kunft auf. Gibt es nicht so dring­li­che Pro­ble­me in unse­rer Arbeits- und Lebens­welt, dass wir uns auf deren Lösung kon­zen­trie­ren soll­ten? Ist das Lesen „his­to­ri­scher“ Tex­te sinn­voll, die in kom­pli­zier­ten Theo­rien die aktu­el­len Wider­sprü­che auf einer all­ge­mei­ne­ren Ebe­ne erklä­ren wol­len? War­um neh­men wir uns in die­sen beweg­ten, ja bedroh­li­chen Zei­ten einen gan­zen Nach­mit­tag Zeit, um uns in Gesell­schafts­theo­rien ein­zu­fuch­sen, statt die herr­schen­den Ver­hält­nis­se zu verändern?

Unse­re Ant­wort: Wir sind davon über­zeugt, dass unse­re poli­ti­sche Arbeit bei­des ent­hal­ten und ver­bin­den muss – den Akti­vis­mus in kon­kre­ten sozia­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen einer­seits und die poli­ti­sche Bil­dungs­ar­beit ande­rer­seits. Denn wer gesell­schaft­li­che Pro­zes­se der Aus­beu­tung und Unter­drü­ckung nicht ver­steht, wird sie auch nicht ver­än­dern kön­nen. Wer sie aber ver­steht und nicht dage­gen aktiv wird, wird sie eben­so wenig verändern.

Pro­blem­auf­riss und Analyse
Nach kur­zer Dis­kus­si­on konn­ten wir so in die inhalt­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Text star­ten. Gele­sen haben wir eine leicht gekürz­te Fas­sung einer Mit­schrift von Man­dels Vor­trag auf der New York Mar­xist School 1993.

Die ers­te Hälf­te des Tex­tes umfasst einen Pro­blem­auf­riss und eine Pro­blem­ana­ly­se zu Armut und wach­sen­der Ungleich­heit im neo­li­be­ra­len Kapi­ta­lis­mus. Anhand meh­re­rer kon­kre­ter Bei­spie­le zeigt Man­del die schrei­en­de Unge­rech­tig­keit und Unmensch­lich­keit die­ser Welt auf. Er erklärt sie mit den Gesetz- mäßig­kei­ten und Mecha­nis­men, die dem Kapi­ta­lis­mus inne- woh­nen. Alter­na­ti­ve Wirt­schafts­po­li­ti­ken inner­halb des bestehen­den Rah­mens sei­en immer nur Augen­wi­sche­rei und grund­le­gen­de Ände­run­gen der Ver­hält­nis­se so nicht möglich.

Man­del pran­gert dabei ins­be­son­de­re die Klas­se der Kapi­ta­lis­ten und ihr zer­stö­re­ri­sches Wirt­schaf­ten an. Er ver­schont jedoch auch die arbei­ten­de Klas­se nicht in sei­ner Ursa­chen­su­che für gesell­schaft­li­che Missstände.

Die­se Ana­ly­se führ­te in unse­rem Lese­kreis zu ange­reg­ten Dis­kus­sio­nen – vor allem über die Fra­ge, ob es inhalt­lich und stra­te­gisch klug sei, der orga­ni­sier­ten Arbei­ter­be­we­gung „völ­li­ges Ver­sa­gen“ und damit wesent­li­che Mit­ver­ant­wor­tung für die „welt­wei­te Offen­si­ve des Kapi­tals“ seit Mit­te der 1970er Jah­re vor­zu­wer­fen. Wir fan­den auf die­se Fra­ge zunächst kei­ne gemein­sa­me Antwort.

Der Aus­weg: Sozialismus
Die Kehr­sei­te des Ansat­zes, die arbei­ten­de Klas­se in die Mit­ver­ant­wor­tung für ihre miss­li­che Lage zu neh­men, arbei­tet Man­del jedoch ein­drück­lich und prä­gnant im zwei­ten Teil sei­ner Rede her­aus: Wer die eige­ne poli­ti­sche Lage durch „Ver­sa­gen“ ver­schlech­tern kann, hat offen­sicht­lich Ein­fluss auf die­se Lage und kann sie somit auch aus eige­ner Kraft her­aus verbessern.

Die eige­ne Kraft der Arbei­ter­be­we­gung und ande­rer fort­schritt­li­cher Bewe­gun­gen sieht Man­del dabei in ihrer Fähig­keit zur demo­kra­ti­schen und soli­da­ri­schen Gestal­tung des mensch­li­chen Zusam­men­le­bens in der Gesellschaft.

Ansät­ze davon sieht Man­del in ver­schie­de­nen Bei­spie­len sei­ner Zeit – Erhe­bun­gen der arbei­ten­den Klas­se und unter­drück­ter Bevöl­ke­rungs­grup­pen in Uru­gu­ay und Bra­si­li­en, in Ita­li­en und Groß­bri­tan­ni­en, auch in Deutschland.

Dem Mar­xis­mus kommt ihm zufol­ge im Klas­sen­kampf eine dop­pel­te Rol­le zu. Einer­seits sei er die ein­zi­ge Gesell­schafts­theo­rie, die die Ent­wick­lung der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se so umfas­send unter­su­che und erkläre.

Ande­rer­seits sei sei­ne mora­li­sche Kom­po­nen­te genau­so wich­tig: Das kon­se­quen­te Ein­tre­ten für die Inter­es­sen, For­de­run­gen und Bedürf­nis­se der Mas­se der Men­schen. In Anleh­nung an die Wor­te von Marx bedeu­tet das, „gegen jeden Zustand [zu] kämp­fen, in dem Men­schen ver­ach­tet, ent­frem­det, aus­ge­beu­tet, unter­drückt wer­den oder ihnen die grund­le­gen­de Men­schen­wür- de ver­wei­gert wird“.

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Dezem­ber 2023
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