Sys­tem­kon­for­me Gewerkschaften?

Ernest Man­del

 

Redak­tio­nel­le Vorbemerkung
Ernest Man­dels Arti­kel „Sys­tem­kon­for­me Gewerk­schaf­ten?“ erschien in der Zeit­schrift Gewerk­schaft­li­che Monats­hef­te, Nr. 6/1970.* Sei­ne Aus­füh­run­gen beru­hen auf einem Vor­trag, den er bei der öffent­li­chen Tagung der Bun­des­schu­le des Deut­schen Gewerk­schafts­bun­des (DGB) zum The­ma „Gewerk­schafts­theo­rie heu­te“ Ende März 1970 in Bad Kreuz­nach gehal­ten hatte.

Unter der Rubrik „Hin­wei­se der Redak­ti­on“ wird Ernest Man­del wie folgt vor­ge­stellt: „Ernest Man­del lebt als Chef­re­dak­teur der Wochen­zei­tung ‚La Gau­che‘ in Brüs­sel. Von 1955 bis 1962 war er Mit­glied der Wirt­schafts­stu­di­ums­kom­mis­si­on des bel­gi­schen Gewerk­schafts­bun­des. Durch eine Rei­he von Buch­ver­öf­fent­li­chun­gen hat sich Ernest Man­del einen inter­na­tio­na­len Namen als einer der pro­fi­lier­tes­ten Mar­xis­ten der Gegen­wart gemacht. In deut­scher Spra­che erschie­nen von ihm die fol­gen­den Bücher: ‚Mar­xis­ti­sche Wirt­schafts­theo­rie‘ (Suhr­kamp, Frank­furt 1968, 805 Sei­ten), ‚Ent­ste­hung und Ent­wick­lung der öko­no­mi­schen Leh­re von Karl Marx‘ (Euro­päi­sche Ver­lags­an­stalt, Frank­furt 1968, 226 Sei­ten), ‚Die EWG und die Kon­kur­renz Euro­pa - Ame­ri­ka‘ (Euro­päi­sche Ver­lags­an­stalt, Frank­furt 1968) und zuletzt ‚Die Leh­ren der deut­schen Rezes­si­on 1966 - 1967‘ (Euro­päi­sche Ver­lags­an­stalt, Frank­furt). Von sei­nem Buch ‚Mar­xis­ti­sche Wirt­schafts­theo­rie‘ ist gera­de jetzt eine Son­der­aus­ga­be von 10 000 Exem­pla­ren im Suhr­kamp-Ver­lag erschie­nen (Preis 12,- DM).“

Die Gewerk­schaft­li­chen Monats­hef­te wur­den von 1950 bis 2004 vom Bun­des­vor­stand des Deut­schen Gewerk­schafts­bun­des (DGB) als theo­re­ti­sches Dis­kus­si­ons­or­gan herausgegeben.

Heu­te wäre es kaum vor­stell­bar, dass einem revo­lu­tio­nä­ren Sozia­lis­ten und Kapi­ta­lis­mus­kri­ti­ker ers­ten Rangs wie Man­del die Spal­ten der Gewerk­schafts­pres­se geöff­net würden.

Nicht nur Man­del wür­de sich im Gra­be her­um­dre­hen, wenn ihm das Gere­de der aktu­el­len DGB-Vor­sit­zen­den Fahi­mi zu Ohren gekom­men wäre. Sie recht­fer­tig­te zum Jah­res­wech­sel 2022/23, dass Kon­zer­ne, die mehr als 50 Mil­lio­nen Euro an Staats­hil­fe erhal­ten hat­ten, die­se Gel­der als Boni und Divi­den­den aus­schüt­ten kön­nen. Und Fahi­mi leg­te noch nach, als sie wegen die­ser mit ele­men­ta­ren gewerk­schaft­li­chen Posi­tio­nen unver­ein­ba­ren Äuße­rung kri­ti­siert wor­den war. Sie schwa­dro­nier­te davon, dass es trotz der Rekord­ge­win­ne von Kon­zer­nen „nicht die Zeit für kapi­ta­lis­mus­kri­ti­sche Grund­satz­de­bat­ten“ sei.

Wir ver­öf­fent­li­chen auch des­halb Man­dels Auf­satz erneut, weil er – trotz aller in den letz­ten 50 Jah­ren erfolg­ten Ver­än­de­run­gen – die grund­le­gen­den Her­aus­for­de­run­gen für Gewerk­schaf­ten im Spät­ka­pi­ta­lis­mus klar benennt. Der in letz­ter Kon­se­quenz für Gewerk­schaf­ten selbst­zer­stö­re­ri­schen Anpas­sung ihrer Büro­kra­tien an die Logik des aus­beu­te­ri­schen Pro­fit­sys­tems stellt er die anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Per­spek­ti­ven einer Gewerk­schafts­ar­beit ent­ge­gen, die sich kon­se­quent den Klas­sen­in­ter­es­sen der eige­nen Mit­glie­der ver­pflich­tet sieht.

Man­del befasst sich nicht nur mit Pro­ble­ma­ti­ken wie der dama­li­gen „kon­zer­tier­ten Akti­on“, son­dern auch mit der schon 1970 abseh­ba­ren glo­ba­len Zusam­men­bal­lung von Herr­schaft in der „frei­en Welt“. Er erwähnt in die­sem Zusam­men­hang die dro­hen­de Kon­zen­tra­ti­on von „Ent­schei­dungs­ge­walt in weni­gen Hän­den“ durch „die Ver­all­ge­mei­ne­rung kyber- neti­scher Lenk­sys­te­me in Wirt­schaft und Staat“ (d. h. durch Infor­ma­ti­ons­tech­no­lo­gien). Zudem weist er dar­auf­hin, dass sich öko­no­mi­sche Macht in weni­gen Jah­ren in „200 Kon­zer­nen“ bün­deln wer­de. Die­se Pro­gno­se wur­de 2011, also mehr als vier­zig Jah­re spä­ter, durch die wis­sen­schaft­li­che Stu­die der ETH Zürich – „The Net­work of Glo­bal Cor­po­ra­te Con­trol“ – im Kern voll­kom­men bestä­tigt (www.researchgate.net/publication/51761051_The_Network_of_Global_Corporate_Control).

Man­del geht fer­ner auf die Fra­ge der gewerk­schaft­li­chen Gegen­wehr in Form von „wil­den Streiks“ und von anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Mas­sen­kämp­fen wie 1968 in Frank­reich oder 1969 in Ita­li­en ein. Er unter­streicht die Not­wen­dig­keit der inter­na­tio­na­len gewerk­schaft­li­chen Soli­da­ri­tät und kri­ti­siert das weit­ge­hen­de Feh­len wirk­sa­mer grenz­über­schrei­ten­der Aktionen.

Unab­ding­bar für eine posi­ti­ve Ent­wick­lung der Gewerk­schaf­ten ist für Man­del die Aus­wei­tung der inner­or­ga­ni­sa­to­ri­schen Demo­kra­tie und die akti­ve wie akti­vie­ren­de Ein­be­zie­hung der gewerk­schaft­li­chen Basis in die Ent­schei­dungs­pro­zes­se ihrer Organisationen.

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Wir haben die ursprüng­li­che Spra­che der Erst­ver­öf­fent­li­chung von Man­dels Text bei­be­hal­ten, offen­sicht­li­che Feh­ler aber kor­ri­giert und Zwi­schen­über­schrif­ten eingefügt.
H. N., 25.02.2023

* Teil­wei­se mit klei­nen Ver­än­de­run­gen wur­de der Text spä­ter als Nr. 3 der Heft­rei­he Gewerk­schaf­ten, Ber­lin 1972, danach in Ernest Man­del, Revo­lu­tio­nä­re Stra­te­gien im 20. Jahr­hun­dert, Wien 1978 und in der vom RSB/IV. Inter­na­tio­na­le her­aus­ge­ge­be­nen Bro­schü­ren-Rei­he Gegen den Strom, Nr. 2 von Janu­ar 2014, erneut veröffentlicht.


 

Sys­tem­kon­for­me Gewerk­schaf­ten?
Von Ernest Mandel

 

Die moder­ne Gewerk­schafts­be­we­gung ist ein Pro­dukt der ers­ten Pha­se des moder­nen Kapi­ta­lis­mus, der Pha­se der frei­en Kon­kur­renz. Die kapi­ta­lis­ti­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se schließt den Pro­du­zen­ten von jeg­li­chem frei­en Zugang zu Pro­duk­ti­ons- und Lebens­mit­teln ab, zwingt ihn, sei­ne Arbeits­kraft zu ver­kau­fen, um die Mit­tel zum unmit­tel­ba­ren Lebens­un­ter­halt zu errin­gen, und ver­wan­delt somit die­se Arbeits­kraft in eine Ware. Wie jeder Waren­be­sit­zer begibt sich der Besit­zer der Ware „Arbeits­kraft“ auf den Markt, um die­se zu ver­kau­fen. Wie jede Ware wird auch die Ware „Arbeits­kraft“ letz­ten Endes zu ihrem Wert, d. h. zu ihrem gesell­schaft­lich durch­schnitt­li­chen Pro­duk­ti­ons­preis ver­kauft. Nur befin­det sich der Ver­käu­fer der Ware „Arbeits- kraft“ in einer, durch die kapi­ta­lis­ti­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se beding­ten, beson­de­ren, ver­gli­chen mit jener aller ande­ren Waren­be­sit­zer im Kapi­ta­lis­mus, insti­tu­tio­nell unter­schied­li­chen Lage. Er ist gezwun­gen, sei­ne Ware zum lau­fen­den Markt­preis zu ver­kau­fen, weil er die­se nicht vom Markt zurück­zie­hen kann, um eine güns­ti­ge­re Markt­la­ge abzu­war­ten. Wei­gert er sich, den lau­fen­den Markt­preis anzu­neh­men, so gerät er in Gefahr, zusam­men mit sei­ner Fami­lie zu ver­hun­gern. Des­halb wird unter nor­ma­len Bedin­gun­gen des Kapi­ta­lis­mus, vor allem, wenn die struk­tu­rel­le Erwerbs­lo­sig­keit hoch ist (und die begin­nen­de Indus­tria­li­sie­rung bedingt die­ses hohe Niveau, mit Aus­nah­me der bevöl­ke­rungs­lee­ren Ansied­lungs­ko­lo­nien), die Ware „Arbeits­kraft“ lau­fend unter ihrem Wert verkauft.

Die moder­ne Gewerk­schafts­be­we­gung ent­steht als Reak­ti­on der Lohn­ar­bei­ter auf die­sen Tat­be­stand. Wird die Kon­kur­renz zwi­schen den Unter­neh­mern auf die Kon­kur­renz zwi- schen den Ver­käu­fern der Ware „Arbeits­kraft“ aus­ge­dehnt, so sind die Lohn­ab­hän­gi­gen hilf­los der Ten­denz des Sin­kens des Loh­nes unter die Pro­duk­ti­ons­kos­ten der Arbeits­kraft aus­ge­setzt. Gewerk­schaf­ten sind dem­nach ein Ver­such, die Ato­mi­sie­rung der Lohn­ab­hän­gi­gen ein­zu­schrän­ken und die insti­tu­tio­nel­le Ungleich­heit von Käu­fer und Ver­käu­fer der Ware „Arbeits­kraft“ wenigs­tens dadurch ein­zu­schrän­ken, daß der Ver­kauf nicht mehr indi­vi­du­ell, son­dern kol­lek­tiv stattfindet.

Dop­pel­cha­rak­ter der Gewerkschaften
An und für sich sind dem­nach Gewerk­schaf­ten nicht sys­tem-spren­gend im Kapi­ta­lis­mus. Sie sind nicht Mit­tel zur Auf­he­bung der kapi­ta­lis­ti­schen Aus­beu­tung, son­dern nur Mit­tel zu einer für die Mas­se der Lohn­ab­hän­gi­gen erträg­li­che­ren Aus­beu­tung. Sie sol­len die Löh­ne erhö­hen, nicht die Lohn­ar­beit über­haupt auf­he­ben. Aber gleich­zei­tig sind die Gewerk­schaf­ten an und für sich auch nicht sys­tem­kon­form im Kapi­ta­lis­mus. Denn indem sie dem Sin­ken der Real­löh­ne Ein­halt gebie­ten und wenigs­tens peri­odisch und unter bestimm­ten Bedin­gun­gen eine güns­ti­ge Fluk­tua­ti­on von Nach­fra­ge und Ange­bot an Arbeits­kraft auf dem Arbeits­markt zur Hebung des Markt­prei­ses die­ser Ware aus­nüt­zen kön­nen, erlau­ben sie der orga­ni­sier­ten Mas­se der Arbei­ter­schaft ein Mini­mum an Kon­sum und Bedürf­nis­sen zu über­stei­gen, so daß Klas­sen­or­ga­ni­sa­ti­on, Klas­sen­be­wußt­sein und wach­sen­des Selbst­ver­trau­en erst in brei­te­rem Aus­maß ent­ste­hen und die Vor­be­din­gun­gen für einen sys­tem­spren­gen­den Kampf brei­te­rer Mas­sen über­haupt erst erzeu­gen können.

Um nor­mal funk­tio­nie­ren und sich aus­deh­nen zu kön­nen, benö­tigt die moder­ne Gewerk­schafts­be­we­gung zwei wirt­schaft­li­che Vor­be­din­gun­gen: Ers­tens einen Grad der Indus­tria­li­sie­rung oder des durch­schnitt­li­chen Wirt­schafts­wachs- tums, in dem ten­den­zi­ell mehr Arbeits­plät­ze ent­ste­hen als gleich­zei­tig durch die Pro­zes­se des Ruins des selb­stän­di­gen Hand­werks und der selb­stän­di­gen Bau­ern­schaft sowie durch die Kon­zen­tra­ti­on des Kapi­tals auf­ge­ho­ben wer­den. Zwei­tens eine Form des Funk­tio­nie­rens der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se, in der die Bestim­mung der Löh­ne durch die Fluk­tua­tio­nen von Nach­fra­ge und Ange­bot der Ware „Arbeits­kraft“, d. h. durch die Markt­la­ge auf dem Arbeits­markt, die Lebens­in­ter­es­sen der mäch­tigs­ten Schich­ten der herr­schen­den Klas­se nicht gefähr­det. His­to­risch sind die­se Bedin­gun­gen nur im Wes­ten und nur in der früh­im­pe­ria­lis­ti­schen Pha­se des Mono­pol­ka­pi­ta­lis­mus, etwa 1890-1914, ver­wirk­licht worden.

Ist die ers­te Bedin­gung nicht erfüllt, so blei­ben die Gewerk­schaf­ten schwach und wir­kungs­los, wie dies in Groß­bri­tan­ni­en im ers­ten Teil des 19. Jahr­hun­derts, im übri­gen West­eu­ro- pa bis in die acht­zi­ger Jah­re des 19. Jahr­hun­derts der Fall war, und in den Län­dern der soge­nann­ten Drit­ten Welt auch heu­te noch der Fall ist. Ist die zwei­te Bedin­gung nicht mehr erfüllt, so gehen die Groß­un­ter­neh­mer dar­an, durch Aus­schal­tung der frei­en Gewerk­schaf­ten die nöti­gen Ver­wer­tungs­be­din­gun­gen des Kapi­tals wie­der­her­zu­stel­len, wie dies in den öko­no­misch schwä­che­ren Län­dern Euro­pas zur Zeit der gro­ßen Wirt­schafts­kri­se all­ge­mein geschah.

Die Tat­sa­che, daß Gewerk­schaf­ten an und für sich weder sys­tem­spren­gend noch sys­tem­för­dernd sind, hat seit Ende des 19. Jahr­hun­derts auch in den ursprüng­lich von Sozia­lis­ten gegrün­de­ten Gewerk­schaf­ten ähn­li­che Ansich­ten der „Neu­tra­li­tät“ gegen­über der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se auf­kom­men las­sen, wie sie bei den „rei­nen“ Gewerk­ver­ei­nen etwa Groß­bri­tan­ni­ens schon seit jeher bestan­den. Man sol­le sich nur auf die Orga­ni­sa­ti­on der Lohn­ab­hän­gi­gen beschrän­ken, durch die wach­sen­de Macht die­ser Orga­ni­sa­ti­on die schlimms­ten Aus­wüch­se der kapi­ta­lis­ti­schen Aus­beu­tung besei­ti­gen, und den Arbei­tern einen wach­sen­den Lebens­stan­dard sichern. Die­se Macht wür­de dann die bür­ger­li­che Gesell­schaft zu einer all­mäh­li­chen Anpas­sung an objek­ti­ve Sozia­li­sie­rungs­pro­zes­se zwin­gen. Das übri­ge kön­ne man dem all­ge­mei­nen Wahl­recht überlassen.

Der von Bern­stein offen aus­ge­spro­che­ne Revi­sio­nis­mus ent­sprach durch­aus den Wün­schen der füh­ren­den Krei­se der Gewerk­schaf­ten, die auch die schärfs­ten Geg­ner der von Rosa Luxem­burg geführ­ten Lin­ken in den Aus­ein­an­der­set­zun­gen inner­halb der deut­schen Arbei­ter­be­we­gung vor dem 1. Welt­krieg waren. Die­sen Ansich­ten lag eine bestimm­te his­to­ri­sche Pro­gno­se zugrun­de, näm­lich jene eines gra­du­el­len Abbaus der Klas­sen­ge­gen­sät­ze inner­halb der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se dank der orga­ni­sier­ten Kraft der Arbei­ter­be­we­gung, an ers­ter Stel­le der Gewerk­schaf­ten. Sech­zig Jah­re spä­ter haben eng­li­sche und ame­ri­ka­ni­sche libe­ra­le Natio­nal­öko­no­men wie Gal­braith den alten Bern­stein mit ihrer Theo­rie der „coun­ter­vai­ling-power“ [Gegenmacht]und der „gemisch­ten Gesell­schaft“ wie­der auf­le­ben lassen.

Gefähr­li­che refor­mis­ti­sche Illu­sio­nen
Lei­der hat die Geschich­te des 20. Jahr­hun­derts die­se Illu­sio­nen eines gra­du­el­len Abbaus der inne­ren Gegen­sät­ze der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se kei­nes­wegs bestä­tigt. Seit­dem die­se Pro­duk­ti­ons­wei­se ihre his­to­ri­sche Auf­ga­be der Schaf­fung des Welt­markts und der welt­wei­ten Aus­deh­nung der Waren­pro­duk­ti­on erfüllt hat­te, zeugt eine lan­ge Rei­he von Erschüt­te­run­gen von der wach­sen­den Explo­si­vi­tät die­ser Gegen­sät­ze: zwei Welt­krie­ge, die gro­ße Wirt­schafts­kri­se der Jah­re 1929 bis 1932, die Aus­deh­nung des Faschis­mus in ganz Euro­pa, der Ver­lust eines Drit­tels der Erde für die kapi­ta­lis­ti­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se, eine unun­ter­bro­che­ne Ket­te von Kolo­ni­al­krie­gen in den letz­ten zwan­zig Jah­ren, die fürch­ter­li­che Gefahr, die der Wett­lauf nach Atom­waf­fen für die Zukunft der Mensch­heit her­auf­be­schwört, sind nur eini­ge der wich­tigs­ten Zeug­nis­se die­ser explo­si­ven Gegensätze.

Die aus den Hoff­nun­gen auf einen gra­du­el­len, unun­ter­bro­che­nen Fort­schritt gebo­re­nen Gewerk­schafts­theo­rien erwie­sen sich als unfä­hig, die neu­en his­to­ri­schen Auf­ga­ben, mit denen die Arbei­ter­be­we­gung in der Epo­che des Kapi­ta­lis­mus kon­fron­tiert wur­de, zu erken­nen, geschwei­ge denn, sie zu lösen. Ein Fest­hal­ten an nur-gewerk­schaft­li­cher Theo­rie und Pra­xis muß­te zwangs­läu­fig zum Schluß füh­ren, daß nur ein kräf­ti­ger und gesun­der Kapi­ta­lis­mus Lohn­er­hö­hun­gen gewäh­ren kön­ne. Dar­um war man bereit, den Arzt am Kran­ken­bett des Kapi­ta­lis­mus zu spie­len, und statt zu ver­su­chen, die­sem Kran­ken zu sei­nem Ende zu ver­hel­fen, begnüg­te man sich, den Kapi­ta­lis­mus mit allen Mit­teln von sei­ner Krank­heit zu hei­len. Das Para­dox ende­te dort, wo man Lohn­kür­zun­gen akzep­tier­te, um einen „gesun­den“ Kapi­ta­lis­mus zu erzeu­gen, d. h., um spä­te­re Lohn­er­hö­hun­gen zu errei­chen. Eine Gewerk­schafts­be­we­gung, die zu solch absur­den Schluß­fol­ge­run­gen gelang­te, war offen­bar in eine Sack­gas­se geraten.

Jede Insti­tu­ti­on unter­liegt in einer auf ver­all­ge­mei­ner­ter Waren­pro­duk­ti­on und Arbeits­tei­lung auf­ge­bau­ten Gesell­schaft der Gefahr der Ver­ding­li­chung und der Ver­selb­stän­di­gung, d. h. der Gefahr, die ursprüng­li­che Funk­ti­on zu ver­lie­ren und nur noch der eige­nen Selbst­er­hal­tung zu die­nen. Die­se Gefahr wird beson­ders stark, wenn in die­ser Insti­tu­ti­on eine gesell­schaft­li­che Schicht ent­steht, deren mate­ri­el­les Inter­es­se engs­tens mit der Selbst­er­hal­tung der betref­fen­den Insti­tu­ti­on ver­bun­den ist. Der Pro­zeß der Büro­kra­ti­sie­rung der Gewerk­schaf­ten, der engs­tens mit der Abwen­dung von der Klas­sen­kampf­theo­rie zur Theo­rie und Pra­xis der Klas­sen­zu­sam­men- arbeit ver­bun­den ist, erklärt so min­des­tens z. T. jenes Para­dox, das aber auch eigen­stän­di­ge ideo­lo­gi­sche Wur­zeln hat, d. h. den inne­ren Wider­sprü­chen der „rei­nen“ Gewerk­schafts­theo­rie ent­spricht. Fing somit die Ideo­lo­gie der Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie an, einen Funk­ti­ons­wan­del der Gewerk­schaf­ten zu be- stim­men, so wur­den all­mäh­lich im Zeit­al­ter des Spät­ka­pi­ta­lis­mus immer stär­ke­re objek­ti­ve Pro­zes­se sicht­bar, die in die­sel­be Rich­tung drängten.

Der Spät­ka­pi­ta­lis­mus steht seit den vier­zi­ger Jah­ren im Zei­chen der drit­ten indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on, d. h. im Zei­chen einer beschleu­nig­ten tech­no­lo­gi­schen Erneue­rung. Die­se be- schleu­nig­te tech­no­lo­gi­sche Erneue­rung bedingt eine Ver­kür­zung des Repro­duk­ti­ons­zy­klus des fixen Kapi­tals, der einen wach­sen­den Zwang in Rich­tung auf lang­fris­ti­ge Inves­ti­ti­ons­pla­nung, genaue Kos­ten­pla­nung, und des­halb auch genaue Lohn­kos­ten­pla­nung beinhal­tet. Dadurch schrumpft das klas­si­sche Tätig­keits­feld der Gewerk­schaf­ten auto­ma­tisch. Ide­al­mo-dell für den „orga­ni­sier­ten“ Spät­ka­pi­ta­lis­mus ist eine ver­all­ge­mei­ner­te wirt­schafts- und sozi­al­po­li­ti­sche Steue­rung, die es den Groß­kon­zer­nen erlaubt, ihre Inves­ti­ti­ons­pro­gram­me mit­ein­an­der zu koor­di­nie­ren, die unter der Herr­schaft des Pri­vat­ei­gen­tums an Pro­duk­ti­ons­mit­teln im Wirt­schafts­be­reich rein indi­ka­tiv blei­ben muß, die aber im Sozi­al­be­reich durch­aus impe­ra­tiv wir­ken soll. Des­halb über­all der Druck zuguns­ten der „kon­zer­tier­ten Akti­on“, der „Ein­kom­mens­po­li­tik“, der „sozia­len Pro­gram­mie­rung“. Hin­ter all die­sen For­meln ver­steckt sich ein ein­heit­li­cher Zweck: Abbau der Tarif­au­to­no­mie der Gewerk­schaf­ten, Ver­hin­de­rung der Aus­nüt­zung von zeit­wei­lig güns­ti­gen Kon­junk­tur­la­gen auf dem Arbeits­markt (Voll­be­schäf­ti­gung oder gar aku­te Knapp­heit an Arbeits­kräf­ten) durch die Arbei­ter­schaft im Sin­ne von bedeu­ten­den Lohn­er­hö­hun­gen und (unter Bedin­gung einer bestimm­ten Geld­po­li­tik) im Sin­ne einer bedeu­ten­den Sen­kung der Mehr­wert- und Profitrate.

Gewerk­schaft­li­che Inte­gra­ti­on im Spätkapitalismus …
Gleich­zei­tig aber ver­leiht die­ser grund­le­gen­de Trend des Spät­ka­pi­ta­lis­mus in der Wirt­schafts- und Sozi­al­po­li­tik der Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie neue Per­spek­ti­ven. Es han­delt sich jetzt nicht nur dar­um, die Orga­ni­sa­ti­ons­macht am Ver­hand­lungs­tisch gegen­über den Unter­neh­mer­ver­tre­tern zu ver­wer­ten. Es han­delt sich nun auch dar­um, in den zahl­rei­chen Gre­mi­en der staat­li­chen und halb­staat­li­chen Wirt­schafts­len­kung die Lohn­ab­hän­gi­gen zu ver­tre­ten. In den skan­di­na­vi­schen Län­dern, in Bel­gi­en und Hol­land, in Frank­reich und Ita­li­en und seit eini­gen Jah­ren auch in Groß­bri­tan­ni­en hat sich so ein Pro­zeß der brei­tes­ten Inte­gra­ti­on der Gewerk­schafts­spit­zen in den bür­ger­li­chen Staat abge­zeich­net, wobei Gewerk­schafts­füh­rer oft mehr Zeit in die­sen staat­li­chen Gre­mi­en als in eigent­li­chen Gewerk­schafts­ver­samm­lun­gen verbringen.

Ideo­lo­gisch gese­hen ent­spricht die­se wei­te­re Inte­gra­ti­on der Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie in den spät­bür­ger­li­chen Staats­ap­pa­rat der­sel­ben Moti­va­ti­on der Klas­sen­zu­sam­men­ar­beit und der­sel­ben gra­dua­lis­ti­schen Illu­sio­nen, wie die vori­ge Wel­le der Inte­gra­tio­nen. Weil der „sozia­le Fort­schritt“ durch das „wirt­schaft­li­che Wachs­tum“ bestimmt sei, müs­se man halt die Ver­ant­wor­tung für die­ses wirt­schaft­li­che Wachs­tum auf sich neh­men, ohne sich Gedan­ken zu machen über die Struk­tur der bestehen­den Pro­duk­ti­ons­wei­se, die durch die­ses Wachs­tum kon­so­li­dier­ten Klas­sen­ge­gen­sät­ze und die Klas­sen­aus­beu­tung usw. usf. Weil die Pos­ten in den Ver­wal­tungs­rä­ten der ver­staat­lich­ten Indus­trien und Kon­zer­ne, weil die Pos­ten im Ver­wal­tungs­rat der Zen­tral­ban­ken, weil die unzäh­li­gen Pos­ten in staat­li­chen Steue­rungs- und Pla­nungs­gre­mi­en als so vie­le „Posi­tio­nen“ gese­hen wer­den, von denen aus man die bür­ger­li­che Wirt­schaft „Schritt für Schritt“ erobern kön­ne, wird die „Mit­be­stim­mung und Mit­ver­ant­wor­tung“ in der spät­ka­pi­ta­lis­ti­schen Wirt­schaft als eine Etap­pe zur zukünf­ti­gen Sozia­li­sie­rung bei man­chen nicht völ­lig dem Zynis­mus ver­fal­le­nen Gewerk­schafts­füh­rern ratio­na­li­siert. Der Urtyp die­ses Ver­hal­tens wur­de vom alten fran­zö­si­schen Gewerk­schafts­füh­rer Jou­haux gelie­fert, der nach dem Ers­ten Welt­krieg freu­de­strah­lend das Dekret, das ihn zum Mit­glied des Ver­wal­tungs­rats der Ban­que de France ernann­te, den Gewerk­schaft­lern vor­leg­te und aus­rief: „Der ers­te Nagel im Sarg des Kapi­ta­lis­mus“. Der fran­zö­si­sche Kapi­ta­lis­mus scheint aber seit fünf­zig Jah­ren die­se Nägel sehr gut über­stan­den zu haben und ist heu­te genau­so leben­dig wie im Jah­re 1919 …

… und ihre Widersprüche
Die Ten­denz zur wach­sen­den Inte­gra­ti­on der Gewerk­schafts­spit­zen in den bür­ger­li­chen Staats­ap­pa­rat stößt jedoch auf zwei grund­le­gen­de Wider­sprü­che im Spätkapitalismus.

Ein­mal benö­ti­gen die Groß­kon­zer­ne und bür­ger­li­chen Regie­run­gen die­se Teil­nah­me der Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie an der wirt­schafts- und sozi­al­po­li­ti­schen Steue­rung nur in dem Maße, wie dadurch ein Auf­be­geh­ren der Arbei­ter­schaft gegen die wei­ter­hin zykli­sche Ent­wick­lung der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se (ein­mal Voll­be­schäf­ti­gung mit „Maß­hal­ten“ in der Lohn­po­li­tik, dar­auf­hin Rezes­si­on mit Erwerbs­lo­sig­keit und mas­sier­te Angrif­fe der Unter­neh­mer gegen den erreich­ten Lebens­stan­dard und die gege­be­nen Arbeits­be­din­gun­gen der Lohn­ab­hän­gi­gen) erfolg­reich abge­baut wer­den kann. Aber eine wach­sen­de Iden­ti­fi­zie­rung der Gewerk­schafts­füh­rung mit der „staat­lich gelenk­ten“ Lohn­po­li­tik (wie etwa in Hol­land und Skan­di­na­vi­en wäh­rend lan­ger Jah­re) oder mit einer „frei­wil­li­gen“ Ein­kom­mens­po­li­tik (Groß­bri­tan­ni­en) muß zwangs­läu­fig auf wach­sen­den Wider­stand der Lohn­ab­hän­gi­gen sto­ßen, auf eine Wel­le von wil­den Streiks, auf eine Aus­höh­lung der inne­ren Bezie­hun­gen zwi­schen Gewerk­schafts­mit­glie­dern und Gewerk­schaf­ten. Dies aber ver­rin­gert die Nütz­lich­keit der Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie in den Augen der Groß­kon­zer­ne. Jene bedür­fen näm­lich einer die Arbei­ter­mas­sen tat­säch­lich kon­trol­lie­ren­de und ihre Kämp­fe kana­li­sie­ren­de, nicht aber eine nur nomi­nel­le Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie, wie das Bei­spiel der soge­nann­ten ver­ti­ka­len Staats­ge­werk­schaft in Spa­ni­en ein­deu­tig bewie­sen hat. Ist die Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie zu einer sol­chen Kon­trol­le nicht mehr fähig, so wird ihre „Des­in­te­gra­ti­on“ aus dem bür­ger­li­chen Staats­ap­pa­rat die wahr­schein­li­che­re Vari­an­te, sei es, daß die Groß­kon­zer­ne selbst die Initia­ti­ve dazu ergrei­fen, sei es, daß die Gewerk­schafts­füh­rung eine „Wen­de nach links“ vor­nimmt, um die Kon­trol­le über die Arbei­ter­agi­ta­ti­on wie­der zu erlangen.

Ande­rer­seits hat aber auch die Ten­denz zur wach­sen­den Wirt­schafts­steue­rung und zum „orga­ni­sier­ten“ Kapi­ta­lis­mus, die die Inte­gra­ti­on der Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie in den bür­ger­li­chen Staats­ap­pa­rat bedingt, eine dop­pel­te und wider­spruchs­vol­le Aus­wir­kung auf die Mas­se der Lohn­ab­hän­gi­gen. Die­se sind ohne Zwei­fel in grö­ße­rem Maß als vor­her der mys­ti­fi­zie­ren­den Dem­ago­gie der „Betriebs­in­ter­es­sen“ und der vom Bür­ger­tum vor­ge­heu­chel­ten und nur von Gewerk­schafts­sei­te prak­ti­zier­ten Klas­sen­zu­sam­men­ar­beit aus­ge­setzt. Aber gleich­zei­tig bedingt die wach­sen­de öffent­li­che Debat­te über gesamt­ge­sell­schaft­li­che Aggre­ga­te wie Brut­to­so­zi­al­pro­dukt, Volks- ein­kom­men, Lohn­quo­te, Inves­ti­ti­ons­quo­te, Geld­vo­lu­men, Pro­duk­ti­vi­täts­stei­ge­rung usw. usf. die wach­sen­de Mög­lich­keit eines Inter­es­ses fort­ge­schrit­te­ner Arbei­ter und Ange­stell­ter für gesamt­wirt­schaft­li­che und gesamt­ge­sell­schaft­li­che Zusam­men­hän­ge. Genau­so wie die Wirt­schaft vor dem Ers­ten Welt­krieg mit ihrem andau­ern­den Gue­ril­la­kampf über die Ver­tei­lung des von der Arbei­ter­schaft neu geschaf­fe­nen Wer­tes zwi­schen Unter­neh­mern und Lohn­ab­hän­gi­gen zu einer prak­ti­schen Schu­le des Klas­sen­kamp­fes wur­de, sobald der Arbei­ter­schaft die inne­ren Zusam­men­hän­ge die­ses Kamp­fes ver­deut­licht wur­den, genau­so kön­nen die heu­ti­gen öffent­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen über Ver­tei­lung des Volks­ein­kom­mens und Umfang, Inhalt und Ori­en­tie­rung der Inves­ti­tio­nen zu einer prak­ti­schen höhe­ren Schu­le des Klas­sen­kamp­fes wer­den, wenn die Lohn­ab­hän­gi­gen wie­der­um in brei­tem Aus­maß über die inne­ren Zusam­men­hän­ge die­ser Pro­zes­se mit den der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se inne­woh­nen­den Wider­sprü­chen und über deren Aus­beu­tungs­cha­rak­ter auf­ge­klärt wer­den, und wenn die Ver­mitt­lung die­ser Auf­klä­rung über die unmit­tel­ba­ren Bedürf­nis­se und Sor­gen der Lohn­ab­hän­gi­gen gefun­den wird.

Gewiß ist die­ses objek­ti­ve Ergeb­nis der wach­sen­den Ver­qui­ckung von Groß­kon­zer­nen, bür­ger­li­chem Staat und staat­li­cher Wirt­schafts- und Sozi­al­po­li­tik kei­nes­wegs ein auto­ma­ti­sches Pro­dukt des „orga­ni­sier­ten“ Spät­ka­pi­ta­lis­mus. Eine demo­kra­tisch-neo­re­for­mis­ti­sche Strö­mung, die sich seit den soge­nann­ten Plan-Expe­ri­men­ten etwa eines Hen­drik de Mans in den drei­ßi­ger Jah­ren in der Gewerk­schafts­be­we­gung ver­brei­tet hat, ver­sucht den Über­gang des Kamp­fes für Refor­men in der Dis­tri­bu­ti­ons­sphä­re zu Kämp­fen für Struk­tur­re­for­men als einen gro­ßen Fort­schritt an und für sich dar­zu­stel­len. Die Erfah­rung beweist aber immer wie­der, daß zwi­schen neo­ka­pi­ta­lis­ti­schen, das Sys­tem – sehr oft auf Kos­ten der Lohn­quo­te! – ratio­na­li­sie­ren­den und leicht von den Groß­kon­zer­nen zu absor­bie­ren­den Struk­tur­re­for­men und sol­chen, die sys­tem­spren­gend wir­ken, weil sie in die kapi­ta­lis­ti­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se nicht inte­griert wer­den kön­nen und letz­ten Endes dazu füh­ren, daß der Klas­sen­kampf einer Ent­schei­dungs­schlacht zustrebt, schärfs­tens unter­schie­den wer­den muß. Die Ers­ten füh­ren in ihrer Logik zu einer wei­te­ren Inte­gra­ti­on der Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie in den bür­ger­li­chen Staats­ap­pa­rat, zu einem wei­te­ren Abbau von Kampf­wil­len und Kampf­erfah­rung der Lohn­ab­hän­gi­gen. Der Kampf um die Zwei­ten kann dage­gen nur die Gewerk­schafts­be­we­gung radi­ka­li­sie­ren und die Mas­se für wei­te­re und brei­te­re Kämp­fe und wach­sen­des anti­ka­pi­ta­lis­ti­sches Bewußt­sein mobil machen.

Radi­ka­le anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Arbeitskämpfe
Die Mög­lich­keit, von den neu­en For­men des Funk­tio­nie­rens der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se selbst aus­zu­ge­hen, um die Gewerk­schafts­be­we­gung und brei­te­re Arbei­ter­mas­sen auf radi­ka­le anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Zie­le umzu­ori­en­tie­ren, ent­spricht einer spon­ta­nen Ten­denz des ele­men­ta­ren Arbei­ter­kamp­fes auf Betriebs­ebe­ne, wie er sowohl in dem fran­zö­si­schen Gene­ral­streik vom Mai 1968 und in den gro­ßen ita­lie­ni­schen Streiks im Herbst und Win­ter 1969 sowie ansatz­wei­se in den zahl­rei­chen wil­den Streiks vie­ler west­eu­ro­päi­scher Län­der der letz­ten zwölf Mona­te zum Aus­druck kam. Was in die­sen größ­ten Streiks, die es bis­her in der Geschich­te des Kapi­ta­lis­mus gege­ben hat (nahe­zu 10 Mil­lio­nen Strei­ken­de in Frank­reich, nahe­zu 15 Mil­lio­nen in Ita­li­en) zum ers­ten Mal schlag­ar­tig aus­ge­spro­chen wur­de, das war eine Her­aus­for­de­rung und eine „Infra­ge­stel­lung“ nicht nur der kapi­ta­lis­ti­schen Ein­kom­mens­ver­tei­lung, son­dern der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se selbst. Wie bedeu­tend auch Lohn- und Arbeits­zeit­fra­gen für die­se Streik­be­we­gung waren, so bestand das Neue an die­sen rie­si­gen Arbeits­kämp­fen in West­eu­ro­pa dar­in, daß die Strei­ken­den sehr oft spon­tan, ohne tie­fe­re theo­re­ti­sche Ein­sicht und mit unbe­hol­fe­nen For­mu­lie­run­gen, als Kampf­zie­le nicht nur mehr Lohn und kür­ze­re Arbeits­zeit for­der­ten, son­dern die neu­en For­men der Ent­loh­nung (Arbeits­platz­be­wer­tung, mea­su­red day work usw.), die zur Ato­mi­sie­rung der Arbei­ter­klas­se und zur ratio­na­li­sier­ten Kon­trol­le über die Arbeits­kraft im Betrieb füh­ren, in Fra­ge stell­ten, die Span­ne zwi­schen den am schlech­tes­ten und den am bes­ten bezahl­ten Schich­ten der Lohn­ab­hän­gi­gen ver­such­ten her­ab­zu­set­zen, die Arbeits­or­ga­ni­sa­ti­on im Betrieb angrif­fen, den Rhyth­mus des Fließ­ban­des selbst ver­such­ten zu bestim­men, ja sogar die inner­be­trieb­li­che Arbeits­tei­lung erschüt­ter­ten und die Auto­ri­tät der Meis­ter und Vor­ar­bei­ter, d. h. die gan­ze hier­ar­chi­sche Struk­tur des kapi­ta­lis­ti­schen Betrie­bes, anfin­gen zu unter­gra­ben. Man kann alle die­se neu­ar­ti­gen For­de­run­gen nicht bes­ser zusam­men­fas­sen als in ihnen die Keim­form des unmit­tel- baren Kamp­fes gegen das Recht und die Macht des Kapi­tals, Arbeit und Maschi­nen zu kom­man­die­ren, d. h. die Keim­form des unmit­tel­ba­ren Kamp­fes gegen die kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se selbst zu erkennen.

Gewiß wäre es ver­früht, die fran­zö­si­schen und ita­lie­ni­schen Streiks, d. h. das Klas­sen­be­wußt­sein von 25 Mil­lio­nen west­eu­ro­päi­scher Lohn­ab­hän­gi­ger sämt­lich auf die­sen Nen­ner zu brin­gen. Noch ver­fehl­ter wäre es, in jedem „wil­den Streik“ jedes west­eu­ro­päi­schen Lan­des bereits den Ansatz zu einem fran­zö­si­schen Mai oder einem ita­lie­ni­schen Herbst, d. h. den Ansatz zu einer sol­chen wenigs­tens in Keim­form direk­ten Infra­ge­stel­lung der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se zu sehen. Noch nie war das Gesetz der ungleich­mä­ßi­gen Ent­wick­lung und der inne­ren Dif­fe­ren­zie­rung der Arbei­ter­schaft so stark in West­eu­ro­pa erkenn­bar wie heu­te. Aber es han­delt sich dar­um, das Neue in die­sen Kämp­fen recht­zei­tig auf­zu­de­cken und zu erken­nen, daß es die Ten­denz haben wird, sich all­mäh­lich auf alle impe­ria­lis­ti­schen Län­der des Wes­tens, sowie auf Japan, auszudehnen.

Denn die­se neu­ar­ti­ge Form der Arbei­ter­kämp­fe in den indus­tria­li­sier­ten Län­dern ist selbst ein Pro­dukt der drit­ten indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on, der sich ver­än­dern­den For­men der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se. Beschleu­nig­te tech­no­lo­gi­sche Erneue­rung bedeu­tet im „orga­ni­sier­ten“ Spät­ka­pi­ta­lis­mus beschleu­nig­te Struk­tur­kri­sen von Gewer­ben, Indus­trie­zwei­gen und Indus­trie­re­vie­ren, beschleu­nig­te Dis­qua­li­fi­zie­rung gan­zer Berufs­grup­pen, beschleu­nig­te Aus­beu­tung und vor allem stän­di­ge Inten­si­vie­rung des Arbeits­pro­zes­ses, aber gleich­zei­tig beschleu­nig­tes Wie­der­ein­schleu­sen geis­ti­ger Arbeit in den Pro­duk­ti­ons­pro­zeß, beschleu­nig­te Hebung des durch­schnitt­li­chen Qua­li­fi­ka­ti­ons- und Wis­sens­ni­veaus der Pro­du­zen­ten in den tech­nisch füh­ren­den Indus­trie­zwei­gen, beschleu­nig­tes Umsich­grei­fen der Infra­ge­stel­lung der bür­ger­li­chen Herr­schafts- und Ent­frem­dungs­er­schei­nun­gen im Bereich der Hoch- und Mit­tel­schu­len, des Kom­mu­ni­ka­ti­ons­we­sens, der Lebens­ge­mein­schaft und der Kon­sum­sphä­re über­haupt, was unver- meid­lich zu einer wach­sen­den Infra­ge­stel­lung der­sel­ben Herr­schafts- und Ent­frem­dungs­be­din­gun­gen in der Pro­duk­ti­ons-sphä­re füh­ren muß.

Inter­gra­ti­on durch „Mit­be­stim­mung“
Die intel­li­gen­te­ren Füh­rungs­spit­zen der Groß­kon­zer­ne und der bür­ger­li­chen Klas­se sind sich der gro­ßen Gefahr, die die­se neu­en Kampf­for­men und Kampf­zie­le der Arbei­ter­schaft für das Über­le­ben ihrer Klas­sen­herr­schaft mit sich brin­gen, durch­aus bewußt, – lei­der viel mehr bewußt als die meis­ten Gewerk­schafts­füh­rer. Dar­um fällt eine ideo­lo­gi­sche Kehrt­wen­de die­ses Groß­bür­ger­tums zeit­lich zusam­men mit der fran­zö­si­schen Mai-Explo­si­on vom Jah­re 1968. De Gaul­le lan­cier­te die Lösung der par­ti­ci­pa­ti­on, die seit­her eif­rigst von bri­ti­schen Tories, von den ver­schie­dens­ten Strö­mun­gen des fran­zö­si­schen Bür­ger­tums, von den meis­ten skan­di­na­vi­schen Kapi­ta­lis­ten (wie auch von den meis­ten nörd­li­chen Sozi­al­de­mo­kra­ten), ja sogar von einem Teil der spa­ni­schen Groß­kon­zer­ne freu­dig auf­ge­grif­fen wur­de. Auf Deutsch frei über­setzt heißt „par­ti­ci­pa­ti­on“ „Mit­be­stim­mung“. Es zeugt für die wohl bekann­te poli­ti­sche Unrei­fe des west­deut­schen Bür­ger­tums, daß eine For­mel, die anders­wo als der letz­te Schutz­wall vor dem Ver­lust der Unter­neh­mer­au­tori­tät in Betrieb, Wirt­schaft und Staat erkannt ist, in der BRD noch als eine zu bekämp­fen­de teuf­li­sche Gefahr beschwo­ren wird. Denn um einen sol­chen Schutz­wall han­delt es sich zwei­fels­oh­ne. Nach­dem brei­te­re Tei­le der west­eu­ro­päi­schen Arbei­ter­schaft in der Tat bewie­sen haben, daß weder über­ta­rif­li­che Vor­tei­le auf Betriebs­ebe­ne, noch wach­sen­de Inte­gra­ti­on der Gewerk­schafts­spit­zen in den bür­ger­li­chen Staats­ap­pa­rat sie davon abhal­ten kön­nen, peri­odisch in gro­ßen explo­si­ons­ar­ti­gen Kämp­fen den Fort­be­stand der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se objek­tiv in Fra­ge zu stel­len, wol­len nun die spät­ka­pi­ta­lis­ti­schen Groß­kon­zer­ne West­eu­ro­pas ihr his­to­ri­sches Ziel der letz­ten Jahr­zehn­te – sys­te­ma­ti­sches Abwie­geln des pro­le­ta­ri­schen Klas­sen­kamp­fes und sys­te­ma­ti­sches Ver­schüt­ten des pro­le­ta­ri­schen Klas­sen­be­wußt­seins – auf einem neu­en Weg errei­chen: dadurch, daß den Gewerk­schaf­ten „Mit­be­stim­mung“ an der natio­na­len Len­kung der Wirt­schaft und Mit­ver­ant­wor­tung an der Wirt­schafts­lei­tung auf Betriebs­ebe­ne ver­lie­hen wird.

Das Manö­ver ist so plump, daß es kei­ne Erfolgs­chan­cen hät­te, wenn nicht bedeu­ten­de Tei­le der Gewerk­schafts­füh­rung selbst in die­ser Fra­ge sol­che Ver­wir­rung in den Köp­fen der Lohn­ab­hän­gi­gen gesät hät­ten, daß man­chem von ihnen das Unter­neh­mer­ma­nö­ver als eine Arbei­tererrun­gen­schaft erscheint. Das Manö­ver ist plump, denn genau­so wie die „kon­zer­tier­te Akti­on“, die „Ein­kom­mens­po­li­tik“ und die „sozia­le Pro­gram­mie­rung“ ver­sucht es, die unter­schied­li­che Klas­sen­la­ge, in der sich Käu­fer und Ver­käu­fer der Ware Arbeits­kraft in der bür­ger­li­chen Gesell­schaft befin­den, zu ver­schlei­ern. Da der Arbei­ter weder über Reich­tum noch über die dem Reich­tum ent­sprin­gen­de Wirt­schafts­macht ver­fügt, kann sein Lohn prä­zi­se durch Unter­neh­mer und Regie­rung fest­ge­setzt, kann die Lohn­steu­er an der Quel­le sofort und total erfaßt, kann – mit Aus­nah­me der Wir­kung der bösen „wil­den Streiks“ – auch die gesamt­ge­sell­schaft­li­che Lohn­sum­me exakt im Vor­aus fest­ge­legt wer­den. Aber genau­so wie es bis­her in der Geschich­te noch kei­ner bür­ger­li­chen Regie­rung, auch unter Andro­hung schwers­ter Stra­fen – man den­ke an das Nazi­re­gime – gelun­gen ist, Prei­se und Gewin­ne ein­zu­frie­ren, so kann es kei­nem „Mit­be­stim­mungs­gre­mi­um“ oder „mit­be­stim­men­den“ Ver­wal­tungs­rat gelin­gen, die Geset­ze der kapi­ta­lis­ti­schen Kon­kur­renz und der Kapi­tal­ver­wer­tung aus­zu­schal­ten, zu ver­hin­dern, daß es zu peri­odi­schen Wirt­schafts­schwan­kun­gen kommt, zu ver­hin­dern, daß Unter­neh­mer durch die Kon­kur­renz gezwun­gen wer­den, peri­odisch stren­ge Ratio­na­li­sie­rungs­maß­nah­men zu tref­fen, Ent­las­sun­gen oder Kurz­ar­beit ein­zu­füh­ren, den Arbeits­rhyth­mus zu stei­gern, die Aus­beu­tung der Arbeits­kraft zu ver­stär­ken usw. usf. Mit­be­stim­mung und Mit­ver­ant­wor­tung, bei gleich­zei­ti­gem Bei­be­hal­ten des Pri­vat­ei­gen­tums und pro­fit­ori­en­tier­ten Wirt­schafts­ge­fü­ges, bedeu­tet daher unver­meid­lich Mit­be­stim­mung und Mit­ver­ant­wor­tung für die­se Blü­ten kapi­ta­lis­ti­scher Produktionsweise.

Arbeiter-„Vertreter“, die dazu bereit sind, müs­sen unwei­ger­lich mit den unmit­tel­ba­ren Inter­es­sen ihrer Man­dan­ten zusam­men­sto­ßen, ja sich in Ver­tre­ter der „Betriebs-“ (d. h. der Kapi­tal-) Inter­es­sen gegen die Arbei­ter­schaft ver­wan­deln. Es ist schwer, irgend­wo auf die­sem Wege halt­zu­ma­chen und zu sagen: bis hier­hin und nicht wei­ter. Haben wir nicht bei den jüngs­ten „wil­den“ Streiks der Gewerk­schafts­be­we­gung ent­stam­men­de „Arbeits­di­rek­to­ren“ gese­hen, die als ech­te Unter­neh­mer-Scharf­ma­cher ver­such­ten, die „auf­wieg­le­ri­schen Ele­men­te“ aus den Betrie­ben zu ent­fer­nen, ja sogar jeg­li­che Kon­zes­si­on an die Strei­ken­den und jeg­li­che Ver­hand­lung mit ihnen abzu­leh­nen, sogar zu einem Zeit­punkt wo die Unter­neh­mer selbst bereits eine viel „gemä­ßig­te­re“ Spra­che führten?

Gefahr der gewerk­schaft­li­chen Selbstaufgabe
Eine sich nicht nur in den bür­ger­li­chen Staats­ap­pa­rat, son­dern sogar in die täg­li­che Betriebs­füh­rung des Kapi­ta­lis­mus inte­grie­ren­de Gewerk­schaft wäre kei­ne „sys­tem­kon­for­me“ Gewerk­schaft, sie wür­de rasch auf­hö­ren, über­haupt noch eine wirk­li­che Gewerk­schaft zu sein. Die Lohn­ab­hän­gi­gen wür­den kei­ner­lei Grund mehr erken­nen, sol­chen Arbeits­kon­trol­leu­ren und Arbeits­di­rek­to­ren noch Tei­le des schwer erar­bei­te­ten Loh­nes in Form von frei­wil­li­gen Bei­trä­gen zuzu­schan­zen. Ein Trend zum Mit­glie­der­schwund wür­de in gro­ßem Stil ein­set­zen (man stu­die­re z. B. die Fluk­tua­ti­on eini­ger sol­cher „sys­tem­kon­for­mer“ Gewerk­schaf­ten in den USA, wie des Berg­ar­bei­ter­ver­ban­des, wäh­rend der letz­ten Jah­re!). Da die Unter­neh­mer kei­ner­lei Inter­es­se dar­an hät­ten, der Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie finan­zi­el­le Schwie­rig­kei­ten im Tausch für die enge Zusam­men­ar­beit zu ver­ur­sa­chen, wür­de man einem Sys­tem der zwangs­mä­ßi­gen Erhe­bun­gen von Gewerk­schafts­bei­trä­gen „an der Quel­le“ durch die Unter­neh­mer selbst – sozu­sa­gen einem Sys­tem von „Lohn­steu­er zwei­ten Gra­des“ – zustre­ben, wie es für die spa­ni­schen „ver­ti­ka­len Gewerk­schaf­ten“ gilt. Am End­punkt eines sol­chen Ent­ar­tungs­pro­zes­ses hät­te die Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie auf­ge­hört, eine Büro­kra­tie selb­stän­di­ger Arbei­ter­or­ga­ni­sa­tio­nen zu sein. Sie wäre nur noch ein beson­de­rer Bestand­teil der staat­li­chen Ver­wal­tungs­bü­ro­kra­tie, die für die spät­ka­pi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft die lei­der zu unbe­re­chen­ba­ren Taten nei­gen­de und explo­si­ons­an­fäl­li­ge Ware „Arbeits­kraft“ zu ver­wal­ten hät­te, so wie ande­re Tei­le die­ser Büro­kra­tie Züge, Auto­bah­nen, Brief­mar­ken, Hoch­schu­len und Pan­zer verwalten.
Glück­li­cher­wei­se sind wir noch weit davon ent­fernt, an die­sem Schluß­punkt des Pro­zes­ses ange­langt zu sein. Nur die ers­ten zögern­den Schrit­te in Rich­tung auf die­se Selbst­ver­leug­nung und Selbst­auf­he­bung der frei­en Gewerk­schafts­be­we­gung wur­den bis­her in West­eu­ro­pa unter­nom­men. Und alles spricht dafür, daß die bewuß­te­ren, radi­ka­le­ren und kämp­fe­ri­schen Tei­le der west­eu­ro­päi­schen Arbei­ter­schaft die­sen Pro­zeß recht­zei­tig umkeh­ren wer­den. Die­se Umkeh­rung ist je- doch auf die Dau­er nur mög­lich, wenn die Gewerk­schafts­be­we­gung ihre Hal­tung zum Pro­blem der inne­ren Gewerk­schafts­de­mo­kra­tie, zum Pro­blem der neu­en, aus der spe­zi­fi­schen Lage des Spät­ka­pi­ta­lis­mus erwach­se­nen Auf­ga­ben und zum sozia­lis­ti­schen End­ziel der Arbei­ter­be­we­gung gründ­lich über­holt und neugestaltet.

Mit der Zen­tra­li­sa­ti­on des Kapi­tals hat auch eine andau­ernd wach­sen­de Zen­tra­li­sa­ti­on der Gewerk­schaf­ten Schritt gehal­ten. Es ist dies ein sehr wider­spruchs­vol­ler und zwie­späl­ti­ger Pro­zeß. Gewerk­schaf­ten sind, anders als Par­tei­en, kei­ne Orga­ni­sa­tio­nen von Gleich­ge­sinn­ten, kei­ne Ver­bän­de die nur Werk­tä­ti­ge ver­ei­ni­gen, die auf einer bestim­men pro­gram­ma­ti­schen Basis ste­hen und ein bestimm­tes his­to­ri­sches Ziel ver­wirk­li­chen wol­len. Sie sind im Prin­zip Ver­tre­ter der unmit­tel- baren mate­ri­el­len Inter­es­sen all derer, die gezwun­gen sind, ihre Arbeits­kraft zu ver­kau­fen. Aber auch der Anschluß an Gewerk­schaf­ten erfor­dert ein Min­dest­maß an ele­men­ta­rem Klas­sen­be­wußt­sein, das wenigs­tens in den grö­ße­ren Län­der des Wes­tens bis­her immer nur eine Min­der­heit von Lohn­ab­hän­gi­gen erreicht hat.

Die Zen­tra­li­sa­ti­on der Gewerk­schaf­ten erlaubt es des­halb, der zen­tra­len wirt­schaft­li­chen Macht des Groß­ka­pi­tals mehr Macht ent­ge­gen­zu­stel­len, als iso­lier­te Lohn­ab­hän­gi­ge einer Werk­statt, eines Betrie­bes, einer Stadt oder eines Indus­trie­re­viers nor­ma­ler­wei­se vor­zei­gen könn­ten. Sie ist des­halb eine not­wen­di­ge Waf­fe im Klas­sen­kampf, die vor allem den Schwä­che­ren, den weni­ger Orga­ni­sier­ten oder den durch eine beson­de­re Wirt­schafts­la­ge zu ungüns­ti­gen Aus­gangs­be­din­gun­gen beim Aus­han­deln des Arbeits­lohns Ver­ur­teil­ten zugu­te­kommt. Für eine Auf­he­bung der gewerk­schaft­li­chen Zen­tra­li­sa­ti­on zu agie­ren, wäre letz­ten Endes nur zuguns­ten der Kapitalistenklasse.

Inner­ge­werk­schaft­li­che Demokratie
Aber die­sel­be Zen­tra­li­sa­ti­on, die es den schwä­che­ren Lohn­ab­hän­gi­gen erlaubt, güns­ti­ge­re Lohn- und Arbeits­be­din­gun­gen aus­zu­han­deln als sie selbst errei­chen könn­ten, droht, sich gegen die Kämp­fe­ri­schen und Radi­ka­le­ren zu wen­den, sobald ein gewerk­schaft­li­cher Appa­rat büro­kra­tisch ver­formt und ver­selb­stän­digt ist. Sie droht die gesam­te Grund­la­ge der Gewerk­schaf­ten zu unter­gra­ben, wenn sie zu einer sys­te­ma­ti­schen Pas­si­vi­tät der Gewerk­schafts­mit­glie­der ent­ar­tet, weil ein immer klei­ne­rer Kreis von Funk­tio­nä­ren die zen­tra­len Ent­schei­dun­gen trifft – ein­schließ­lich der Kom­pro­mis­se bei Tarif­ver­hand­lun­gen – ohne eine brei­te Schicht von Akti­vis­ten in den Ent­schei­dungs­pro­zeß einzuschalten.

Die über­mä­ßi­ge Zen­tra­li­sa­ti­on der gewerk­schaft­li­chen Ent­schei­dungs­ge­walt ist umso gefähr­li­cher, als gera­de die Wei­ge­rung leben­di­ger Gewerk­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen, sich der „Ein­kom­mens­po­li­tik“, der „sozia­len Steue­rung“ und der „kon­zer­tier­ten Akti­on“ auf Dau­er zu fügen, peri­odisch zu schar­fen, von den Unter­neh­mern orches­trier­ten Kam­pa­gnen gegen die „über­mä­ßi­ge Macht der Gewerk­schaf­ten“ führt (wie dies in Groß­bri­tan­ni­en in den Jah­ren 1967 und 1968 der Fall war), und die­se sol­che Kam­pa­gnen nur dann erfolg­reich über­ste­hen kön­nen, wenn sie über die frei­wil­li­ge und begeis­ter­te Unter­stüt­zung von Tau­sen­den und Aber­tau­sen­den von akti­ven Mit­glie­dern verfügen.

Es ist kein Zufall, daß die sonst ach so stark auf „Demo­kra­tie“ ein­ge­schwo­re­ne bür­ger­li­che öffent­li­che Mei­nung den Gewerk­schaf­ten noch mehr Zen­tra­li­sa­ti­on auf­drän­gen möch­te, indem sie der Füh­rung vor­wirft, sie las­se der „anar­chis­ti­schen Zügel­lo­sig­keit“ der Betriebs­ka­der, etwa in Län­dern wie Groß­bri­tan­ni­en und Ita­li­en, zu viel Spiel­raum. Die Unter­neh­mer möch­ten ger­ne, daß die Gewerk­schafts­ap­pa­ra­te selbst die, von ihrem Stand­punkt aus gese­hen, unum­gäng­li­che „Säu­be­rung“ der Betrie­be durch­füh­ren. Wehe der Gewerk­schaft, die sich zu die­sem Kurs ent­schlie­ßen wür­de; ihre gewerk­schaft­li­che Sub­stanz wür­de schnell schwinden.

Das ein­zi­ge Mit­tel, um die Aus­wüch­se der gewerk­schaft­li­chen Zen­tra­li­sa­ti­on zu ver­mei­den, ist brei­tes­te inner­ge­werk­schaft­li­che Demo­kra­tie. Dies bedeu­tet nicht nur die Pflicht, vor jeder bedeu­ten­den Ent­schei­dung die Mit­glied­schaft und das Aktiv wei­test­ge­hend zu infor­mie­ren, zu befra­gen und beschlie­ßen zu las­sen, son­dern eben­falls das Recht von Min­der­hei­ten, sich zusam­men­zu­schlie­ßen, um auf Gewerk­schafts- tagen ihre Anstren­gun­gen wenigs­tens teil­wei­se eben­so gut koor­di­nie­ren zu kön­nen, wie dies der Appa­rat ver­mag. Es ist bezeich­nend, daß der gemä­ßig­te Flü­gel der Gewerk­schaf­ten die­ses Recht immer selbst­ver­ständ­lich für sich bean­sprucht, wenn er sich in einer Min­der­heits­po­si­ti­on befin­det oder fürch­tet, bald in eine sol­che Posi­ti­on ver­drängt zu wer­den, sei­ner­seits aber nicht bereit ist, einer radi­ka­len Min­der­heit das­sel­be Recht zuzu­ge­ste­hen, sobald sei­ne Kon­trol­le über die Orga­ni­sa­ti­on wie­der­um kon­so­li­diert ist. Die Gewerk­schaf­ten der Wei­ma­rer Repu­blik in den zwan­zi­ger Jah­ren, wie jene der CSSR in den Jah­ren 1968 und 1969, legen davon bered­tes Zeug­nis ab.

Oft wird sol­chen Gedan­ken­gän­gen ent­ge­gen­ge­hal­ten, daß die Gewerk­schafts­mit­glie­der selbst letz­ten Endes schuld sind an der wach­sen­den Macht der Appa­ra­te, weil sie Ver­samm­lun­gen nicht besu­chen, kei­ner­lei Akti­vi­tät an den Tag legen, und oft noch gemä­ßig­ter sind als der Appa­rat. Wir wol­len nicht ver­heh­len, daß ein Körn­chen Wahr­heit in die­sen Aus­füh­run­gen steckt – aber nur ein Körn­chen. Denn ers­tens zei­gen Ereig­nis­se immer wie­der, daß gele­gent­lich gro­ße Arbei­ter­mas­sen dem Gewerk­schafts­ap­pa­rat wie im Jah­re 1968 in Frank­reich und im Jah­re 1969 in Ita­li­en um tau­send Mei­len vor­an­ei­len, anstatt ihm nach­zu­hin­ken. Und zwei­tens gilt für die gewerk­schaft­li­che Akti­vi­tät, was für das Schwim­men gilt: Man kann es nur erler­nen, wenn man irgend­wann ins Was­ser springt, d. h. zur Pra­xis über­geht. Die­je­ni­gen, die der Arbei­ter­mas­se vor­wer­fen, sie zei­ge zu wenig gewerk­schaft­li­che Akti­vi­tät, soll­ten sich die Fra­ge stel­len, was sie denn unter­nom­men haben, um die­se Mas­se zur Selbst­in­itia­ti­ve, zur Selbst­ak­ti­vi­tät und Selbst­ent­schei­dung zu erzie­hen. Nur eine Gewerk­schafts­stra­te­gie, die sys­te­ma­tisch auf eine sol­che Erzie­hung in der täg­li­chen Kampf­pra­xis aus­ge­rich­tet ist, kann eine auf­stei­gen­de Linie in der Gewerk­schafts­tä­tig­keit brei­ter Mas­sen erzeu­gen. Eine Gewerk­schafts­stra­te­gie, die der Mas­se der Mit­glie­der jede Mög­lich­keit und jedes Gefühl, daß sie selbst Initia­ti­ve im Kampf ergrei­fen kann, nimmt, kann nur eine Kom­bi­na­ti­on wach­sen­der gewerk­schaft­li­cher Pas­si­vi­tät und peri­odi­scher Explo­sio­nen außer­halb des Rah­mens der Gewerk­schaf­ten erzeugen.

Arbei­ter­kon­trol­le über die Produktion
Eine auf akti­ve Initia­ti­ve der Basis im Klas­sen­kampf aus­ge­rich­te­te Gewerk­schafts­stra­te­gie ist aber auch die Ein­zi­ge, die den neu­en Auf­ga­ben ent­spricht, die der Gewerk­schafts­be­we­gung aus der jet­zi­gen Ent­wick­lungs­pha­se des Kapi­ta­lis­mus erwach­sen. Wir sag­ten bereits, daß sich immer mehr Arbei­ter- kämp­fe spon­tan in Rich­tung auf ein Infra­ge­stel­len der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se bewe­gen. Die Stra­te­gie, die die­ser spon­ta­nen Ten­denz ent­spricht, ist jene der Arbei­ter­kon­trol­le über die Pro­duk­ti­on. Im Gegen­satz zur „Mit­be­stim­mung“ geht die Stra­te­gie der Arbei­ter­kon­trol­le über die Pro­duk­ti­on davon aus, daß Tarif­au­to­no­mie der Gewerk­schaf­ten einer­seits und Mit­ver­ant­wor­tung für die Pro­fit­ma­xi­mie­rung der Betrie­be und Kon­zer­ne ande­rer­seits, daß Ver­tei­di­gung der Inter­es­sen der Lohn­ab­hän­gi­gen einer­seits und das sich den Bewe­gungs­ge­set­zen der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se Fügen ande­rer­seits grund­le­gend unver­ein­bar sind. Sie for­dert des­halb Kon­troll- und Veto-Rech­te für Lohn­ab­hän­gi­ge, nicht aber Mit­ver­ant­wor­tung für die Ver­wal­tung kapi­ta­lis­ti­scher Betrie­be und kapi­ta­lis­ti­scher Wirtschaft.

Arbei­ter­kon­trol­le im Kapi­ta­lis­mus, Mit­be­stim­mung im Sozia­lis­mus“ – in die­se knap­pe For­mel hat der ver­stor­be­ne stell­ver­tre­ten­de Gene­ral­se­kre­tär des bel­gi­schen Gewerk­schafts­bun­des FGTB, André Renard, die gewerk­schaft­li­che Dok­trin in die­sem Sach­be­reich zusam­men­ge­faßt. Sie scheint uns völ­lig zuzutreffen.

Arbei­ter­pro­duk­ti­ons­kon­trol­le erfor­dert aber weit­ge­hen­de Initia­ti­ve auf der Ebe­ne des Kon­zerns und des Betriebs, ja sogar auf der Ebe­ne der Werk­statt und jedes Fließ­ban­des. Der Kampf um Arbei­ter­kon­trol­le über die Pro­duk­ti­on schafft Keim­for­men der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on aller Lohn­ab­hän­gi­gen am Arbeits­platz, wie dies heu­te am Bei­spiel des größ­ten Betrie­bes West­eu­ro­pas, der Turi­ner FIAT-Wer­ke, erst­ma­lig seit Jahr­zehn­ten wie­der der Fall ist. Einen sol­chen Dele­gier­ten-Kör­per in die Gewerk­schafts­or­ga­ni­sa­ti­on reinte­grie­ren und gar gesetz­lich unter­mau­ern zu wol­len, heißt, sei­ne Eigen­art völ­lig zu ver­ken­nen. Es han­delt sich viel­mehr um eine Erwei­te­rung des Tätig­keits­fel­des der Werk­tä­ti­gen im Betrieb, die sich nicht mehr auf Tarif­ver­hand­lun­gen beschrän­ken und durch das Ergeb­nis die­ser Ver­hand­lun­gen ein­schrän­ken las­sen wol­len. Die­se Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der Werk­tä­ti­gen am Arbeits­platz muß völ­li­ge Auto­no­mie bewah­ren, um zum Zuge zu kom­men; sie ist Keim­form eines Sys­tems von Dop­pel­herr­schaft auf Betriebs­ebe­ne, die ihrer­seits nur Keim­form einer Räte­ord­nung sein kann. Dar­in liegt ihre Beson­der­heit und ihre Auf­ga­be. Aber sie kann und wird auf die Tätig­keit der Gewerk­schafts­mit­glie­der im Betrieb rück­wir­ken, deren Akti­vi­tät sti­mu­lie­ren, und die gewerk­schaft­li­che Demo­kra­tie för­dern, solan­ge sie Aus­druck einer wach­sen­den Anteil­nah­me der Mas­se der Lohn­ab­hän­gi­gen an den wirt­schaft­li­chen und gesell­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen bleibt.

Inter­na­tio­na­le gewerk­schaft­li­che Solidarität
In die­sel­be Rich­tung einer geschmei­di­ge­ren Arti­ku­la­ti­on von Zen­tra­li­sie­rung und inner­ge­werk­schaft­li­cher Demo­kra­tie drängt auch eine ande­re neue Auf­ga­be, die den Gewerk­schaf­ten aus der Ent­wick­lung des Spät­ka­pi­ta­lis­mus zukommt: jene der stär­ke­ren inter­na­tio­na­len Zusam­men­ar­beit und Inte­gra­ti­on. Im Zeit­al­ter des mul­ti­na­tio­na­len Kon­zerns ist dies das ein­zi­ge Mit­tel, um der raschen Auf­trags­ver­le­gung von Land zu Land, des raschen Gegen­ein­an­der-Aus­spie­lens von Werk­tä­ti­gen mit rela­tiv gerin­ge­ren Löh­nen gegen Werk­tä­ti­ge mit rela­tiv höhe­ren Löh­nen sei­tens die­ser inter­na­tio­na­len Kon­zer­ne wenigs­tens teil­wei­se zu ent­ge­hen. Bis­her haben die gro­ßen Gewerk­schafts­ap­pa­ra­te in der Fra­ge der inter­na­tio­na­len Akti­on völ­lig ver­sagt. Man war­tet immer noch auf den ers­ten euro­päi­schen Streik, wo es bereits so vie­le euro­päi­sche Kon­zer­ne gibt. Und wenn die Arbei­ter eines sol­chen Kon­zerns in einem Lan­de strei­ken, oder die Strei­ken­den eines Indus­trie­zwei­ges durch rasches Her­bei­füh­ren kon­kur­rie­ren­der Ware aus einem Nach­bar­land in der Wirk­sam­keit ihres Streiks schwer gestört wer­den, dann hat bis­her die mil­lio­nen­star­ke „offi­zi­el­le“ Gewerk­schafts­be­we­gung weni­ger für inter­na­tio­na­le Soli­da­ri­tät erreicht als klei­ne radi­ka­le Minderheitsgruppen.

Eine sol­che inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit und Inte­gra­ti­on ist jedoch undenk­bar auf der Ebe­ne der orga­ni­sa­to­ri­schen Zen­tra­li­sa­ti­on: Hier muß gleich­zei­tig auf Kon­zern- und Betriebs­ebe­ne und auf der Ebe­ne von Dach­ver­bän­den gehan­delt wer­den. Und hier hat die Gewerk­schafts­be­we­gung die Pflicht, mit dem eige­nen erzie­he­ri­schen Bei­spiel vor­an­ge­hend zu bewei­sen, daß die The­se, es gebe in der heu­ti­gen Welt über­haupt kein Mit­tel, um durch tech­ni­schen Fort­schritt beding­te Zen­tra­li­sie­rung mit wach­sen­der Selbst­tä­tig­keit und Selbst­be­stim­mung aller Men­schen zu ver­knüp­fen, nur der bür­ger­li­chen und der büro­kra­ti­schen Logik, kei­nes­wegs aber der Wirk­lich­keit entspricht.

Ein kon­ser­va­ti­ver bri­ti­scher Tech­no­krat, Micha­el Rose, spricht die Befürch­tung aus, die Ver­all­ge­mei­ne­rung kyber­ne­ti­scher Lenk­sys­te­me in Wirt­schaft und Staat kön­ne zu einer gewal­ti­gen Kon­zen­tra­ti­on an Ent­schei­dungs­ge­walt in weni­gen Hän­den füh­ren, gegrün­det auf das Mono­pol des Zugangs zu der so ange­häuf­ten Infor­ma­ti­ons­mas­se.1 Meh­re­re bür­ger­li­che Natio­nal­öko­no­men haben den Gedan­ken geäu­ßert, daß in spä­tes­tens fünf­zehn Jah­ren etwa 200 inter­na­tio­na­le Groß­kon­zer­ne die Wirt­schaft der „frei­en Welt“ beherr­schen wür­den. Daß ihnen das Para­dox ver­bor­gen bleibt, das dar­in liegt, eine durch sol­che Kon­zen­tra­ti­on von Wirt­schafts­macht gekenn­zeich­ne­te Welt noch „frei“ zu nen­nen, zeugt nur für die so typi­sche Pro­blem­blind­heit die­ser bür­ger­li­chen Nationalökonomen.

Eine „frei­heit­lich-demo­kra­ti­sche Ord­nung“, in der tat­säch­lich alle gro­ßen stra­te­gi­schen Ent­schei­dun­gen, die das Wirt­schafts- und Gesell­schafts­le­ben brei­ter Mas­sen bestim­men, durch die­se Mas­sen selbst getrof­fen wer­den, in der sich der Zugang zu allen wich­ti­gen Infor­ma­ti­ons- und Wis­sens­quel­len ver­all­ge­mei­nert, wo also Zen­tra­li­sie­rung der Tech­nik mit wei­tes­ter Dezen­tra­li­sie­rung der Ent­schei­dungs­pro­zes­se ver­bun­den wird, ist nur mög­lich auf­grund des Gemein­ei­gen­tums an Pro­duk­ti­ons­mit­teln und ihrer Ver­wal­tung durch demo­kra­tisch-zen­tra­lis­ti­sche, d. h. geplan­te Selbst­ver­wal­tung von Pro­du­zen­ten und Konsumenten.

Die Gewerk­schaf­ten wer­den ihre aus der letz­ten Ent­wick­lung des Spät­ka­pi­ta­lis­mus ent­sprun­ge­nen Auf­ga­ben nur lösen kön­nen, wenn sie sich wie­der voll durch die­ses sozia- lis­ti­sche End­ziel, das noch nie so rele­vant war wie heu­te, in ihrer täg­li­chen Pra­xis len­ken las­sen. „Sys­tem­kon­for­me“ Gewerk­schaf­ten kann es im Spät­ka­pi­ta­lis­mus nicht geben. „Sys­tem­kri­ti­sche“ Gewerk­schaf­ten aber erfor­dern bewuß­te Sozia- lis­ten an ihrer Spitze.


Fuß­no­te
1 Micha­el Rose, Com­pu­ters, Mana­gers and Socie­ty, Pen­gu­in Books, 1969, S. 252 - 257 ff.

Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar März 2023
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