„Händedruck statt Streik“
H. N.
So überschrieb jedenfalls sehr treffend die FAZ vom 19. November 2022 ihren Bericht am Tag nach dem Pilotabschluss in Baden-Württemberg.
Die IG Metall (IGM) spricht von einem „Paket aus dauerhaften Entgeltsteigerungen um insgesamt 8,5 Prozent sowie Inflationsausgleichsprämien von 3.000 Euro in zwei Stufen“. Der Erste Vorsitzende der IGM, Jörg Hofmann, redete sogar von einer „spürbare[n] Entlastung angesichts der gestiegenen Preise“.
Für Facharbeiter in der „Eckentgeltgruppe“ EG 7 gebe es über die Laufzeit von 24 Monaten rund 7.000 Euro mehr. Davon seien 4.000 Euro dauerhaft und 3.000 Euro „steuer- und abgabenfrei“.
Die erste Stufe der „Inflationsausgleichsprämie“ von 1.500 Euro netto (Auszubildende 550 Euro) soll bis Ende Februar 2023 ausgezahlt werden, die zweite in gleicher Höhe Anfang 2024.
Etliche Schwachpunkte
Der Haken bei der Sache ist, dass dieses Geld nicht zu einer tabellenwirksamen, dauerhaften Erhöhung der Entgelte führt. Zudem entpuppt sich der scheinbare kurzfristige Vorteil der Steuer- und Abgabenbefreiung als langfristiger Nachteil. Er führt nämlich zu Minderungen bei der Berechnung der Sozialleistungen für die Beschäftigten (Krankengeld, Arbeitslosengeld, Rente …). Dagegen sparen die Kapitalisten ihre entsprechenden „Arbeitgeberanteile“.
Im Juni 2023 steigen die tabellenwirksamen Tarifentgelte um 5,2 %, im Mai 2024 um weitere 3,3 %. Die Laufzeit des Tarifvertrags endet am 30. September 2024.
Nur wer genau nachrechnet und sich für die Folgen dieses Abschlusses interessiert (siehe die Beispielrechnung im Kasten), wird nicht zufrieden sein.
Die aktuellen Entgelttabellen gelten nämlich seit dem 1. April 2018 unverändert und werden erst im Juni 2023 wieder erhöht. Das heißt, es gibt dann seit 62 Monaten einen massiven Reallohnverlust, der durch die jetzige Rekordinflation noch verstärkt wird.
Lange Laufzeit
Durch die lange Laufzeit des neuen Tarifvertrags ist ein kurzfristig erforderlicher Lohnnachschlag für ein Linsengericht verkauft worden. Das ist einer der Hauptfehler des jetzigen Abschlusses.
Die IGM-Führung hat schon vor der „heißen“ Phase der Tarifrunde erklärt, dass Tarifpolitik allein nicht die Reallohnverluste durch die galoppierende Inflation ausgleichen könne. Es sei auch politisches Handeln erforderlich. Das ist nicht falsch, wurde aber letztlich als Hilfsargument für das Akzeptieren eines „gedämpften“ Reallohnverlustes missbraucht.
Zudem gibt es keine massenhafte politische Mobilisierung der IGM (und der anderen Gewerkschaften) auf den Straßen und in den Betrieben gegen die Ursachen der Preistreiberei. Die Kosten des aktuellen Krisenknäuels müssen endlich durch die immer größeren Vermögen der Reichen und Superreichen sowie die Rekordgewinne der Konzerne gedeckt werden. Das ist aber nur gegen die Ampel-Regierung und die geballte Macht des Kapitals zu erreichen.
Im Unterschied zu den Gewerkschaften verfolgen die Kapitalverbände sehr konsequent ihre strategischen Projekte. Neben der weiteren Flexibilisierung der Arbeitszeiten und der Entgelte ist das die weitere Schwächung der Flächentarifverträge und der verbliebenen Gegenmacht der Gewerkschaften.
Strategische Streikvermeidung
Der Klassenkampf von oben und das aggressive Vorgehen von Gesamtmetall in der Tarifrunde 2022 belegen, dass die IG Metall mit ihrer anhaltenden Strategie der Streikvermeidung sich letztendlich selbst schwächt.
Die großen Warnstreikwellen mit bundesweit über 900.000 Metallerinnen und Metallern haben erst Bewegung in die Tarifverhandlungen gebracht. Vor allem die Kernschichten der IGM in der Produktion waren zu mehr bereit.
Der „letzte Versuch für eine Verhandlungslösung“ am 17. November in Ludwigsburg war begleitet von der Ankündigung der IGM, dass im Falle des Scheiterns zu 48-Stundenstreiks und danach in mehreren Bezirken zur Urabstimmung und unbefristetem Streik aufgerufen werde.
Das brachte zwar in letzter Minute ein (schwaches) Verhandlungsergebnis, vor allem aber blieb erneut eine große Chance ungenutzt. Ein Erzwingungsstreik hätte das Kräfteverhältnis zuguns- ten der Gewerkschaft geändert. Er hätte endlich wieder dringend notwendige Kampferfahrungen ermöglicht und dadurch das Selbstbewusstsein von zehntausenden Metallerinnen und Metallern gestärkt.
Wie heißt es doch: Nur wer konsequent kämpft, kann gewinnen. Wer nicht oder nur halbherzig kämpft, hat schon verloren.