Helmut Dahmer
Trotzki wurde 1929 aus der Sowjetunion verbannt, durch den Stalinschen Propaganda-Apparat zu einer Art konterrevolutionärem Dämon stilisiert und einer damnatio memoriae [völligen Auslöschung des Andenkens] unterworfen. Diffamierung und Tabuierung von Person und Werk wirken bis heute nach, und darum ist es angebracht, den Berufsrevolutionär zunächst mit wenigen Sätzen vorzustellen.
Trotzki war Internationalist, Literat und Revolutionshistoriker. Unter den marxistischen Revolutionären seiner Zeit war er sowohl wegen seines Interesses für die Literatur als auch wegen seines Interesses für die Psychoanalyse eine Ausnahme. An der Freudschen Psychologie des Unbewussten interessierten ihn deren Grundlagen: die Kulturkritik, das Deutungsverfahren und die Metapsychologie; ihrer therapeutischen Nutzanwendung gegenüber war er skeptisch.1
In der russischen Revolution von 1905 erwies er sich – wie 12 Jahre später in der Revolution des Jahres 1917 – als der bedeutendste Redner (in Massenversammlungen oder vor Gericht) und als Inspirator des Petersburger Arbeiterrats. Im Herbst 1917 organisierte er den bolschewistischen Aufstand gegen die „Provisorische Regierung“, im Frühjahr 1918 die Rote Armee, die er zum Sieg im Bürgerkrieg führte. Im Herbst 1923 bildete er die „Linke Opposition“ gegen die Stalinsche Konterrevolution, wurde 1927 aus der bolschewistischen Partei ausgeschlossen, außer Landes geschafft und 1940 in seinem mexikanischen Exil von einem Auftragsmörder des NKWD, der Stalinschen Geheimpolizei, ermordet.
In den dreißiger Jahren war er der einzige Soziologe, der sowohl die faschistische Bewegung und die Hitler-Diktatur in Deutschland als auch die Entwicklung der Sowjetunion zur Stalin-Despotie in einer Serie von Publikationen, die in viele Sprachen übersetzt wurden, analysierte.
Dass er nach seiner zweiten Flucht aus Sibirien in den Jahren 1907-14 als Emigrant in Wien lebte, ist wenig bekannt, dass er zu den seltenen Revolutionären gehörte, die sich für die Freudsche Psychoanalyse interessierten und sie verteidigten, noch weniger. Die Marxsche Theorie hatte er in „unorthodoxer“ Überlieferung kennengelernt, nämlich durch die Schriften des italienischen Hegelianer-Marxisten Antonio Labriola, der lehrte, dass Literatur und Psychologie für das Verständnis von Gesellschaft und Politik wesentlich seien.2
In Wien gab Trotzki Ende 1908-1912 eine eigene Zeitschrift, die Prawda, heraus, die unregelmäßig in einer Auflage von ein paar Tausend Exemplaren erschien und nach Russland geschmuggelt wurde. Trotzki trat darin (in einfacher Sprache) für eine Wiedervereinigung der zerstrittenen Fraktionen der russischen Sozialdemokratie ein und propagierte seine Vorstellung vom Verlauf der kommenden zweiten russischen Revolution. Zu den Mitarbeitern der Prawda gehörten unter anderen Rjasanow, Uritzki und Adolf Joffe, der ihn mit seinem Therapeuten Alfred Adler und dessen Frau Raissa bekanntmachte.3 Joffe und Raissa Adler teilten Trotzkis politische Ansichten und gehörten lebenslang zu seinen Freunden; Raissa Adler übersetzte – wie Alexandra Ramm-Pfemfert in Berlin – viele seiner Texte ins Deutsche. Durch Joffe und die beiden Adlers wurde er zuverlässig über Freud, seinen Kreis und seine Schriften informiert.4 Trotzki lebte von seiner Feder und schrieb unermüdlich nicht nur für Partei-Zeitschriften (wie Die Neue Zeit oder Der Kampf), sondern auch etwa für die Tageszeitung Kiewskaja Mysl („Kiewer Gedanke“), „die im Süden verbreitetste radikale Zeitung marxistischer Färbung“5, die ihn während der Balkankriege 1912/13 als ihren Berichterstatter engagierte. Für diese Zeitschrift berichtete er auch regelmäßig über das kulturelle Leben in Wien (über neue Literatur, Kunstausstellungen etc.). In diesen vor 1914 geschriebenen Essays finden sich unverkennbare Spuren seiner Freud-Lektüren.
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Mein Interesse war es herauszufinden, was Trotzki an der Psychoanalyse fasziniert hat – und was das für unser Verständnis von Psychoanalyse besagt. Intuitiv erkannte er die strukturelle Verwandtschaft der Freudschen Kritik der zeitgenössischen Psychologien mit der Marxschen Kritik der ökonomischen Lehren seiner Zeit. Die beiden „kritischen Theorien“ entstanden auf der Suche ihrer Autoren nach einem Ausweg aus der „Kultur“ unserer Krisen- und Kriegsgesellschaft. Hören wir dazu Freud:
„Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.“6
Freuds biologischer und der Marxsche historische Materialismus hatten eine gemeinsame Wurzel: den hegelkritischen, anthropologischen Materialismus Ludwig Feuerbachs. Marx hatte das Rätsel des Tauschwerts (beziehungsweise des „Mehrwerts“) gelöst, Freud, dreißig Jahre später, das Rätsel der Neurosen und des Traums. Der eine kritisierte „obsolete“ Insti- tutionen der Gesellschaft (wie Privateigentum und Nationalstaat), der andere obsolete Institutionen der Lebensgeschichte (wie die „Privatreligionen“ der Hysteriker und Zwangsneurotiker). Beiden ging es darum, die Übermacht fetischisierter Institutionen zu brechen, den Wiederholungszwang, der auf dem Vergessen-Haben oder auf dem Vergessen-Machen ihrer Entstehung beruht. Ihr Projekt war, kurz und mit einer Formel Adornos gesagt: die „Anamnesis der Genese“ [„Erinnerung der Entstehung“]. Beide arbeiteten daran, den „Naturschein“ kollektiver und privater „Institutionen“ durch deren Historisierung aufzulösen, eine Historisierung in Gestalt einer dialogischen Rekonstruktion ihres Zustandekommens.
Trotzki hatte es, vom Antisemitismus7 abgesehen, mit drei weiteren Gesellschaftsrätseln zu tun: Zum einen mit dem Problem, wie die russische Gesellschaft sich von der Zarendespotie befreien und ihre Rückständigkeit überwinden könne, zum andern mit der Frage, wie es dazu kam, dass in der nachrevolutionären Sowjetunion binnen zwölf Jahren aus der Revolutionspartei von 1917 das kannibalische Stalin-Regime erwuchs (das in Friedenszeiten zwischen 15 und 25 Millionen Opfer verschlang), zum dritten, wie mehr als drei Dutzend bolschewistischer Führer nur zwanzig Jahre nach der Revolution in den von Stalin und Wyschinski gegen sie angestrengten Schauprozessen (der Jahre 1936-38) dazu gebracht wurden, zu gestehen, sie seien eigentlich „Volksfeinde“ (nämlich Konterrevolutionäre, Saboteure, Faschisten und Terroristen).
In den Jahren 1923-26 verteidigte er die Revolutionsliteraten8 und die materialistische Psychoanalyse gegenüber den neuen Partei-Ideologen und Zensoren, die drauf und dran waren, aus dem „Marxismus-Leninismus“ ein Instrument zur Abwehr von als „bürgerlich“, „idealistisch“ oder „westlich-imperialistisch“ diffamierten wissenschaftlichen oder literarischen Neuerungen zu schmieden.9 Zu Beginn der dreißiger Jahre beschäftigte ihn zum einen „Das deutsche Rätsel“ (des kampflosen Sieges der Nazis)10; zum andern kombinierte er in seiner Geschichte der Revolutionen des Jahres 1917 Hegels und Marxens Überlegungen zum Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Massenaktionen11 mit der von Freud in seiner Studie über den Witz entwickelten Theorie der schriftstellerischen, rhetorischen oder künstlerischen Innovation:
Der anti-konventionelle (oder subversive) Witz, hatte Freud über diese kleine oder „einfache“ literarische Form12 geschrieben, sei nicht intendiert, er habe vielmehr „in ganz hervorragender Weise den Charakter eines ungewollten ‚Einfalls’. […] Man verspürt etwas Undefinierbares, das ich am ehesten einer Absenz, einem plötzlichen Auslassen der intellektuellen Spannung vergleichen möchte, und dann ist der Witz mit einem Schlage da, meist gleichzeitig mit seiner Einkleidung. […] Ein vorbewusster Gedanke wird [dabei] für einen Moment der unbewussten Bearbeitung überlassen, und deren Ergebnis alsbald von der bewussten Wahrnehmung erfaßt.“13
In dem „An der Macht“ überschriebenen Kapitel seiner Autobiographie knüpfte Trotzki an diese Theorie der „Erleuchtung“ (Freud) oder „Inspiration“ (Nietzsche) an:
„Der Marxismus betrachtet sich als den bewußten Ausdruck des unbewußten geschichtlichen Prozesses. Aber [dieser] Prozeß trifft nur auf seinen höchsten Gipfeln mit seinem bewussten Ausdruck zusammen. […] Das höchste Bewusstsein der Epoche verschmilzt in solchen Augenblicken mit der unmittelbaren Handlung der zu tiefst unterdrückten und der Theorie am fernsten stehenden Massen. Die schöpferische Vereinigung des Bewußten mit dem Unbewußten ist das, was man gewöhnlich Inspiration nennt. Revolution ist rasende Inspiration der Geschichte.“14
1938 schließlich verteidigte Trotzki, abermals auf Freuds Inspirations-Theorie rekurrierend, gemeinsam mit dem Surrealisten und Freud-Kenner André Breton (sowie dem Muralisten Diego Rivera) die Autonomie und „Wahrheit“ der Kunst gegen deren Abschaffung in den beiden Menschenfresser-Staaten Hitlers und Stalins.
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In meinem Buch habe ich Trotzkis Bezugnahmen auf die Freudsche Psychoanalyse in seinen Schriften der Jahre 1908-1939 gesammelt und in ihrem jeweiligen politischen und biographischen Kontext interpretiert.
* [Dieser Text ist die schriftliche Fassung des Vortrags Helmut Dahmers zur Präsentation seines Buchs Trotzki, die Psychoanalyse und die kannibalischen Regime im Wiener Sigmund Freud-Museum am 4. Mai 2023.
Der Video-Mitschnitt des Vortrags kann auf youtube angesehen werden.]