Über Streik

(Ernest Man­del)

Ange­sichts der zuneh­men­den Angrif­fe der Herr­schen­den auf die Inter­es­sen der arbei­ten­den Klas­se ist es nicht nur sinn­voll, son­dern auch drin­gend erfor­der­lich, sich mit dem wich­tigs­ten Mit­tel der Gegen­wehr – dem Streik – zu befas­sen. Im Fol­gen­den ver­öf­fent­li­chen wir des­halb einen Aus­zug aus Ernest Man­dels Vor­wort zu der von ihm her­aus­ge­ge­be­nen und 1971 erschie­nen Text­samm­lung Arbei­ter­kon­trol­le, Arbei­ter­rä­te, Arbei­ter­selbst­ver­wal­tung.*

Demonstration am 3. Januar 1961 in Lüttich während des belgischen Generalstreiks. (Foto: Gemeinfrei.)

Demons­tra­ti­on am 3. Janu­ar 1961 in Lüt­tich wäh­rend des bel­gi­schen Gene­ral­streiks. (Foto: Gemeinfrei.)

Jeder umfas­sen­de­re Kampf der Arbei­ter, der über Sofort-[Forderungen] und kor­po­ra­ti­ve [unmit­tell­ba­re gewerk­schaft­li­che] Zie­le hin­aus­geht, wirft das Pro­blem von Orga­ni­sa­ti­ons­for­men des Kamp­fes auf, die im Keim die Infra­ge­stel­lung der kapi­ta­lis­ti­schen Herr­schaft ent­hal­ten. Der preu­ßi­sche Minis­ter von Putt­ka­mer hat­te nicht unrecht, als er den berühm­ten Satz aus­sprach: „Jeder Streik birgt die Hydra der Revo­lu­ti­on in sich.“

Ein Streik um öko­no­mi­sche Sofort­for­de­run­gen zielt vom Stand­punkt der­je­ni­gen, die ihre Arbeits­kraft ver­kau­fen, ledig­lich auf eine bes­se­re Auf­tei­lung des von ihnen geschaf­fe­nen Werts zwi­schen Arbei­tern und Unter­neh­mern, die sich davon einen Teil aneig­nen. Aber auch ein sol­cher Streik, sofern er ent­schlos­sen und kämp­fe­risch geführt wird, stellt Tei­le der kapi­ta­lis­ti­schen Herr­schaft in Fra­ge. Er ver­sucht, den Fabrik­be­sit­zer dar­an zu hin­dern, die Arbeits­kraft „frei“ zu kau­fen, d. h. den Arbei­tern eine gegen­sei­ti­ge Kon­kur­renz auf­zu­zwin­gen, damit sie sich nicht durch die Über­win­dung die­ser Kon­kur­renz gegen die finan­zi­el­le All­macht des Kapi­tals ver­tei- digen kön­nen. Er ver­sucht, den Fabrik­be­sit­zer dar­an zu hin­dern, in „sei­nem“ Betrieb ein­zu­füh­ren, was ihm passt: Dies ist die Bedin­gung für den Erfolg eines jeden Streiks. Er stellt somit eben­falls das Recht der gesam­ten Bour­geoi­sie – des bür­ger­li­chen Staa­tes – in Fra­ge, die Zugangs­we­ge zum Betrieb und den dor­ti­gen Ver­kehr zu kon­trol­lie­ren: Dies ist die Funk­ti­on der Streik­pos­ten, die „die Ver­kehrs­po­li­zei“ um die strei­ken­den Betrie­be anstel­le der bür­ger­li­chen Poli­zei zu bil­den ver­su­chen. Er stellt sogar die herr­schen­de bür­ger­li­che Ideo­lo­gie (inklu­si­ve des bür­ger­li­chen Rechts) in Fra­ge, indem er auf­deckt, daß selbst der „libe­rals­te“ bür­ger­li­che Staat in der Ver­tei­di­gung abs­trak­ter Prin­zi­pi­en, wie „der Frei­heit der Arbeit“ oder „des Rechts, sich frei auf den Stra­ßen zu bewe­gen“ (Zugang zu den Betrie­ben), weit davon ent­fernt ist, im Klas­sen­kampf sei­ne „Neu­tra­li­tät“ oder sei­ne ver­söh­nen­de Rol­le wahr­zu­neh­men, und statt­des­sen aktiv auf Sei­ten des Kapi­tals und gegen die Arbei­ter in einem Streik interveniert.

Aufruf zum Generalstreik gegen den Kapp-Putsch 1920. (Foto: Gemeinfrei.)

Auf­ruf zum Gene­ral­streik gegen den Kapp-Putsch 1920. (Foto: Gemeinfrei.)

Das Recht auf Kampf gegen Ausbeutung
Denn im Streik bestehen die Arbei­ter auf ihrem Recht, gegen die „Frei­heit der Aus­beu­tung“ und für die Kon­trol­le über das Ange­bot der Arbeits­kraft durch die gesam­te Arbei­ter­klas­se zu kämp­fen. Die offi­zi­el­le Ideo­lo­gie ist in die­ser Hin­sicht außer­dem nicht nur eine bür­ger­li­che, sie ist auch wider­sprüch­lich. Indem sie das „Recht auf Arbeit“ pro­kla­miert, ver­wei­gert sie der Mehr­heit der Arbei­ter (den Strei­ken­den) gleich­zei­tig die Mög­lich­keit, unter Bedin­gun­gen zu arbei­ten, die ihnen gemäß sind, ohne ihnen zur sel­ben Zeit dau­er­haf­te Voll­be­schäf­ti­gung zu garan­tie­ren. Das „Recht auf Arbeit“ ist somit das Recht des Kapi­tals, die Arbeits­kraft zu Bedin­gun­gen und in Zei­ten zu kau­fen, die ihm genehm sind. Und die sozia­len, juris­ti­schen und ideo­lo­gi­schen Ein­rich­tun­gen die­nen zur Auf­recht­erhal­tung der öko­no­mi­schen Bedin­gun­gen, die die Arbei­ter zum Ver­kauf ihrer Arbeits­kraft zu die­sen Bedin­gun­gen zwin­gen. Ihre wah­ren „Rech­te“ wer­den mit Füßen getre­ten, und nur das „Recht“, nicht Hun­gers zu ster­ben, bleibt bestehen.

All dies jedoch ist in einem ein­fa­chen öko­no­mi­schen Streik nur poten­zi­ell und im Keim ent­hal­ten und hat die Ten­denz, sich erst dann deut­li­cher zu bestä­ti­gen, wenn der Streik sich aus­dehnt. Wenn man von einem Streik in einer Fabrik zu einem Streik im gesam­ten Indus­trie­zweig, der von ent­schei­den­der Bedeu­tung ist, über­geht; wenn man von hier zu einem loka­len, regio­na­len und vor allem natio­na­len Gene­ral­streik kommt; wenn ein Streik, in des­sen Ver­lauf die Arbei­ter den Betrieb ver­las­sen, sich in einen Streik mit Fabrik-, Werk­statt- und Büro­be­set­zung ver­wan­delt; und wenn der Streik von der pas­si­ven end­lich in einen Streik mit akti­ver Beset­zung über­geht (in dem die Arbei­ter begin­nen, die Arbeit unter eige­ner Ver­wal­tung wie­der auf­zu­neh­men), so ent­wi­ckelt sich das gesam­te revo­lu­tio­nä­re Poten­ti­al des ein­fa­chen „Arbeits­kon­flik­tes“ bis zur letz­ten Kon­se­quenz: dem Ent­schei­dungs­kampf dar­über, wer Herr der Indus­trie, der Wirt­schaft und des Staa­tes sein soll: die Arbei­ter­klas­se oder die Bourgeoisie.

Aufruf zum Generalstreik in der amerikanischen und britischen Besatzungszone 1948. (Foto: Gemeinfrei.)

Auf­ruf zum Gene­ral­streik in der ame­ri­ka­ni­schen und bri­ti­schen Besat­zungs­zo­ne 1948. (Foto: Gemeinfrei.)

Streik­ko­mi­tees als Arbeitermacht
In der Orga­ni­sa­ti­on, die die Arbei­ter ent­fal­ten, um ihren Kampf mit einem Maxi­mum an Erfolgs­chan­cen zu füh­ren, kommt die durch den Streik instal­lier­te „Gegen­herr­schaft“ am klars­ten zum Aus­druck. Ein wirk­sa­mes Streik­ko­mi­tee muss – sofern der Streik aus­ge­dehnt ist, lan­ge genug dau­ert und mit genü­gen­der Kampf­kraft geführt wird – unter den Strei­ken­den ver­ant­wort­li­che Kom­mis­sio­nen zur Samm­lung und Ver­tei­lung von Geld­mit­teln, zur Ver­tei­lung von Lebens­mit­teln und Klei­dung an die Strei­ken­den und ihre Fami­li­en, zur Blo­ckie­rung der Fabrik­zu­gän­ge durch    Streik­pos­ten, zur Orga­ni­sie­rung der Frei­zeit der Strei­ken­den, zur Ver­tei­di­gung der Sache der Strei­ken­den durch adäqua­te Mas­sen­me­di­en, zum Auf­spü­ren von Infor­ma­tio­nen über die Absich­ten des Geg­ners usw. auf­bau­en. Wir sehen hier die Anfän­ge einer Arbei­ter­macht, die die Berei­che der Finan­zen, der Ver­sor­gung, der bewaff­ne­ten Miliz, der Infor­ma­ti­on, der Frei­zeit und selbst der Nach­rich­ten­diens­te orga­ni­siert. In dem Maße, in dem der Streik sich aus­dehnt, ver­bin­det sich logi­scher­wei­se eine Abtei­lung der indus­tri­el­len Pro­duk­ti­on, der Pla­nung und sogar des Außen­han­dels mit den genann­ten Abtei­lun­gen. Und selbst wenn die zukünf­ti­ge Arbei­ter­macht nur in Ansät­zen besteht, mani­fes­tiert sich bereits hier die ihr eige­ne Ten­denz, mög­lichst vie­le Strei­ken­de an der direk­ten Macht­aus­übung zu betei­li­gen und soweit wie mög­lich die gesell­schaft­li­che Arbeits­tei­lung zwi­schen Ver­wal­tern und Ver­wal­te­ten zu über­win­den, die dem bür­ger­li­chen Staat und allen Staa­ten eigen ist, die in der Geschich­te die Inter­es­sen der aus­beu­ten­den Klas­sen vertreten.

Vom Augen­blick an, in dem wir einem loka­len, regio­na­len oder natio­na­len Gene­ral­streik gegen­über­ste­hen, begin­nen die­se Ansät­ze der Arbei­ter­macht, sich zu ent­fal­ten und sich in alle Rich­tun­gen zu ent­wi­ckeln. Selbst unter Lei­tung rela­tiv gemä­ßig­ter Füh­rer, die nicht revo­lu­tio­när sind, wer­den zen­tra­le Streik­ko­mi­tees gro­ßer pro­le­ta­ri­scher Städ­te gezwun­gen, die Orga­ni­sie­rung der Ver­sor­gung und der öffent­li­chen Diens­te in die Hand zu neh­men.1 In Lüt­tich orga­ni­sier­te die Streik­lei­tung wäh­rend des [bel­gi­schen] Gene­ral­streiks 1960/61 den Auto­ver­kehr der Stadt und ver­bot allen Last­kraft­wa­gen, die kei­ne Geneh­mi­gung der Streik­ko­mi­tees hat­ten, den Zugang zum Stadt­ge­biet. Die Bevöl­ke­rung, ein­schließ­lich der Bour­geoi­sie, erkann­te die Macht des Streik­ko­mi­tees als Tat­sa­che an, unter­warf sich der Auto­ri­tät der Gewerk­schaf­ten, um die erfor­der­li­chen Aus­weis­pa­pie­re zu erhal­ten, so wie sie sich nor­ma­ler­wei­se an die Stadt­ver­wal­tung wen­det. Man befand sich nicht mehr in der Anfangs­pha­se: Die übli­chen Geburts­we­hen eines Streiks waren überwunden.

Demo­kra­ti­sche Streikorganisation
Ein Streik kann durch eine Gewerk­schaft büro­kra­tisch geführt wer­den, durch Funk­tio­nä­re, die sich weit ent­fernt vom Arbeits­platz befin­den und dort nur von Zeit zu Zeit auf­tau­chen, um sich über die Kampf­be­reit­schaft der Arbei­ter zu infor­mie­ren. Er kann demo­kra­tisch von einer Gewerk­schaft geführt wer­den, d. h. auf Basis von Ver­samm­lun­gen strei­ken­der Gewerk­schaf­ter, die die Ent­schei­dung über die Ent­wick­lung ihres Kamp­fes in der Hand behal­ten. Die demo­kra­tischs­te Form jedoch, die für die Durch­füh­rung eines sol­chen Kamp­fes ist, besteht offen­sicht­lich durch die Gesamt­heit der Strei­ken­den, sei­en sie Gewerk­schafts­mit­glie­der oder nicht, gewähl­ten und demo­kra­tisch den Ent­schei­dun­gen der sehr regel­mä­ßig ein­be­ru­fe­nen Voll­ver­samm­lun­gen unter­stell­ten Streikkomitees.

Protestaktion der Alstom-Belegschaft in Mannheim mit Generalstreik-Transparent, 30. Mai 2010. (Foto:  helmut-roos@web.de.)

Pro­test­ak­ti­on der Als­tom-Beleg­schaft in Mann­heim mit Gene­ral­streik-Trans­pa­rent, 30. Mai 2010. (Foto: helmut-roos@web.de.)

Im letz­te­ren Fall beginnt der Streik, sei­ne durch unmit­tel­ba­re For­de­run­gen bestimm­te Funk­ti­on zu über­win­den. Eine sol­che demo­kra­ti­sche Kampf­or­ga­ni­sa­ti­on erreicht mehr, als den Erfolg des Streiks und die Rea­li­sie­rung unab­hän­gig gesteck­ter Zie­le zu sichern. Sie beginnt, den ein­zel­nen Arbei­ter von der lan­gen Gewohn­heit der Pas­si­vi­tät und der Unter­ord­nung im Wirt­schafts­le­ben zu befrei­en. Sie befreit ihn vom Druck ver­schie­de­ner „Auto­ri­tä­ten“, die ihn im täg­li­chen Leben unter­drü­cken. Sie beginnt somit einen die Ent­frem­dung auf­he­ben­den Pro­zess, einen Pro­zess der Eman­zi­pa­ti­on im wah­ren Sin­ne des Wor­tes. Aus einem Objekt, das durch das wirt­schaft­li­che und gesell­schaft­li­che Sys­tem, durch das Kapi­tal, die „Markt­ge­set­ze“, die Maschi­nen und die Meis­ter und Vor­ar­bei­ter bestimmt und unter­drückt ist, wird der Arbei­ter zu einem sich selbst bestim­men­den Sub­jekt. Des­halb haben alle auf­merk­sa­men Beob­ach­ter immer ein Gefühl von Frei­heit und ele­men­ta­rer „Lebens­freu­de“ kon­sta­tiert, das die gro­ßen Streiks in der Gegen­wart begleitet.

Wenn man die Ent­wick­lung eines loka­len Gene­ral­streiks beob­ach­tet; wenn sich dann demo­kra­tisch gewähl­te Streik­ko­mi­tees nicht nur in einer Fabrik, son­dern in allen Fabri­ken der Stadt (viel­mehr noch in der Regi­on, im Land) bil­den, die von Voll­ver­samm­lun­gen der Strei­ken­den gewählt wer­den; wenn die­se Komi­tees sich zusam­men­schlie­ßen, sich zen­tra­li­sie­ren und ein Organ schaf­fen, wel­ches regel­mä­ßig sei­ne Dele­gier­ten zusam­men­ruft, dann ent­ste­hen ter­ri­to­ria­le Arbei­ter­rä­te, Basis­zel­len des zukünf­ti­gen Arbei­ter­staa­tes. Der ers­te „Sowjet“ in Petro­grad2 war nichts ande­res als das: ein Rat der Dele­gier­ten der Streik­ko­mi­tees der wich­tigs­ten Fabri­ken der Stadt.


Anmer­kun­gen
1 Sie­he die Bei­spie­le der Streik­ko­mi­tees von Seat­tle im Jah­re 1919 [abge­druckt in Ernest Man­del (Hg.), Arbei­ter­kon­trol­le, Arbei­ter­rä­te, Arbei­ter­selbst­ver­wal­tung, Eine Antho­lo­gie (Theo­rie und Pra­xis der Gewerk­schaf­ten), Frankfurt/M., Euro­päi­sche Ver­lags­an­stalt, 1971] und von Nan­tes im Jah­re 1968 (Yan­nick Guin, La Com­mu­ne de Nan­tes, Paris, Maspe­ro, 1969).
2 Vgl. den dies­be­züg­li­chen Text Trotz­kis in o. g. Anthologie.

* [Die Zwi­schen­über­schrif­ten hat die Redak­ti­on von Avan­ti² ein­ge­fügt. Der Text selbst ist in der damals übli­chen Spra­che belas­sen worden.]

Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Sep­tem­ber 2021
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