(Ernest Mandel)
Angesichts der zunehmenden Angriffe der Herrschenden auf die Interessen der arbeitenden Klasse ist es nicht nur sinnvoll, sondern auch dringend erforderlich, sich mit dem wichtigsten Mittel der Gegenwehr – dem Streik – zu befassen. Im Folgenden veröffentlichen wir deshalb einen Auszug aus Ernest Mandels Vorwort zu der von ihm herausgegebenen und 1971 erschienen Textsammlung Arbeiterkontrolle, Arbeiterräte, Arbeiterselbstverwaltung.*
Jeder umfassendere Kampf der Arbeiter, der über Sofort-[Forderungen] und korporative [unmittellbare gewerkschaftliche] Ziele hinausgeht, wirft das Problem von Organisationsformen des Kampfes auf, die im Keim die Infragestellung der kapitalistischen Herrschaft enthalten. Der preußische Minister von Puttkamer hatte nicht unrecht, als er den berühmten Satz aussprach: „Jeder Streik birgt die Hydra der Revolution in sich.“
Ein Streik um ökonomische Sofortforderungen zielt vom Standpunkt derjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen, lediglich auf eine bessere Aufteilung des von ihnen geschaffenen Werts zwischen Arbeitern und Unternehmern, die sich davon einen Teil aneignen. Aber auch ein solcher Streik, sofern er entschlossen und kämpferisch geführt wird, stellt Teile der kapitalistischen Herrschaft in Frage. Er versucht, den Fabrikbesitzer daran zu hindern, die Arbeitskraft „frei“ zu kaufen, d. h. den Arbeitern eine gegenseitige Konkurrenz aufzuzwingen, damit sie sich nicht durch die Überwindung dieser Konkurrenz gegen die finanzielle Allmacht des Kapitals vertei- digen können. Er versucht, den Fabrikbesitzer daran zu hindern, in „seinem“ Betrieb einzuführen, was ihm passt: Dies ist die Bedingung für den Erfolg eines jeden Streiks. Er stellt somit ebenfalls das Recht der gesamten Bourgeoisie – des bürgerlichen Staates – in Frage, die Zugangswege zum Betrieb und den dortigen Verkehr zu kontrollieren: Dies ist die Funktion der Streikposten, die „die Verkehrspolizei“ um die streikenden Betriebe anstelle der bürgerlichen Polizei zu bilden versuchen. Er stellt sogar die herrschende bürgerliche Ideologie (inklusive des bürgerlichen Rechts) in Frage, indem er aufdeckt, daß selbst der „liberalste“ bürgerliche Staat in der Verteidigung abstrakter Prinzipien, wie „der Freiheit der Arbeit“ oder „des Rechts, sich frei auf den Straßen zu bewegen“ (Zugang zu den Betrieben), weit davon entfernt ist, im Klassenkampf seine „Neutralität“ oder seine versöhnende Rolle wahrzunehmen, und stattdessen aktiv auf Seiten des Kapitals und gegen die Arbeiter in einem Streik interveniert.
Das Recht auf Kampf gegen Ausbeutung
Denn im Streik bestehen die Arbeiter auf ihrem Recht, gegen die „Freiheit der Ausbeutung“ und für die Kontrolle über das Angebot der Arbeitskraft durch die gesamte Arbeiterklasse zu kämpfen. Die offizielle Ideologie ist in dieser Hinsicht außerdem nicht nur eine bürgerliche, sie ist auch widersprüchlich. Indem sie das „Recht auf Arbeit“ proklamiert, verweigert sie der Mehrheit der Arbeiter (den Streikenden) gleichzeitig die Möglichkeit, unter Bedingungen zu arbeiten, die ihnen gemäß sind, ohne ihnen zur selben Zeit dauerhafte Vollbeschäftigung zu garantieren. Das „Recht auf Arbeit“ ist somit das Recht des Kapitals, die Arbeitskraft zu Bedingungen und in Zeiten zu kaufen, die ihm genehm sind. Und die sozialen, juristischen und ideologischen Einrichtungen dienen zur Aufrechterhaltung der ökonomischen Bedingungen, die die Arbeiter zum Verkauf ihrer Arbeitskraft zu diesen Bedingungen zwingen. Ihre wahren „Rechte“ werden mit Füßen getreten, und nur das „Recht“, nicht Hungers zu sterben, bleibt bestehen.
All dies jedoch ist in einem einfachen ökonomischen Streik nur potenziell und im Keim enthalten und hat die Tendenz, sich erst dann deutlicher zu bestätigen, wenn der Streik sich ausdehnt. Wenn man von einem Streik in einer Fabrik zu einem Streik im gesamten Industriezweig, der von entscheidender Bedeutung ist, übergeht; wenn man von hier zu einem lokalen, regionalen und vor allem nationalen Generalstreik kommt; wenn ein Streik, in dessen Verlauf die Arbeiter den Betrieb verlassen, sich in einen Streik mit Fabrik-, Werkstatt- und Bürobesetzung verwandelt; und wenn der Streik von der passiven endlich in einen Streik mit aktiver Besetzung übergeht (in dem die Arbeiter beginnen, die Arbeit unter eigener Verwaltung wieder aufzunehmen), so entwickelt sich das gesamte revolutionäre Potential des einfachen „Arbeitskonfliktes“ bis zur letzten Konsequenz: dem Entscheidungskampf darüber, wer Herr der Industrie, der Wirtschaft und des Staates sein soll: die Arbeiterklasse oder die Bourgeoisie.
Streikkomitees als Arbeitermacht
In der Organisation, die die Arbeiter entfalten, um ihren Kampf mit einem Maximum an Erfolgschancen zu führen, kommt die durch den Streik installierte „Gegenherrschaft“ am klarsten zum Ausdruck. Ein wirksames Streikkomitee muss – sofern der Streik ausgedehnt ist, lange genug dauert und mit genügender Kampfkraft geführt wird – unter den Streikenden verantwortliche Kommissionen zur Sammlung und Verteilung von Geldmitteln, zur Verteilung von Lebensmitteln und Kleidung an die Streikenden und ihre Familien, zur Blockierung der Fabrikzugänge durch Streikposten, zur Organisierung der Freizeit der Streikenden, zur Verteidigung der Sache der Streikenden durch adäquate Massenmedien, zum Aufspüren von Informationen über die Absichten des Gegners usw. aufbauen. Wir sehen hier die Anfänge einer Arbeitermacht, die die Bereiche der Finanzen, der Versorgung, der bewaffneten Miliz, der Information, der Freizeit und selbst der Nachrichtendienste organisiert. In dem Maße, in dem der Streik sich ausdehnt, verbindet sich logischerweise eine Abteilung der industriellen Produktion, der Planung und sogar des Außenhandels mit den genannten Abteilungen. Und selbst wenn die zukünftige Arbeitermacht nur in Ansätzen besteht, manifestiert sich bereits hier die ihr eigene Tendenz, möglichst viele Streikende an der direkten Machtausübung zu beteiligen und soweit wie möglich die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Verwaltern und Verwalteten zu überwinden, die dem bürgerlichen Staat und allen Staaten eigen ist, die in der Geschichte die Interessen der ausbeutenden Klassen vertreten.
Vom Augenblick an, in dem wir einem lokalen, regionalen oder nationalen Generalstreik gegenüberstehen, beginnen diese Ansätze der Arbeitermacht, sich zu entfalten und sich in alle Richtungen zu entwickeln. Selbst unter Leitung relativ gemäßigter Führer, die nicht revolutionär sind, werden zentrale Streikkomitees großer proletarischer Städte gezwungen, die Organisierung der Versorgung und der öffentlichen Dienste in die Hand zu nehmen.1 In Lüttich organisierte die Streikleitung während des [belgischen] Generalstreiks 1960/61 den Autoverkehr der Stadt und verbot allen Lastkraftwagen, die keine Genehmigung der Streikkomitees hatten, den Zugang zum Stadtgebiet. Die Bevölkerung, einschließlich der Bourgeoisie, erkannte die Macht des Streikkomitees als Tatsache an, unterwarf sich der Autorität der Gewerkschaften, um die erforderlichen Ausweispapiere zu erhalten, so wie sie sich normalerweise an die Stadtverwaltung wendet. Man befand sich nicht mehr in der Anfangsphase: Die üblichen Geburtswehen eines Streiks waren überwunden.
Demokratische Streikorganisation
Ein Streik kann durch eine Gewerkschaft bürokratisch geführt werden, durch Funktionäre, die sich weit entfernt vom Arbeitsplatz befinden und dort nur von Zeit zu Zeit auftauchen, um sich über die Kampfbereitschaft der Arbeiter zu informieren. Er kann demokratisch von einer Gewerkschaft geführt werden, d. h. auf Basis von Versammlungen streikender Gewerkschafter, die die Entscheidung über die Entwicklung ihres Kampfes in der Hand behalten. Die demokratischste Form jedoch, die für die Durchführung eines solchen Kampfes ist, besteht offensichtlich durch die Gesamtheit der Streikenden, seien sie Gewerkschaftsmitglieder oder nicht, gewählten und demokratisch den Entscheidungen der sehr regelmäßig einberufenen Vollversammlungen unterstellten Streikkomitees.
Im letzteren Fall beginnt der Streik, seine durch unmittelbare Forderungen bestimmte Funktion zu überwinden. Eine solche demokratische Kampforganisation erreicht mehr, als den Erfolg des Streiks und die Realisierung unabhängig gesteckter Ziele zu sichern. Sie beginnt, den einzelnen Arbeiter von der langen Gewohnheit der Passivität und der Unterordnung im Wirtschaftsleben zu befreien. Sie befreit ihn vom Druck verschiedener „Autoritäten“, die ihn im täglichen Leben unterdrücken. Sie beginnt somit einen die Entfremdung aufhebenden Prozess, einen Prozess der Emanzipation im wahren Sinne des Wortes. Aus einem Objekt, das durch das wirtschaftliche und gesellschaftliche System, durch das Kapital, die „Marktgesetze“, die Maschinen und die Meister und Vorarbeiter bestimmt und unterdrückt ist, wird der Arbeiter zu einem sich selbst bestimmenden Subjekt. Deshalb haben alle aufmerksamen Beobachter immer ein Gefühl von Freiheit und elementarer „Lebensfreude“ konstatiert, das die großen Streiks in der Gegenwart begleitet.
Wenn man die Entwicklung eines lokalen Generalstreiks beobachtet; wenn sich dann demokratisch gewählte Streikkomitees nicht nur in einer Fabrik, sondern in allen Fabriken der Stadt (vielmehr noch in der Region, im Land) bilden, die von Vollversammlungen der Streikenden gewählt werden; wenn diese Komitees sich zusammenschließen, sich zentralisieren und ein Organ schaffen, welches regelmäßig seine Delegierten zusammenruft, dann entstehen territoriale Arbeiterräte, Basiszellen des zukünftigen Arbeiterstaates. Der erste „Sowjet“ in Petrograd2 war nichts anderes als das: ein Rat der Delegierten der Streikkomitees der wichtigsten Fabriken der Stadt.