(Veranstaltung in Mannheim)
H. S.
Rund 120 Menschen waren am 30.11.2019 in das Bürgerhaus Neckarstadt-West gekommen. Nach dem Einmarsch der türkischen Armee in Nordsyrien wollten sie sich über die aktuelle Situation in Rojava und in der Türkei informieren. Ausgerichtet wurde die Veranstaltung vom Mannheimer Bündnis „Stoppt den türkischen Angriffskrieg in Nordsyrien – Solidarität mit Rojava!“
Als Hauptreferenten waren die kurdischen Politiker Hatip Dicle aus der Türkei (derzeit im deutschen politischen Exil) und Achmed Sêxo aus der selbstverwalteten Region Rojava eingeladen.
Zum Auftakt gab es einen geschichtlichen Abriss vor allem der türkischen Kurdenpolitik seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches. Nach der Gründung der Republik im Jahr 1923 unter Kemal Atatürk durfte die kurdische Bevölkerung ihre eigene Kultur nicht mehr leben. Es war ihr verboten, ihre Sprache in der Öffentlichkeit zu sprechen.
Laut Atatürk gab es nur noch Türken. Die gewaltsame Unterdrückung jeglicher Selbstbestimmungsbemühungen der Kurden wurde zur Leitlinie auch der nachfolgenden Regierungen. Dieses gilt auch nach wie vor im Angriffskrieg Erdogans gegen die kurdische YPG in Nordsyrien und das demokratische Projekt Rojava.
Eigenstaatlichkeit kein Ziel
Hatip Dicle verwies darauf, dass die Eigenstaatlichkeit nicht mehr das Ziel der kurdischen Bewegung sei. Es gehe heute um gesellschaftliche, politische und kulturelle Emanzipation innerhalb bestehender Grenzen.
Was darunter zu verstehen ist, machte Achmed Sêxo deutlich. Er schilderte den Aufbau und den demokratischen Charakter der kommunalen Selbstverwaltung in Rojava.
Der Angriffskrieg der Türkei habe bisher rund 12.000 Tote, etwa 24.000 Verletzte sowie ca. 300.000 Vertriebene zur Folge gehabt. Dennoch seien die Institutionen der kurdischen Selbstverwaltung intakt.
Nach dem Rückzug der syrischen Armee aus der Region Rojava 2013 hätten lokale kurdische Kräfte die Kontrolle übernommen. Sie hätten trotz der Kriegswirren eine funktio- nierende Verwaltung und Versorgung für die 4,6 Millionen – mehrheitlich kurdischen – Menschen aufgebaut.
Demokratie und selbstverwalteter „Konföderalismus“
Ziel, so Dicle, sei der Aufbau eines demokratischen nichtstaatlichen Systems – des selbstverwalteten „Konföderalismus“. Dieser spiegelt sich ihm zufolge in einer multiethnischen und multireligiösen Verwaltung wider. Sie bestehe jeweils aus einem kurdischen, arabischen und christlich-assyrischen Minister pro Ressort.
Die Selbstverwaltung organisiere sich als Rätestruktur, deren unterste Ebene sei zum Beispiel der Rat einer Kommune, eines Dorfes oder Stadtteils. Hier würde über die jeweiligen Belange entschieden.
In allen Verwaltungsebenen werde eine Frauenquote von mindestens 40 % angestrebt. Auch die ethnischen und religiösen Minderheiten müssten dort ausreichend repräsentiert sein.
Die Behörden seien an die Menschenrechte gebunden, es herrsche Gleichberechtigung von Mann und Frau und auch Religionsfreiheit. Außerdem sei die Todesstrafe verboten.
Obwohl hier ein demokratisches Alternativmodell zum islamistischen Despotismus entstanden sei, würde es von allen Regierungen der umliegenden Länder als „terroristisches“ Projekt der PKK gebrandmarkt und boykottiert.
Waffenlieferungen an die Türkei stoppen
Das gelte auch für Deutschland, das sich dem Nato-Partner Türkei seit Jahren besonders verbunden fühle und Waffen zur Bekämpfung der kurdischen Bevölkerung liefere.
Es sei Aufgabe der Deutschen, auf die Auswirkungen dieser Politik in der Öffentlichkeit hinzuweisen und ein Stopp der Waffenlieferungen zu fordern.
Auch wenn der Einmarsch der Türkei in Nordsyrien von der Bundesregierung als völkerrechtswidrig bezeichnet worden sei, bestimme doch nach wie vor das „Verständnis für die Sicherheitsinteressen der Türkei“ ihr Handeln im Konkreten.