War­um Sozialismus?

 

Albert Ein­stein

Albert Ein­stein (1879-1955) war einer der bedeu­tends­ten Phy­si­ker der Wis­sen­schafts­ge­schich­te. Durch sei­ne Begrün­dung der Rela­ti­vi­täts­theo­rie (zur Struk­tur von Mate­rie, Raum und Zeit) wur­de er welt­weit bekannt.

Sein hier wie­der ver­öf­fent­lich­ter Text „War­um Sozia­lis­mus?“ ist hin­ge­gen kaum bekannt.

Das ist kein Zufall. Die sys­tem­kon­for­men Medi­en ver­schwei­gen meist, dass sich der gebür­ti­ge Ulmer Ein­stein sehr lan­ge Zeit als Sozia­list ver­stand und gegen Faschis­mus und Krieg eintrat.

Unter dem Titel „Why Socia­lism?“ erschie­nen sei­ne anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Über­le­gun­gen 1949 in der ers­ten Aus­ga­be der lin­ken US-ame­ri­ka­ni­schen Zeit­schrift Month­ly Review.

Wir haben die Über­set­zung redak­tio­nell bear­bei­tet, die dama­li­ge Schreib­wei­se jedoch beibehalten.

Unter www.youtube.com/watch?v=6BQYPWxnDvY&list=PL829279C7E2CDAA7C kann die­ser Text nach­ge­hört werden.

H. N., 25.10.2025

Ist es nun rat­sam für jeman­den, der kein Exper­te auf dem Gebiet öko­no­mi­scher und sozia­ler Fra­gen ist, sich zum Wesen des Sozia­lis­mus zu äußern? Ich den­ke aus einer Rei­he von Grün­den, daß dies der Fall ist.

Albert Einstein, 1947. (Foto: Gemeinfrei.)

Albert Ein­stein, Por­trait 1947. (Foto: Gemeinfrei.)

Lasst uns die Fra­ge zunächst vom Stand­punkt der wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­se aus betrach­ten. Es mag so erschei­nen, als ob es kei­ne wesent­li­chen metho­do­lo­gi­schen Unter­schie­de zwi­schen Astro­no­mie und Öko­no­mie gäbe: Wis­sen­schaft­ler bei­der Gebie­te ver­su­chen, all­ge­mein akzep­ta­ble Geset­ze für eine begrenz­te Anzahl von Phä­no­me­nen zu ent­de­cken, um deren Zusam­men­hän­ge so ver­ständ­lich wie mög­lich zu machen. Aber in Wirk­lich­keit exis­tie­ren sol­che metho­do­lo­gi­schen Unter­schie­de. Die Ent­de­ckung von all­ge­mein­gül­ti­gen Geset­zen im Bereich der Öko­no­mie wird dadurch erschwert, daß die zu betrach­ten­den öko­no­mi­schen Phä­no­me­ne von vie­len Fak­to­ren beein­flusst sind, die ein­zeln schwer zu beur­tei­len sind. Außer­dem waren die Erfah­run­gen, die sich seit Beginn der soge­nann­ten zivi­li­sier­ten Peri­ode der mensch­li­chen Geschich­te ange­sam­melt haben – wie wir wis­sen – stark von Fak­to­ren beein­flusst und beschränkt, die kei­nes­wegs aus­schließ­lich öko­no­mi­scher Natur sind. Zum Bei­spiel ver­dan­ken die grö­ße­ren Staa­ten­ge­bil­de ihre Exis­tenz den Erobe­run­gen. Die erobern­den Völ­ker mach­ten sich selbst – gesetz­lich und wirt­schaft­lich gese­hen – zur pri­vi­le­gier­ten Klas­se des erober­ten Lan­des. Sie sicher­ten sich das Mono­pol an Land­be­sitz und ernann­ten Pries­ter aus ihren eige­nen Rei­hen. Die­se Pries­ter – die die Macht über das Erzie­hungs­we­sen hat­ten – insti­tu­tio­na­li­sier­ten die Tei­lung der Gesell­schaft in Klas­sen und schu­fen ein Wer­te­sys­tem, das die Men­schen von da an – in einem hohen Grad unbe­wusst – in ihrem sozia­len Ver­hal­ten leitete.

Aber wenn die­se his­to­ri­sche Tra­di­ti­on eigent­lich der Ver­gan­gen­heit ange­hört, haben wir das, was Thor­stein Veblen die „räu­be­ri­sche Pha­se“ der mensch­li­chen Ent­wick­lung nann­te, nir­gends wirk­lich über­wun­den. Die wahr­nehm­ba­ren öko­no­mi­schen Fak­ten gehö­ren zu eben die­ser Pha­se, und selbst die­je­ni­gen Geset­ze, die wir aus ihnen ablei­ten kön­nen, sind nicht auf ande­re Pha­sen anwend­bar. Da es das rea­le Ziel des Sozia­lis­mus ist, genau über die­se räu­be­ri­sche Pha­se mensch­li­cher Ent­wick­lung zu sie­gen und die­se zu über­win­den, kann die heu­ti­ge wis­sen­schaft­li­che Öko­no­mie wenig Licht auf die zukünf­ti­ge sozia­lis­ti­sche Gesell­schaft werfen.
Zum Zwei­ten ist der Sozia­lis­mus auf ein sozi­al-ethi­sches Ziel aus­ge­rich­tet. Wis­sen­schaft kann jedoch kei­ne Zie­le schaf­fen, geschwei­ge denn sie den Men­schen ein­flö­ßen: Wis­sen­schaft kann bes­ten­falls die Mit­tel lie­fern, mit denen bestimm­te Zie­le erreicht wer­den kön­nen. Aber die Zie­le selbst wer­den von Per­sön­lich­kei­ten mit hoch­ge­steck­ten ethi­schen Idea­len erdacht und – wenn die­se Zie­le nicht tot­ge­bo­ren, son­dern vital und kraft­voll sind – wer­den sie von den vie­len Men­schen über­nom­men und wei­ter­ge­tra­gen, die teil­wei­se unbe­wusst die lang­sa­me Wei­ter­ent­wick­lung der Gesell­schaft bestimmen.

Men­schen wer­den nicht durch ihre bio­lo­gi­sche Kon­sti­tu­ti­on dazu ver­dammt, ein­an­der zu vernichten […].“

Aus die­sen Grün­den soll­ten wir auf der Hut sein und kei­ne Wis­sen­schaft und wis­sen­schaft­li­che Metho­de über­schät­zen, wenn es um eine Fra­ge der Pro­ble­me der Mensch­heit geht; und wir soll­ten nicht davon aus­ge­hen, daß Exper­ten die ein­zi­gen sind, die ein Recht dar­auf haben, sich zu Fra­gen zu äußern, die die Orga­ni­sa­ti­on der Gesell­schaft betreffen.

Unzäh­li­ge Stim­men behaup­ten seit gerau­mer Zeit, daß nun, da die mensch­li­che Gesell­schaft eine Kri­se durch­ma­che, ihre Sta­bi­li­tät ernst­haft erschüt­tert wor­den sei. Es ist cha­rak­te­ris­tisch für solch eine Situa­ti­on, daß sich Indi­vi­du­en gleich­gül­tig oder sogar feind­lich gegen­über der klei­nen oder gro­ßen Grup­pe ver­hal­ten, zu der sie gehö­ren. Hier­zu eine per­sön­li­che Erfah­rung: Ich erör­ter­te vor kur­zem mit einem intel­li­gen­ten und freund­lich geson­ne­nen Mann die Bedro­hung durch einen erneu­ten Krieg, der mei­ner Mei­nung nach die Exis­tenz der Mensch­heit ernst­haft gefähr­den wür­de, und ich bemerk­te, daß nur eine supra­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on Schutz vor die­ser Gefahr gewähr­leis­ten könn­te. Dar­auf­hin sag­te mein Besu­cher – sehr ruhig und gelas­sen – : „War­um bist du so vehe­ment gegen das Ver­schwin­den der Menschheit?“

Ich bin mir sicher, daß ein Jahr­hun­dert frü­her nie­mand so leicht eine der­ar­ti­ge Bemer­kung gemacht hät­te. Es ist die Aus­sa­ge eines Man­nes, der sich ver­ge­bens bemüht hat, sein inne­res Gleich­ge­wicht zu fin­den, und der mehr oder weni­ger die Hoff­nung auf Erfolg ver­lo­ren hat. Es ist der Aus­druck einer schmerz­haf­ten Ver­ein­sa­mung und Iso­la­ti­on, an der so vie­le Leu­te in die­ser Zeit lei­den. Was ist die Ursa­che? Gibt es einen Ausweg?

Es ist ein­fach, sol­che Fra­gen auf­zu­wer­fen, viel schwie­ri­ger hin­ge­gen, sie mit Gewiss­heit zu beant­wor­ten. Doch das muss ich ver­su­chen, so gut ich kann, obwohl ich mir der Tat­sa­che bewusst bin, daß unse­re Gefüh­le und unse­re Bestre­bun­gen oft wider­sprüch­lich und obskur sind und daß sie nicht in ein­fa­chen For­meln aus­ge­drückt wer­den können.

Der Mensch ist gleich­zei­tig ein Ein­zel- und ein Sozialwesen.

Der Mensch ist gleich­zei­tig ein Ein­zel- und ein Sozi­al­we­sen. Als ein Ein­zel­we­sen ver­sucht er, sei­ne eige­ne Exis­tenz und die der­je­ni­gen Men­schen zu schüt­zen, die ihm am nächs­ten sind sowie sei­ne Bedürf­nis­se zu befrie­di­gen und sei­ne ange­bo­re­nen Fähig­kei­ten zu ent­wi­ckeln. Als ein Sozi­al­we­sen ver­sucht er, die Aner­ken­nung und Zunei­gung sei­ner Mit­men­schen zu gewin­nen, ihre Lei­den­schaf­ten zu tei­len, sie in ihren Sor­gen zu trös­ten und ihre Lebens­um­stän­de zu ver­bes­sern. Allein die Exis­tenz die­ser viel­sei­ti­gen, häu­fig wider­strei­ten­den Bestre­bun­gen macht den spe­zi­el­len Cha­rak­ter des Men­schen aus, und die jewei­li­ge Kom­bi­na­ti­on bestimmt, inwie­weit ein Indi­vi­du­um sein inne­res Gleich­ge­wicht errei­chen und damit etwas zum Wohl der Gesell­schaft bei­tra­gen kann. Es ist gut vor­stell­bar, daß die rela­ti­ve Kraft die­ser bei­den Antrie­be haupt­säch­lich erb­lich bedingt ist. Aber die Per­sön­lich­keit wird letzt­lich wei­test­ge­hend von der Umge­bung geformt, die ein Mensch zufäl­lig vor­fin­det, durch die Gesell­schafts­struk­tur, in der er auf­wächst, durch die Tra­di­tio­nen die­ser Gesell­schaft und dadurch, wie bestimm­te Ver­hal­tens­wei­sen beur­teilt wer­den. Der abs­trak­te Begriff „Gesell­schaft“ bedeu­tet für den ein­zel­nen Men­schen die Gesamt­heit sei­ner direk­ten und indi­rek­ten Bezie­hun­gen zu sei­nen Zeit­ge­nos­sen und den Men­schen frü­he­rer Gene­ra­tio­nen. Das Indi­vi­du­um allein ist in der Lage, zu den­ken, zu füh­len, zu kämp­fen, selb­stän­dig zu arbei­ten; aber es ist in sei­ner phy­si­schen, intel­lek­tu­el­len und emo­tio­na­len Exis­tenz der­art abhän­gig von der Gesell­schaft, daß es unmög­lich ist, es außer­halb des gesell­schaft­li­chen Rah­mens zu betrach­ten. Es ist die „Gesell­schaft“, die den Men­schen Klei­dung, Woh­nung, Werk­zeu­ge, Spra­che, die For­men des Den­kens und die meis­ten Inhal­te die­ser Gedan­ken lie­fert, sein Leben wird durch die Arbeit mög­lich gemacht und durch die Leis­tun­gen der vie­len Mil­lio­nen Men­schen frü­her und heu­te, die sich hin­ter dem Wört­chen „die Gesell­schaft“ verbergen.

Des­halb ist die Abhän­gig­keit des Ein­zel­nen von der Gesell­schaft offen­kun­dig ein Natur­ge­setz, das – wie im Fal­le von Amei­sen und Bie­nen – offen­bar nicht ein­fach so abge­schafft wer­den kann. Doch wäh­rend der gesam­te Lebens­pro­zess von Amei­sen und Bie­nen bis hin zum kleins­ten Detail an star­re, erb­li­che Instink­te gebun­den ist, sind die sozia­len Mus­ter und die engen sozia­len Ver­bin­dun­gen der Men­schen sehr emp­fäng­lich für ver­schie­dens­te Ver­än­de­run­gen. Das Gedächt­nis, die Kapa­zi­tät, Neu­es zu ver­su­chen und die Mög­lich­keit, münd­lich zu kom­mu­ni­zie­ren, haben für den Men­schen Ent­wick­lun­gen mög­lich gemacht, die nicht von bio­lo­gi­schen Gege­ben­hei­ten dik­tiert wur­den. Sol­che Ent­wick­lun­gen mani­fes­tie­ren sich in Tra­di­tio­nen, Insti­tu­tio­nen und Orga­ni­sa­tio­nen, in der Lite­ra­tur, in wis­sen­schaft­li­chen und tech­ni­schen Errun­gen­schaf­ten, in künst­le­ri­schen Arbei­ten. Das erklärt, wes­halb der Mensch in einem gewis­sen Sin­ne sein Leben selbst beein­flus­sen kann und daß in die­sem Pro­zess bewuss­tes Den­ken und Wol­len eine Rol­le spielt.

Der Mensch erwirbt mit der Geburt durch Ver­er­bung eine bio­lo­gi­sche Grund­la­ge, die wir als fest und unab­än­der­lich betrach­ten müs­sen. Dies schließt die natür­li­chen Trie­be ein, die für die mensch­li­che Spe­zi­es cha­rak­te­ris­tisch sind. Dar­über hin­aus erwirbt er wäh­rend sei­nes Lebens eine kul­tu­rel­le Grund­la­ge, die er von der Gesell­schaft durch Kom­mu­ni­ka­ti­on und durch vie­le ande­re Arten von Ein­flüs­sen über­nimmt. Es ist die­se kul­tu­rel­le Grund­la­ge, die im Lauf der Zeit Ände­run­gen unter­wor­fen ist, und die zu einem gro­ßen Teil die Bezie­hun­gen zwi­schen dem Indi­vi­du­um und der Gesell­schaft bestimmt. Die moder­ne Anthro­po­lo­gie hat uns durch ver­glei­chen­de Unter­su­chun­gen der soge­nann­ten pri­mi­ti­ven Kul­tu­ren gelehrt, daß das sozia­le Ver­hal­ten von Men­schen sehr unter­schied­lich sein kann und jeweils abhän­gig ist von den vor­herr­schen­den kul­tu­rel­len Mus­tern und dem in der Gesell­schaft vor­herr­schen­den Orga­ni­sa­ti­ons­typ. Auf die­se Tat­sa­che kön­nen die­je­ni­gen bau­en, die das Los der Men­schen ver­bes­sern wol­len: Men­schen wer­den nicht durch ihre bio­lo­gi­sche Kon­sti­tu­ti­on dazu ver­dammt, ein­an­der zu ver­nich­ten oder auf Gedeih und Ver­derb einem schreck­li­chen, selbst auf­er­leg­ten Schick­sal zu erliegen.

Wenn wir uns fra­gen, wie die Gesell­schafts­struk­tur und die kul­tu­rel­le Ein­stel­lung des Men­schen geän­dert wer­den sol­len, um das mensch­li­che Leben so befrie­di­gend wie mög­lich zu machen, soll­ten wir uns immer bewusst sein, daß es bestimm­te Bedin­gun­gen gibt, die wir unmög­lich ver­än­dern können.
Wie bereits erwähnt, sieht die bio­lo­gi­sche Natur des Men­schen in der Pra­xis kei­ne Ände­rung vor. Des Wei­te­ren haben tech­no­lo­gi­sche und demo­gra­phi­sche Ent­wick­lun­gen der letz­ten Jahr­hun­der­te Bedin­gun­gen geschaf­fen, die blei­bend sind. Bei einer rela­tiv hohen Bevöl­ke­rungs­dich­te und mit Blick auf die Güter, die für ihre Exis­tenz unent­behr­lich sind, sind eine extre­me Arbeits­tei­lung und ein hoch zen­tra­li­sier­ter Pro­duk­ti­ons­ap­pa­rat unbe­dingt not­wen­dig. Die Zei­ten, in denen Indi­vi­du­en oder rela­tiv klei­ne Grup­pen völ­lig aut­ark sein konn­ten – und die zurück­bli­ckend so idyl­lisch erschei­nen – sind unwi­der­ruf-lich vor­bei. Es ist nur eine leich­te Über­trei­bung, zu behaup­ten, daß die Mensch­heit jetzt sogar eine welt­wei­te Gemein­schaft in Bezug auf Pro­duk­ti­on und Ver­brauch bildet.

An die­sem Punkt ange­langt kann ich kurz auf­zei­gen, was für mich das Wesen der Kri­se unse­rer Zeit aus­macht. Es betrifft die Bezie­hung des Ein­zel­nen zur Gesell­schaft. Der Ein­zel­ne ist sich sei­ner Abhän­gig­keit von der Gesell­schaft bewuss­ter als je zuvor. Aber er erfährt die­se Abhän­gig­keit nicht als etwas Posi­ti­ves, Orga­ni­sches, als Schutz­ge­walt, son­dern eher als eine Bedro­hung sei­ner natur­ge­ge­be­nen Rech­te, oder sogar sei­ner öko­no­mi­schen Exis­tenz. Außer­dem ist sei­ne Stel­lung in der Gesell­schaft so, daß die ego­is­ti­schen Trie­be stän­dig her­vor­ge­ho­ben, wäh­rend die sozia­len Trie­be, die er von Natur aus hat, schwä­cher wer­den und immer mehr ver­küm­mern. Alle Men­schen lei­den unter die­sem Pro­zess der Ver­schlech­te­rung – ganz gleich wel­che Stel­lung sie in der Gesell­schaft inne­ha­ben. Als unwis­sent­lich Gefan­ge­ne ihrer eige­nen Ich­be­zo­gen­heit füh­len sie sich unsi­cher, ein­sam und des ursprüng­li­chen, ein­fa­chen und schlich­ten Genus­ses des Lebens beraubt. Der Mensch kann den Sinn sei­nes kur­zen und bedroh­ten Lebens nur inner­halb der Gesell­schaft finden.

Die öko­no­mi­sche Anar­chie der kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft heu­te ist mei­ner Mei­nung nach die eigent­li­che Ursa­che des Übels. Wir sehen vor uns eine rie­si­ge Gemein­schaft von Erzeu­gern, deren Mit­glie­der unauf­hör­lich bestrebt sind, ein­an­der die Früch­te ihrer kol­lek­ti­ven Arbeit zu ent­zie­hen, – nicht mit Gewalt, aber in getreu­er Ein­hal­tung der gesetz­lich fest­ste­hen­den Regeln. In die­ser Hin­sicht ist es wich­tig, zu rea­li­sie­ren, daß die Pro­duk­ti­ons­mit­tel – das heißt die gan­ze pro­duk­ti­ve Kapa­zi­tät, die für das Pro­du­zie­ren von Ver­brauchs­gü­tern wie auch zusätz­li­chen Inves­ti­ti­ons­gü­tern erfor­der­lich ist, – gesetz­lich gese­hen im pri­va­ten Besitz von Indi­vi­du­en sein kön­nen und zum größ­ten Teil ist das auch so.

Pri­va­tes Kapi­tal ten­diert dazu, in weni­gen Hän­den kon­zen­triert zu werden […].“

Um es ein­fa­cher zu machen, wer­de ich im Fol­gen­den all jene als „Arbei­ter“ bezeich­nen, die kein Eigen­tum an Pro­duk­ti­ons­mit­teln besit­zen – auch wenn dies nicht der übli­chen Ver­wen­dung des Aus­drucks ent­spricht. Der Eigen­tü­mer der Pro­duk- tions­mit­tel ist in einer Posi­ti­on, in der er die Arbeits­kraft des Arbei­ters kau­fen kann. Mit den Pro­duk­ti­ons­mit­teln pro­du­ziert der Arbei­ter neue Waren, die ins Eigen­tum des Kapi­ta­lis­ten über­ge­hen. Wesent­lich in die­sem Pro­zess ist die Rela­ti­on zwi­schen dem, was der Arbei­ter ver­dient und dem, was ihm dafür bezahlt wird – bei­des gemes­sen am wirk­li­chen Wert. Dadurch daß der Arbeits­ver­trag „offen“ ist, wird das, was der Arbei­ter erhält, nicht vom wirk­li­chen Wert der pro­du­zier­ten Waren bestimmt, son­dern durch sei­nen Mini­mal­be­darf und durch die Erfor­der­nis­se des Kapi­ta­lis­ten im Zusam­men­hang mit der Zahl der Arbei­ter, die mit­ein­an­der um die Arbeits­plät­ze kon­kur­rie­ren. Es ist wich­tig, zu ver­ste­hen, daß sogar in der [öko­no­mi­schen] Theo­rie die Bezah­lung des Arbei­ters nicht vom Wert sei­nes Pro­dukts bestimmt wird.

Pri­va­tes Kapi­tal ten­diert dazu, in weni­gen Hän­den kon­zen­triert zu wer­den – teils auf­grund der Kon­kur­renz zwi­schen den Kapi­ta­lis­ten und teils, weil die tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lung und die wach­sen­de Arbeits­tei­lung die Ent­ste­hung von grö­ße­ren Ein­hei­ten auf Kos­ten der klei­ne­ren vor­an­trei­ben. Das Ergeb­nis die­ser Ent­wick­lun­gen ist eine Olig­ar­chie von pri­va­tem Kapi­tal, des­sen enor­me Kraft nicht ein­mal von einer demo­kra­tisch orga­ni­sier­ten poli­ti­schen Gesell­schaft über­prüft wer­den kann. Dies ist so, da die Mit­glie­der der gesetz­ge­ben­den Orga­ne von poli­ti­schen Par­tei­en aus­ge­wählt sind, die im Wesent­li­chen von Pri­vat­ka­pi­ta­lis­ten finan­ziert oder ander­wei­tig beein­flusst wer­den und in der Pra­xis die Wäh­ler von der Legis­la­ti­ve tren­nen. Die Fol­ge ist, daß die „Volks­ver­tre­ter“ die Inter­es­sen der unter­pri­vi­le­gier­ten Sek­to­ren der Bevöl­ke­rung nicht aus­rei­chend schüt­zen. Außer­dem kon­trol­lie­ren unter den vor­han­de­nen Bedin­gun­gen die Pri­vat­ka­pi­ta­lis­ten zwangs­läu­fig direkt oder indi­rekt die Haupt­in­for­ma­ti­ons­quel­len (Pres­se, Radio, Bil­dung). Es ist des­halb äußerst schwie­rig und, für den ein­zel­nen Bür­ger in den meis­ten Fäl­len fast unmög­lich, objek­ti­ve Schlüs­se zu zie­hen und in intel­li­gen­ter Wei­se Gebrauch von sei­nen poli­ti­schen Rech­ten zu machen.

Die Situa­ti­on in einem Wirt­schafts­sys­tem, das auf dem Pri­vat­ei­gen­tum an Kapi­tal basiert wird durch zwei Haupt­prin­zi­pi­en cha­rak­te­ri­siert: Ers­tens sind die Pro­duk­ti­ons­mit­tel (das Kapi­tal) in pri­va­tem Besitz, und die Eigen­tü­mer ver­fü­gen dar­über, wie es ihnen passt. Zwei­tens ist der Arbeits­ver­trag offen. Natür­lich gibt es kei­ne rein kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft. Vor allem soll­te beach­tet wer­den, daß es den Arbei­tern durch lan­ge und erbit­ter­te poli­ti­sche Kämp­fe gelun­gen ist, bestimm­ten Kate­go­rien von Arbei­tern eine ein wenig ver­bes­ser­te Form des „frei­en Arbeits­ver­trags“ zu sichern. Aber als Gan­zes genom­men unter­schei­det sich die heu­ti­ge Wirt­schaft nicht sehr von einem „rei­nem“ Kapitalismus.

Die Pro­duk­ti­on ist für den Pro­fit da – nicht für den Bedarf.

Die Pro­duk­ti­on ist für den Pro­fit da – nicht für den Bedarf. Es gibt kei­ne Vor­sor­ge dafür, daß all jene, die fähig und bereit sind zu arbei­ten, immer Arbeit fin­den kön­nen. Es gibt fast immer ein „Heer von Arbeits­lo­sen“. Der Arbei­ter lebt dau­ernd in der Angst, sei­nen Job zu ver­lie­ren. Da arbeits­lo­se und schlecht bezahl­te Arbei­ter kei­nen pro­fi­ta­blen Markt dar­stel­len, ist die Waren­pro­duk­ti­on beschränkt und gro­ße Not ist die Fol­ge. Tech­no­lo­gi­scher Fort­schritt führt häu­fig zu mehr Arbeits­lo­sig­keit statt zu einer Mil­de­rung der Last der Arbeit für alle. Das Gewinn­mo­tiv ist in Ver­bin­dung mit der Kon­kur­renz zwi­schen den Kapi­ta­lis­ten für Insta­bi­li­tät in der Akku­mu­la­ti­on und Ver­wen­dung des Kapi­tals ver­ant­wort­lich, und dies bedeu­tet zuneh­men­de Depres­sio­nen. Unbe­grenz­te Kon­kur­renz führt zu einer rie­si­gen Ver­schwen­dung von Arbeit und zu die­ser Läh­mung des sozia­len Bewusst­seins von Indi­vi­du­en, die ich zuvor erwähnt habe.

Die­se Läh­mung der Ein­zel­nen hal­te ich für das größ­te Übel des Kapi­ta­lis­mus. Unser gan­zes Bil­dungs­sys­tem lei­det dar­un­ter. Dem Stu­den­ten wird ein über­trie­be­nes Kon­kur­renz­stre­ben ein­ge­trich­tert, und er wird dazu aus­ge­bil­det, raff­gie­ri­gen Erfolg als Vor­be­rei­tung für sei­ne zukünf­ti­ge Kar­rie­re anzusehen.

Ich bin davon über­zeugt, daß es nur einen Weg gibt, die­ses Übel los­zu­wer­den, näm­lich den, ein sozia­lis­ti­sches Wirt­schafts­sys­tem zu eta­blie­ren, beglei­tet von einem Bil­dungs­sys­tem, das sich an sozia­len Ziel­set­zun­gen ori­en­tiert. In solch einer Wirt­schaft gehö­ren die Pro­duk­ti­ons­mit­tel der Gesell­schaft selbst und ihr Gebrauch wird geplant. Eine Plan­wirt­schaft, die die Pro­duk­ti­on auf den Bedarf der Gemein­schaft ein­stellt, wür­de die durch­zu­füh­ren­de Arbeit unter all den­je­ni­gen ver­tei­len, die in der Lage sind zu arbei­ten, und sie wür­de jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind einen Lebens­un­ter­halt garan­tie­ren. Die Bil­dung hät­te zum Ziel, daß die Indi­vi­du­en zusätz­lich zur För­de­rung ihrer eige­nen ange­bo­re­nen Fähig­kei­ten einen Ver­ant­wor­tungs­sinn für die Mit­men­schen ent­wi­ckeln anstel­le der Ver­herr­li­chung von Macht und Erfolg in unse­rer gegen­wär­ti­gen Gesellschaft.

Den­noch ist es not­wen­dig fest­zu­hal­ten, daß eine Plan­wirt­schaft noch kein Sozia­lis­mus ist.

Den­noch ist es not­wen­dig fest­zu­hal­ten, daß eine Plan­wirt­schaft noch kein Sozia­lis­mus ist. Eine Plan­wirt­schaft als sol­che kann mit der tota­len Ver­skla­vung des Indi­vi­du­ums ein­her­ge­hen. Sozia­lis­mus erfor­dert die Lösung eini­ger äußerst schwie­ri­ger sozio-poli­ti­scher Pro­ble­me: Wie ist es ange­sichts weit­rei­chen­der Zen­tra­li­sie­rung poli­ti­scher und öko­no­mi­scher Kräf­te mög­lich, eine Büro­kra­tie dar­an zu hin­dern, all­mäch­tig und maß­los zu wer­den? Wie kön­nen die Rech­te des Ein­zel­nen geschützt und dadurch ein demo­kra­ti­sches Gegen­ge­wicht zur Büro­kra­tie gesi­chert werden?

In unse­rem Zeit­al­ter des Wan­dels ist Klar­heit über die Zie­le und Pro­ble­me des Sozia­lis­mus von größ­ter Bedeu­tung. Da unter den gegen­wär­ti­gen Umstän­den die offe­ne und unge­hin­der­te Dis­kus­si­on die­ser Pro­ble­me einem all­ge­gen­wär­ti­gen Tabu unter­liegt, hal­te ich die Grün­dung die­ser Zeit­schrift für eine wich­ti­ge öffent­li­che Dienstleistung. 

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Novem­ber 2025
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